Kitabı oku: «Der Meerkönig», sayfa 5
4. Wohlzuthun und mitzutheilen vergesset nicht.
War das ein schöner, frischer, sonniger, jedoch bitter kalter Morgen nach dem heftigen Schneefall! Seinen ganzen Vorrath an Flocken hatte der Himmel ausgestreut, und nicht so viel zurückbehalten, wie erforderlich gewesen wäre, um auch nur auf ein Viertelstündchen die lustigen Müllerburschen sich in der Luft schlagen oder die Engelein ihre Federbetten ausschütten zs lassen. Dafür lag aber auch ein unendlicher Schneereichthum auf der Erde, auf den Dächern und sogar auf den allerdünnsten Zweigen, so daß die Menschen förmlich waten mußten und die Vögel, vor allen aber die verdrießlichen Krähen, nicht wußten, wohin sie sich setzen sollten, ohne ihre Füße zu erkälten.
Die Schuljugend dachte allerdings anders; die scheute sich nicht vor nassen und kalten Füßen, so lange ihrer noch daheim eine sorgliche Mutter harrte. Sie freute sich über den vielen, vielen Schnee und bedauerte nur, daß es so grimmig kalt sei, in Folge dessen der Schnee nicht ballte und sich nicht zum Bau von Männern und noch weniger zu Kriegsmaterial eignete.
Ja, kalt war es wirklich ganz grimmig. Die Leute auf den Straßen sahen aus, als ob sie alle Cigarren rauchten, so dampfte der Athem; die Rauchsäulen, welche sich den Tausenden von Schornsteinen entwanden, erschienen so blau, so massig und dicht, als hätten lauter Pflastersteine aus ihnen geschnitten werden können, und doch spielte der leise Morgenwind mit ihnen eben so willkürlich, als mit dem Athem der Milchmädchen und Bäckerjungen und dem Tabaksdampfe, den hier die durchgefrorenen Marktbauern ihren kurzen, braun gebrannten Pfeifenstummeln entlockten, dort die rothnäsigen Straßenkehrer aus ihren selbstmörderischen Cigarren mit einem sprechenden Ausdrucke des Wohlbehagens von sich bliesen.
Auch in den Stuben merkte man, daß es draußen recht kalt war. Sogar in dem wohlgeheizten, sonst aber sehr anspruchlos und einfach eingerichteten Geschäftszimmer des liebenswürdigen und wohlwollenden Herrn Seim, des Vorstehers der weit und breit berühmten Waisen-Anstalt, konnte man ganz bequem und ohne sich den Schnupfen zu holen, den plötzlichen Umschlag des Wetters genau beobachten.
Der Frost hatte nämlich die Scheiben der beiden großen, nach dem Vorhofe hinaus liegenden Fenster so dicht mit wunderbar schönen Eisblumen, Sternen, Guirlanden und Arabesken überzogen, daß es des längeren Hinhauchens auf ein und dieselbe Stelle bedurfte, um ein thalergroßes Fleckchen durchsichtig zu machen und durch dieses die auf dem Hofe fleißig mit Schneeschaufeln beschäftigten Arbeiter, selbst unbeachtet, beaufsichtigen zu können.
Die prahlerischen Eisdecorationen beeinträchtigten indessen in keiner Weise die mit der gediegenen Einfachheit in lobenswerthem Einklange stehende Wohnlichkeit des Zimmers; im Gegentheil, sie contrastirten gar anmuthig zu dem dumpfen Poltern, mit welchem der Luftzug die Flammen des verschwenderisch gespaltenen Buchenholzes in die Züge des majestätischen weißen Kachelofens hineintrieb, und nicht, minder anmuthig zu dem süßen Dufte, welchen das auf die eiserne Platte der Ofenröhre gestreute Königs-Räucherpulver verbreitete. Der weiß gescheuerte Fußboden war außerdem sehr sauber gefegt; die rohrgeflochtenen Stühle standen gerade und symmetrisch an den Wänden vertheilt; die großen Contobücher auf dem hohen Schreibtische reihten sich wie lauter Parade-Soldaten an einander; der ledergepolsterte Drehschemel vor dem Schreibtisch spreizte gravitätisch seine klobigen Beine, welche der massiven Schraube zum Halt dienten, und dabei schaute das Portrait des Landesfürsten, welches der Eingangsthür gerade gegenüber an der Wand hing, so vergnüglich durch einen darüber gehangenen patriotischen Lorbeerkranz in das Gemach hinein, daß es eine wahre Freude gewährte und man sich unwillkürlich und ohne ihn vorher gesehen zu haben, im Geiste mit dem Manne befreundete, der, trotz der bescheidenen Mittel, seiner Umgebung einen so freundlich einladenden Charakter zu verleihen verstand.
Und dennoch, was war das Gemach im Vergleich mit dem Herrn Seim selbst, als dieser an jenem strahlenden Wintermorgen in demselben bedächtig auf und ab schritt, bald vor dem einen Fenster stehen blieb, um durch die in das Eis gehauchte Oeffnung das draußen befestigte Thermometer und die schneeschaufelnden Leute zu beobachten, bald einige Stücken Holz aus dem neben dem Ofen befindlichen Korbe nahm und in die Gluth schob? Nichts, gar nichts war das Gemach im Vergleich mit dem rechtschaffenen Herrn Seim, höchstens gut genug, um als Hintergrund zu der stattlichen Figur des vortrefflichen Herrn Vorstehers zu dienen.
Obgleich noch früh am Tage, prangte Herr Seim, gemäß einer alten, löblichen Gewohnheit, bereits im schwarzen Leibrocke, überhaupt in ganz schwarzem Anzuge und weißer Halsbinde, also in einer Bekleidung, die nicht nur seiner ernsten Stellung als Hirte einer vom Verderben erretteten Jugend, sondern auch seiner übrigen äußeren Erscheinung vollkommen entsprach und die Würde derselben wo möglich noch erhöhte.
Nicht über die Mittelgröße hinausragend, neigte er etwas zur Wohlbeleibtheit hin, jedoch ohne daß das Ebenmaß dadurch erheblich beeinträchtigt worden wäre. Außerdem trug seine aufrechte Haltung, welche ein gewisses Rechtlichkeitsgefühl bekundete, viel dazu bei, ihn noch höher und stattlicher erscheinen zu lassen. Sein rundes, frisches und stets sehr glatt rasirtes Gesicht mit den fast zu klugen, graublauen Augen war einnehmend, vorzugsweise aber, wenn er lächelte und ein Zug unbegrenzter kindlicher Herzensgüte sich um die etwas zugespitzten Lippen legte. Die Hauptzierde des wohlgeformten Kopfes aber bildete das graue Haar, welches, auf der einen Seite sorgfältig gescheitelt, sich ringsum dicht anschmiegte und in der Höhe des Rockkragens zu einer glänzenden Lockenreihe emporkräuselte, gerade als ob Herr Seim dadurch hätte andeuten wollen, daß er, wenn auch von ernstem und fügsamem Charakter, doch zu gelegener Zeit von harmlosen Tändeleien und zutreffendem feinen Witz übersprudeln oder vielmehr champagnerartig emporkräuseln könne.
Von seinem Alter sprach Herr Seim nicht gern; es bleibt daher unentschieden, ob er sich noch in den Vierzigen befand oder nicht weit mehr von den Sechszigen entfernt war. Jedenfalls hatte er sich sehr gut conservirt, was namentlich seine einzige Tochter Juliane - er war bereits seit vielen Jahren Wittwer - mit leicht verzeihlicher Freude erfüllte, weil sie in ihrer kindlichen Einfalt durchaus nur einen jungen und sogar einen recht jugendlichen Papa haben wollte.
Herr Seim genoß also die kostbaren Frühstunden in gewohnter, sinniger Weise und bewegte sich mit einem Anstande und so freundlich zufriedenem Ausdrucke in seinem Geschäftszimmer hin und her, daß ein zufälliger Beobachter augenblicklich zu der unerschütterlichen Ueberzeugung gelangen mußte, daß auch nicht das Unrecht von der Schwere einer Fliege sein Gewissen bedrücke, noch weniger aber die milden Augen beim Anblicke fremder Leiden trocken bleiben könnten. Umsonst nannte man ihn auch nicht den Vater der Waisen, der gewohnt sei, wie ein treuer Gärtner, oft mit tiefen, schmerzenden Schnitten das fest gewurzelte Wasserreis der Sünde aus jungen, verwahrlosten Gemüthern zu entfernen, um dafür von seinen Zeitgenossen geachtet und geehrt, von der Nachwelt aber selbst im Grabe noch hundertfach gesegnet zu werden.
Herr Seim hatte eben wieder einen prüfenden Blick auf den Thermometer geworfen und war, seine Hände behaglich reibend und im Vorbeigehen einen halb bewundernden, halb tändelnden Blick in den Goldrahmspiegel sendend, an den Schreibtisch getreten, als ein leises Klopfen ihn veranlaßte, noch einmal mit der Hand schnell ordnend über sein Haupthaar hinzufahren und sich demnächst der Thür zuzuwenden.
Auf sein mildes Herein! öffnete sich die Thür etwa eine Spanne weit, in der Oeffnung aber erschien ein mächtiger Strauß von Papilloten und dunklem Haar, dessen Handhabe von einem schmalen, nach unten scharf zugespitzten Gesichte, ausgezeichnet durch eine sehr beachtenswerthe Nase und zwei kleine, braune, blinzelnde Aeuglein, gebildet wurde.
Beim Anblicke des Papillotenkopfes stahl sich ein glückliches Lächeln über Herrn Seim's wohlwollendes Antlitz.
»Stört man das Väterchen nicht?« fragte es zärtlich unter dem Papillotenwalde hervor, und zugleich öffnete sich die Thür etwas weiter.
»Töchterchen, Kind, welche Frage?« antwortete Herr Seim, innig gerührt über die wahrhaft liebreiche Rücksicht, welche sein leibliches Kind ihm gegenüber niemals außer Acht ließ, und im nächsten Augenblicke trippelte eine schmächtige Gestalt herein, deren Oberkörper dicht in ein großes, faltiges Umschlagetuch gehüllt war, so daß es unentschieden blieb, ob der übrige Anzug dem eigenthümlichen Kopfputze noch entsprach, oder vielleicht schon etwas weiter gediehen sei.
Mit der Beweglichkeit eines Kindes, die aber in seltsamem Widerspruche zu den bereits stark verblühten scharfen Zügen stand, glitt also der Papillotenwald zu Herrn Seim heran, der wieder seine Hände zum herzlichen Empfange der Tochter entgegenstreckte.
»Wie gütig von meinem Väterchen, daß er seinem Kinde gestattet, ihm den Morgengruß zu bringen,« lispelte Juliane, ihr Haupt ausgelassen schüttelnd, als hätte sie die knisternden Papilloten von sich schleudern wollen, und zugleich drückte sie einen schallenden Kuß auf die glatt rasirte Wange ihres Vaters.
»Meine ewig tändelnde Juliane,« entgegnete Herr Seim, mit väterlichem Stolze in die schelmisch leuchtenden Augen seiner Tochter schauend. »Aber sage, was bringt mein einziges Kind denn schon so früh?«
»Ich bringe meinem Papa nichts,« versetzte Juliane, indem sie eine lange, hagere Hand aus den Falten des Umschlagetuches hervorschob und neckisch mit dem Finger drohte; »ich wollte mir nur erlauben, zu fragen, wie mein gestrenger Gebieter geschlafen habe.«
»Gut, recht gut, meine Tochter,« antwortete Herr Seim, und ein Zug von Mißvergnügen glitt über sein biederes Gesicht, als ob er in seinen Erwartungen getäuscht worden wäre.
»Aber, Papa, Du erschreckst ja Dein Töchterchen durch die fürchterlichen Falten auf Deiner Stirn!« rief Juliane mit erkünsteltem komischen Entsetzen aus. »Augenblicklich glätte Deine Züge, damit die Falten nicht haften bleiben und Dich zum alten Manne machen! Was sollen die Leute von mir denken, wenn Du Dir ein so altes Aussehen giebst?«
Herr Seim warf einen Blick in den Spiegel, und indem er mit einer anmuthigen Bewegung das Kinn etwas zurückzog und dann ganz langsam, als trenne er sich nur ungern von seinem Spiegelbilde, auf seine Tochter schaute, erhielt sein Antlitz wieder den früheren, einnehmenden Ausdruck.
»Kind, man ist ebenfalls nur ein schwacher Sterblicher,« sagte er liebreich, »und daher auch menschlichen Schwächen unterworfen. Ich dachte nämlich in diesem Augenblicke daran, daß von dem entlaufenen Mädchen noch immer keine Spur aufgefunden wurde und es höchst wahrscheinlich im Schnee umgekommen ist.«
»Aber, Väterchen, wie kann man sich deshalb nur auf eine Minute die Laune verderben?« entgegnete Juliane, Herrn Seim die ihr zugekehrte Wange zärtlich streichelnd. »Wenn das ungerathene Kind, durch welches der Ruf unserer Anstalt sehr leicht hätte untergraben werden können, wirklich im Schnee zu Grunde ging, so hat es nur die gerechte Strafe für seine Undankbarkeit und Schlechtigkeit empfangen. Eine brauchbare Person wäre es doch nie geworden; laß Dich daher von Deinem guten Herzen nicht zu sehr zum Bedauern hinreißen, und vergiß das Kind, welches nur eine Last für uns war.«
»Ich bedauere ja auch nicht weiter,« versetzte Herr Seim milde lächelnd, und ein kunstvoller Seitenblick streifte wieder sein stattliches Spiegelbild, »allein es fuhr mir durch den Kopf, daß mir Verdrießlichkeiten aus der unangenehmen Geschichte erwachsen könnten.«
»Wie könnten wohl dem besten und gewissenhaftesten aller Väter und Vorsteher Verdrießlichkeiten aus einer so geringfügigen Sache erwachsen, bei welcher ihn nicht der leiseste Vorwurf trifft? Man müßte Dir denn gerade anrechnen, daß Du mit Aufopferung Deiner Gesundheit keine Minute ruhst und Tag und Nacht über das sittliche Gedeihen Deiner Pflegebefohlenen wachst.«
»Ja, Du hast Recht, mein Kind,« erwiderte Herr Seim, mit den Augen blinzelnd und in jedem Winkel derselben eine Thräne zerdrückend; »es ist ein schweres Amt, welches ich übernommen habe, und nur das Bewußtsein, eine hehre Pflicht zu erfüllen, verleiht mir die Kraft, die zu einem solchen Amte erforderlich ist.«
»Kann ich denn nun endlich erfahren, um welche Zeit mein Väterchen zu frühstücken wünscht?« fragte Juliane jetzt, indem sie ihre etwas zu scharf und etwas zu roth gerathenen Züge in tausend freundliche Falten und Fältchen legte.
»Also das war ursprünglich Dein Gewerbe, Du muthwilliges Ding?« versetzte Herr Seim schmunzelnd, und das runde Kinn zog sich wieder etwas zurück, ein neuer Seitenblick traf den Spiegel, und anmuthig fuhren Daumen und Zeigefinger der rechten Hand über die zierlich emporgekräuselten Lippen.
»Mein ursprüngliches Gewerbe,« bekräftigte Juliane, indem sie sich schäkernd in die Brust warf und eine stolz herausfordernde Haltung annahm. »Und was noch mehr ist, ich wollte mein Väterchen darauf vorbereiten, daß ich wieder einmal für sein Lieblingsgericht gesorgt habe.«
Ein glückliches Lächeln flog über das wohlwollende Gesicht des Vorstehers.
»Braves Töchterchen,« sagte er sodann, »womit habe ich das verdient? Doch bringst Du mir mein Leibgericht, muß ich wohl ein Fläschchen dazu opfern?«
»Nicht nöthig, nicht nöthig; es ist für Alles gesorgt. Ich entdeckte nämlich, daß die beiden Reconvalescenten nach dem ihnen vom Arzte verschriebenen schweren Weine fieberten, und da dachte ich, es sei am verständigsten ...«
»Gutes Kind,« unterbrach Herr Seim den Redefluß seiner Tochter, »Du bist der Segen meines Alters, und wenn Du Dich verheirathetest, müßte ich wahrlich elendiglich verderben!«
»Ich heirathe nie,« entgegnete Juliane entschieden; »die Männerwelt ist zu schlecht, zu undankbar, und einen Mann, wie mein Väterchen, findet man so leicht nicht.«
Herr Seim spielte nachdenklich mit einer der fest gedrehten Locken seines Kindes.
»Sagen wir also um eilf Uhr,« hob er endlich, mit einem leichten Seufzer an.
»So spät?«
»Ja, mein Kind; ich erwarte nämlich den Besuch der Frau Geheime Commissionsräthin Friesel. Du weißt, sie ist eine hohe Beschützerin und Gönnerin unserer Anstalt; wahrscheinlich will sie anfragen, ob noch keine Nachrichten über den entlaufenen Vagabunden eingetroffen seien.«
»Dann muß ich wohl in der Hinterstube decken?«
»Gewiß; aber stelle zuvor einen Teller mit einem halben Butterbrötchen und ein halbes Glas Dünnbier, ich meine von dem, welches die Kinder Sonntags erhalten, hierher auf den Tisch.«
»Ganz, wie der gestrenge Herr Papa befehlen,« entgegnete Juliane mit einer Verbeugung, worauf sie leichten Herzens der Thür zusprang.
Dicht an der Thür blieb sie indessen plötzlich wieder stehen, und sich ihrem Vater zuwendend, zeigte sie diesem ihr glücklich lachendes Antlitz.
»Nein, so kindisch zu sein,« rief sie aus, ihr Haupt muthwillig schüttelnd, daß die Papilloten sich surrend, wie ein Schwarm Bienen, erhoben. »Hätte ich doch beinahe vergessen, gehorsamst zu melden, daß meine Wirthschaftscasse ihrem Ende mit Riesenschritten entgegengeht!«
»Schon?« fragte Herr Seim mit einem milden Vorwurfe im Tone seiner Stimme. »Die Woche ist ja erst halb verstrichen!«
»Leider, leider!« pflichtete Juliane halb bittend, halb trotzig bei. »Aber es ist Alles so theuer, und dann läßt man sich zuweilen durch den Wunsch, Anderen eine Ueberraschung zu bereiten, zu unnöthigen Ausgaben verführen!«
»Werden sich wohl einige Hutbänder und ein Paar Handschuhe bei den Ueberraschungen befinden?« bemerkte Herr Seim, wohlwollend und vergebend mit dem Finger drohend.
Juliane zuckte lächelnd die Achseln und schritt nach dem nächsten Fenster hin, um eine Oeffnung in die Eisdecke einer Scheibe zu hauchen. Herr Seim dagegen begab sich an seinen Schreibtisch und suchte mit lautem Geräusch den Schlüssel zu demselben hervor.
Nachdem er die massive Klappe emporgehoben, schaute er noch einmal nach seiner Tochter zurück. Dieselbe stand so, daß der Fensterpfeiler sie seinen Blicken entzog, und lustig hauchte sie in die verworrenen Eisblumen hinein. Herr Seim nickte zufrieden, und sich wieder dem Schreibtische zuwendend, streckte er seine Hand nach einer kleinen, mit Geld angefüllten hölzernen Mulde aus. Auf dem halben Wege aber änderte die Hand plötzlich ihre Richtung, und nach der andern Seite hinüberfahrend, legte sie sich an den Deckel eines großen blechernen Kastens, auf welchem mit lateinischen Buchstaben die Worte: »Casse der Anstalt« geschrieben standen.
Behutsam und immer nach seiner hauchenden Tochter hinüberlauschend, hob er den Deckel empor, und nachdem er mit gewandtem Griffe zwei Fünfthalerscheine hervorgezogen, ließ er den Deckel wieder eben so behutsam niedersinken. In demselben Augenblicke aber, in welchem er den Schreibtisch verschloß, erschallte auch Julianens Stimme.
»Väterchen,« rief sie aus, fröhlich hinter dem Pfeiler hervorspringend, »ich habe Dir hier ein großes Fenster gemacht, durch welches Du im Vorbeigehen immer einen Blick auf die Leute werfen kannst. Schrecklich träges Volk - anstatt für ihren Tagelohn Schnee zu schaufeln, stellen sie sich alle zwei Minuten hin, um ihre Hände an den Leib zu schlagen!«
»Es wäre nöthig, sich viertheilen zu lassen, um überall zu gleicher Zeit sein zu können,« entgegnete Herr Seim mit einer Anwandlung von Unmuth; »aber nehmen wir es lieber nicht so genau mit ihnen, und bedenken wir, daß sie vermöge ihrer Bildung zu tief stehen, als daß sie einen richtigen Begriff von den Pflichten eines treuen Arbeiters hätten - doch wo willst Du hin?« fragte er schnell, als er bemerkte, daß seine Tochter in ihrem lebhaften Wesen der Thüre zuflog. »Ich denke, Du gebrauchst Geld?«
»Ich werde in meinem ganzen Leben nicht verständig!« rief Juliane lachend aus, indem sie eiligst zu ihrem Vater zurückkehrte. »Hätte ich einfältiges Mädchen doch beinahe wieder das Geld vergessen!« Und dann die beiden Scheine entgegennehmend, barg sie dieselben nachlässig in ihr Umschlagetuch.
»Kind,« begann Herr Seim mit Nachdruck, als Juliane sich eben entfernen wollte, »Du wirst so gut sein und für einen Thaler Sago kaufen, der in der Küche der Kinder verwendet werden soll; ich habe mich gestern überzeugt, daß der ganze Vorrath verbraucht ist, und zwar nur für die Schwächlinge.«
»Es soll geschehen, gestrenger Herr Papa,« entgegnete Juliane, und im nächsten Augenblicke war sie, ein heiteres Liedchen singend, durch die Flurthür verschwunden.
Herr Seim blickte ihr eine Weile sinnend nach.
»Ein verständiges Kind,« murmelte er vor sich hin, indem er sich nach dem Ofen begab, um die brennenden Holzstücke durcheinander zu schüren. »Sie würde gewiß eine vortreffliche Hausfrau werden, wenn sie sich nicht in den Kopf gesetzt hätte, unverheirathet zu bleiben.«
Nachdem er sodann noch flüchtig nach den Arbeitern auf dem Hofe ausgeschaut hatte, setzte er sich vor seinen Schreibtisch. Mit gemessenem Wesen zog er einen Folianten vor sich hin; einige Minuten blätterte er in demselben hin und her; dann die zuletzt beschriebenen Seiten aufschlagend, notirte er mit sicherer Hand unter die Rubrik der Ausgaben: »Zwölf und einen halben Thaler für Mehlvorräthe und Sago, entnommen von einem durchreisenden Händler.« Pünktlich, wie er in allen Sachen war, legte er darauf noch zwei und einen halben Thaler aus dem blechernen Kasten in die Holzmulde; noch einmal überzeugte er sich sehr genau, daß das Datum stimmte, auch keine Dintenflecke an seinen Fingern zurückgeblieben waren, und dann stellte er den Folianten wieder an seinen Ort. Zum Schlusse ein Bürstchen hervorziehend, trat er vor den Spiegel hin, um seinem Aeußeren durch einige Striche über das schön gelockte Haar und durch Zupfen an seiner Halsbinde einen möglichst vortheilhaften Schimmer zu verleihen.
Der Teller mit dem halben Butterbrote, auf welchem man kaum die Butter sah, und das halbe Glas Bier waren unterdessen hereingestellt worden, ohne daß Herr Seim darauf geachtet hätte.
Sobald aber ein Schlitten mit lautem und melodischem Geklingel vor das Hofthor vorfuhr und Herr Seim durch die von seiner Tochter geschaffene Eisöffnung gewahrte, daß eine in reiches Pelzwerk gehüllte Dame mit Hilfe eines Dieners ausstieg, wurde er plötzlich lebhafter. Er trat nämlich schnell an den runden Eßtisch, nahm das Butterbrötchen und biß einen kleinen Brocken ab, und nachdem er noch einige Krumen auf den Tisch gestreut, setzte er sich auf seinen Drehstuhl. Das Haupt stützte er sorgenvoll auf die linke Hand, die rechte dagegen hielt er mit einer Feder über einem weißen Bogen Papier, als ob er über das, was er zu schreiben im Begriffe stehe, eben nachdenke. Dabei lauschte er scharf nach der Flur hinüber, und als er endlich das Oeffnen und Schließen der Hausthüre und gleich darauf weibliche Schritte und das Rauschen von schwerer Seide unterschied, tauchte er die Feder in die Dinte und schrieb: »Hochwohlgeborene, hochzuverehrende Frau Geheimeräthin.«
Kaum war er so weit gekommen, als es mit einer gewissen herrischen Sicherheit klopfte.
»Herein!« rief der Vorsteher, ohne aufzuschauen; dagegen entstand unter der knisternden Feder: »Ew. Hochwohlgeboren gnädige Theilnahme für das unglückliche Kind -«
»Immer beschäftigt, immer fleißig, mein guter Herr Seim,« ertönte es jetzt mit heller Stimme hinter ihm, daß ihm vor Schreck die Feder entfiel und er im ersten Augenblicke gar nicht wußte, wo er sich befand.
»Ah, Frau Geheimeräthin,« rief er indessen gleich darauf aus, indem er emporsprang und sich tief verneigte, »ich bitte tausendmal um Verzeihung, ich ahnte nicht, ich konnte nicht ahnen - das Eis auf den Fensterscheiben raubt die Aussicht, und dennoch erlaubte ich mir, Ihrer gehorsamst zu gedenken, wie Ihnen dieser Papierbogen beweisen wird!«
Die Angeredete, eine zwar in den Jahren schon vorgeschrittene, allein immer noch hübsche Frau mit echt orientalischem Typus, warf einen flüchtigen Blick auf den ihr vorgehaltenen, angefangenen Brief.
»Immer der gefällige Freund und gewissenhafte Hüter seiner Heerde,« sagte sie sodann, sichtbar geschmeichelt durch die von Herrn Seim gewählte Eingangsform. »Und dabei so bedacht auf die Wünsche seiner Mitmenschen - ja, Herr Seim, Sie haben ganz Recht, das Wohl Ihrer armen, unschuldigen Pflegebefohlenen liegt mir in der That sehr am Herzen, und da ich gekommen bin, um mich nach dem unglücklichen, mißrathenen Mädchen zu erkundigen, so ist Ihr freundliches Schreiben überflüssig geworden. Aber ich errathe schon, eine tröstliche Kunde ist es nicht, die Sie mir mitzutheilen haben,« schloß die Geheimeräthin, als sie sah, daß der Vorsteher mit einem trüben Blick nach oben die Hände faltete.
»Leider noch gar keine Kunde, meine gnädigste Frau!« preßte er endlich heraus, indem er den Kopf etwas abwendete, um die verrätherischen Thränen in seinen Augenwinkeln zu verbergen. »Nein, leider bis jetzt noch gar keine! Ich hoffe indessen zu Gott, daß meine Bemühungen und die Forschungen, welche man nach dem kleinen Flüchtlinge anstellt, von Erfolg gekrönt werden; denn, Frau Geheimeräthin, gerade weil es mir schon so unendlich viel Mühe und Sorge bereitet hat, ist mir das Kind doppelt theuer geworden. Aber darf ich bitten, meine gnädige Frau!« fügte er im verbindlichsten Tone hinzu, indem er einen Stuhl vor dem runden Tische zurecht schob und demnächst, wie erschreckt und beschämt über den Anblick seines kärglichen Frühstücks, eine bereit gehaltene Serviette über Teller und Glas deckte.
Die Frau des reichen Bankiers besaß Freundlichkeit genug, sich zu stellen, als ob sie den Inhalt des Glases und die Reste des Butterbrötchens nicht bemerkt habe, obwohl die Aermlichkeit des Mahls ihr ein billigendes und bedauerndes Lächeln entlockte.
Mit Hülfe des Vorstehers legte sie darauf ihren kostbaren Zobelpelz ab, und nachdem sie sich mit vornehmer Haltung auf den dargebotenen Stuhl niedergelassen, nahm Herr Seim ihr gegenüber, jedoch in angemessener Entfernung, Platz.
»Also keine Nachricht?« wiederholte die Frau Geheime Commissionsräthin mit einem tiefen Seufzer. »Es ist entsetzlich, zu bedenken, daß das arme, unglückliche Wesen vielleicht vor Kälte in dem gräßlichen Schneewetter umgekommen ist.«
»Entsetzlich, meine gnädige Frau!« pflichtete Herr Seim fast tonlos bei, denn der biedere, menschenfreundliche Mann war so tief bewegt, daß er, um seine Schwäche nicht zu sehr zur Schau zu tragen, mit einem sauberen, weißen Taschentuche flüchtig über seine Augen hinfahren mußte. »O, Sie glauben nicht, wie sehr das Geschick des Kindes - ich habe seine großen Anlagen zum Bösen ja längst vergessen - mir zu Herzen geht! Kein Auge habe ich seit seinem Entweichen geschlossen, und meine Tochter, das weichherzige Kind, leidet nicht minder unter dem Eindruck der schrecklichen Begebenheit!«
»Aber sagen Sie, bester Herr Seim, war das Kind wirklich so bös geartet? Ich hörte, es habe eine unbesiegbare Neigung zum Verleumden und zum heimlichen Aneignen fremden Gutes in ihm gelegen.«
»Hoffentlich liegt sie noch in ihm,« versetzte Herr Seim schnell, und ein unbeschreiblicher Ausdruck freudiger Zuversicht spielte auf seinem wohlwollenden Antlitz, indem er das Kinn bis fast an den Rand der weißen Halsbinde zurückzog. Ja, meine gnädige Frau, ich sage, ›hoffentlich‹, weil ich mich mit dem Gedanken, das Kind auf so schreckliche Art verloren zu haben, nie würde vertraut machen können. Haben wir das Kind aber erst wieder, so gelingt es mir auch mit Gottes Hülfe und mit weiser Strenge, seine Unarten gänzlich zu überwinden.«
»Gebe Gott seinen Segen zu Ihrem frommen Beginnen, mein bester Herr Seim! Allein Stehlen, gerade heraus zu sprechen, ist doch wohl etwas mehr, als eine bloße Unart. Es ist überhaupt merkwürdig, wie sich bei den Kindern der niederen Stände, ja, sogar bis zum Mittelstande hinauf die schmachvollsten Laster bereits im Jugendalter so zahlreich vertreten finden.«
»Gewiß ist es merkwürdig, meine gnädigste Gönnerin,« entgegnete Herr Seim zuvorkommend, während seine Blicke bewundernd an den geschminkten Zügen der Bankiersfrau hingen, »und dennoch wieder ganz natürlich, wenn man berücksichtigt, daß das Beispiel der Eltern nothgedrungen auf die Kinder einwirken muß. Deshalb sehen wir auch täglich, wie die Sprößlinge der Arbeiter sich bereits frühzeitig im Pfuhle des Lasters wälzen, die Nachkommen des übermüthigen Mittelstandes sich in Lug und Trug üben, während die Kinder hochgeborener und wahrhaft vornehmer Herrschaften schon im zartesten Jugendalter nicht nur durch unnachahmliche Anmuth, sondern auch durch wahrhaft edle Gesinnungen alle Herzen für sich einnehmen.«
»Ja, ja, mein lieber Herr Seim,« versetzte die Frau Commissionsräthin, mit der Miene einer bescheidenen Dulderin dem Vorsteher die Hand zum Kusse darreichend, »der Herr in seiner unbegreiflichen Weisheit und Güte hat Alles zum Besten eingerichtet - aber wie war es mit dem Kinde? Durch seine Flucht, die unbedingt auf keinen besonders guten Charakter deutet, ist meine ganze Neugierde auf dasselbe hingelenkt worden; woher stammt es und wie weit ist es in Ihrer Anstalt mit der Ausübung seiner angeborenen Sünden gegangen?«
»Ach, gnädigste Frau, wenn ich nur wüßte, woher das bedauernswerthe kleine Geschöpf stammt!« antwortete Herr Seim, sein biederes Antlitz mit einer neuen anmuthigen Kinnbewegung verlegen zur Seite wendend, als ob er befürchtet habe, durch weitere Mittheilungen das keusche Ohr seiner Gönnerin zu verletzen; »recht viel läßt sich wohl über sein Herkommen denken, aber - aber nur sehr wenig sagen.«
»Gewiß fehlt ihm - nun - mein bester Herr Seim, Sie sind ein verheiratheter Mann ...«
»Gewesen, gnädigste Frau, leider nur zu kurze Zeit gewesen,« wagte der Vorsteher die Commissionsräthin mit bebenden Lippen zu unterbrechen, während sein Taschentuch nach den beiden feuchten Augenwinkeln fuhr.
»Armer Mann, Sie sind wenigstens Familienvater,« verbesserte sich die Commissionsräthin, »und das ist hinlänglich, um die Schranke der Etiquette, die entgegengesetzten Falles zwischen uns bestände, zu lüften. Doch um auf das Kind zurückzukommen, es fehlt ihm also der Vatersname?« schloß sie, und in ihrer nach vorn geneigten Haltung und den ungewöhnlich weit geöffneten schwarzen Augen sprach sich die außerordentliche Theilnahme aus, welche sie für die interessante Geschichte des Kindes hegte.
»Es fehlt ihm nicht nur der Name des Vaters, sondern auch der Name der Mutter,« antwortete Herr Seim in Folge der an ihn gerichteten Aufmunterung kühner und entschiedener; »es wurde nämlich vor neun Jahren als kleines, etwa zweijähriges hülfloses Wesen von unbekannten Händen unserer Anstalt übergeben. Eine unerhebliche Geldsumme, kaum ausreichend, es zweckmäßig einzukleiden, begleitete es, und auf das dürftige Jäckchen, welches es trug, war ein Zettel mit dem Namen Elisabeth festgesteckt worden.«
»Und den Ueberbringer haben Sie nicht gesehen?«
»Niemand hat ihn gesehen; wir entdeckten den Korb, der das Kind barg, zur späten Abendstunde auf unserer Hausflur, und da alle Nachforschungen nach der Mutter vergeblich blieben, mußten wir den kleinen Findling schlechterdings behalten. Aber ich that es gern, meine gnädige Frau, sehr gern, schon allein des flehenden Ausdruckes wegen, mit welchem das junge Leben zu mir emporschaute,« fügte Herr Seim mit einer bekräftigenden Kinnbewegung und dem biedern Faltenwurf um seinen Mund hinzu; »auch meine Juliane, damals selbst noch ein Kind - in der That, ihrem Wesen nach, heute noch ein Kind, und zwar ein braves, dankbares Kind -, bestand darauf, lieber weniger nach den unbekannten Eltern zu forschen und dafür etwas mehr Sorgfalt auf den kleinen Gast zu verwenden - und so geschah es auch. Trotz seiner Kränklichkeit und übergroßen Schwäche gedieh das Kind doch zusehends unter der besondern Aufsicht meiner Juliane. Es würde auch jetzt noch unter ihren Händen gedeihen, wenn nicht ein stark hervortretender Zug von Eigensinn, Unredlichkeit und Verstocktheit das Kind ihrem Herzen entfremdet hätte. Strenge Zucht mußte an Stelle der Liebe treten; aber auch damit richteten wir nichts aus. Die Fälle von Unredlichkeit wiederholten sich häufiger und beschränkten sich zuletzt nicht mehr darauf, daß das Mädchen sich an dem Eigenthum seiner Mitschülerinnen vergriff, sondern sogar ...«