Kitabı oku: «Der Meerkönig», sayfa 6

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»Sogar?« fragte die Commissionsräthin gespannt, als Herr Seim mit einem tiefen Seufzer, dem Ausbruche seiner Wehmuth, schwieg.

»Das arme Kind ist vielleicht schon todt,« antwortete Herr Seim leise, wie zu sich selbst sprechend, »und den Todten soll man nichts Uebles nachsagen, selbst auch dann nicht, wenn sie es verdienen.«

»Sprechen Sie, mein guter Herr Seim,« munterte die Commissionsräthin auf; »warum mit der Wahrheit zurückhalten, wenn es sich darum handelt, einen prüfenden Blick in ein jugendliches, verdorbenes Gemüth zu senken?«

»Wohlan denn, gnädige Frau,« fuhr der Vorsteher fort, nachdem er sich wieder ermannt hatte, »ich zögere nicht länger, Ihnen Alles vertrauensvoll mitzutheilen. Ja, das Mädchen hat es verstanden, sich meine augenblickliche Abwesenheit zu Nutze zu machen, hier einzudringen, dort den Schreibtisch, in welchem die Schlüssel gerade so steckten, wie jetzt, zu öffnen und mir baares Geld zu entwenden.«

»Ist es bei der That ertappt worden?«

»Leider nicht; kaum, daß ich Verdacht faßte, als ich das Fehlen des Geldes entdeckte und das Mädchen mit Näschereien in den Händen gesehen wurde, die es von einem Vorübergehenden wollte geschenkt erhalten haben. Selbstverständlich, um den Ruf unserer wohlthätigen Anstalt zu bewahren, zugleich aber auch den Frevler zu strafen und auf den Weg des Rechtes zurückzuführen, suchte ich den Thäter zu ermitteln, allein lange vergeblich. Da kam ich auf den Gedanken, einige Thaler, die ich vorher gezeichnet hatte, offen auf meinem Tische liegen zu lassen und einen der Wärter zu beauftragen, das Mädchen mit einer Botschaft zu mir zu schicken.

»Ich sträubte mich nämlich noch immer gegen den gräßlichen Verdacht und nahm zu diesem seltsamen Mittel meine Zuflucht, mehr, um die übrigen Hausbewohner von der Unschuld des Mädchens zu überzeugen, als dieses auf die Probe zu stellen.

»Leider hatten die Leute nur zu recht gehabt, als sie meinen Argwohn auf Lieschen, wie das Kind genannt wurde, hinlenkten, denn als ich etwas später das Geld nachzählte, fehlten wieder mehrere Thaler. Es war dies vorgestern Abend. Um nicht zur späten Stunde die zum Theil schon sanft schlummernden Kleinen zu stören und durch einen unangenehmen Auftritt zu beunruhigen, beschloß ich, erst am folgenden Morgen der Sache auf den Grund zu gehen.

»Hätte ich diese Rücksicht nicht gebraucht, es wäre vielleicht besser gewesen; denn als die Wärterinnen sich gestern Morgen nach dem Schlafsaale der Mädchen begaben, da war Lieschen sammt ihren Kleidern verschwunden, und in ihrem Bette fand man diesen Thaler, auf welchen ich, wie die Frau Geheimeräthin zu bemerken die Güte haben werden, mit einem Federmesser ein Kreuz geritzt hatte.«

Die Commissionsräthin nahm den ihr mit einer Verbeugung dargereichten Thaler und betrachtete ihn eine Weile sinnend.

»Ja, da ist das Kreuz, mein bester Herr Seim,« sagte sie, das Geldstück noch immer aufmerksam« prüfend; »es war ein glücklicher Einfall von Ihnen, und der Verdacht kann keinen Unschuldigen mehr treffen - an den von Ihnen zurückgelassenen Schnitten sieht man übrigens recht deutlich, wie viel Zusatz das Silber erhält, ehe es geprägt wird - nun, kehrt das arme, irre geleitete Kind nicht wieder, hat eine harte, strafende Hand es getroffen, dann, mein lieber Herr Seim, nehmen Sie an, daß Gott es so gewollt hat, vielleicht um die bösen und ansteckenden Elemente aus Ihrer Anstalt zu entfernen.«

»Das ist mein einziger Trost,« versetzte der Vorsteher mit schmerzlich zuckenden Lippen und den etwas verlängerten Hals einige Male frei in der Halsbinde hin und her drehend; »allein bis zu meinem letzten Athemzuge gebe ich die Hoffnung nicht auf, das verlorene Kind dennoch einmal wiederzusehen und als gebessert an mein Herz zu schließen.«

»Die Zeit enteilt,« begann die Commissionsräthin, nachdem Herr Seim wieder die gewöhnliche, biedere, selbstbewußte Haltung angenommen, »und ich habe noch von Geschäften mit Ihnen zu sprechen.« - Bei diesen Worten legte sie eine schwere Ledertasche mit einem Geräusche auf den Tisch, welches verrieth, daß es keine Schlüssel waren, die den melodischen Klang erzeugten. - »Die Collecte unter meinen Standesgenossinnen hat einen reichen Ertrag für Ihre Anstalt geliefert, reicher, als ich selbst erwartet hätte. Ich machte eben überall darauf aufmerksam, daß gerade hier eine gute Gelegenheit geboten wäre, uns vor den niederen Ständen auszuzeichnen, und man gab viel und mit Freuden. Die Liste der Geber werde ich Ihnen später einhändigen. Daß die Frau unseres Nachbars - ich habe ihren Namen vergessen - kleine, obscure Handlung, nicht einmal ein Engros-Geschäft ...«

»Ich weiß, gnädige Frau, der Mann trachtet nach einer Dekoration,« wagte Herr Seim seine reiche Gönnerin wieder zu unterbrechen.

»Albernes Volk!« fuhr die Commissionsräthin mit sittlicher Entrüstung fort; »die Menschen wollen sich aufblähen und gehen weit über ihre Verhältnisse hinaus. Mein Mann, der Geheime Commissionsrath, trägt schon seit zehn Jahren einen Orden, und dennoch wird Niemand eine Ueberhebung am ihm entdecken oder ihm Stolz vorwerfen - doch um auf meine Collecte zurückzukommen, dieselbe beträgt zweihundertsechsundachtzig Thaler. Hier, nehmen Sie das Geld, mein guter Herr Seim; möge es Ihrer Anstalt Segen bringen! Ich habe es selbst gezählt; aber zählen Sie es der Sicherheit halber noch einmal nach,« fügte die redselige Dame hinzu, indem sie aus ihrer Ledertasche einen theils mit Papiergeld, theils mit klingender Münze angefüllten, grau leinenen Beutel zog und vor Herrn Seim hinstellte.

»Nachzählen?« fuhr der Vorsteher erschreckt empor, und sein Kinn strich leise den Rand der weißen Halsbinde, während er mit der Hand, wie unbewußt, ordnend über seine grauen Locken fuhr.

In der nächsten Secunde aber hatte die tiefste Rührung den Sieg über den edlen Unwillen, welchen die ungerechte Zumuthung in ihm hervorrief, davongetragen, und ohne sich der Thränen zu schämen, die in seine wohlwollenden Augen drangen, stammelte er im Namen seiner Schutzbefohlenen den heißesten Dank für die reichen Gaben.

»O, meine gnädige Frau,« rief er, von seinen Gefühlen überwältigt, aus, als diese zu seinen Dankesworten eine sanft abwehrende Bewegung machte, »ich muß es der Welt verkünden, so viel Edelmuth darf nicht im Verborgenen wirken! Gestatten Sie mir daher gütigst, schon morgen einen kleinen Dank zu veröffentlichen und Ihren hochgeehrten Namen mit dieser bedeutenden Summe in Verbindung zu bringen, vor Allem aber der großen Theilnahme zu gedenken, mit welcher Sie sich sogar nach den geringfügigsten Umständen und Vorgängen in unserer Anstalt erkundigen.«

»Eigentlich liebe ich es nicht, vor die Oeffentlichkeit zu treten,« entgegnete die Commissionsräthin, indem sie wie beschämt vor sich nieder schaute und das Stahlschlößchen ihrer Ledertasche einige Male mit lautem Schall auf- und zuspringen ließ; »und dennoch, mein lieber Herr Seim, müssen Sie am besten beurtheilen, ob ein derartiges Verfahren - vielleicht der Nacheiferung wegen - zu empfehlen ist. Haben Sie dabei einen guten Zweck vor Augen, so gebrauchen Sie meinen Namen immerhin; aber, Herr Seim, ich darf wohl darauf rechnen, daß sie meine Stellung in der Gesellschaft berücksichtigen und eingedenk sind, daß mir nichts ferner liegt, als lächerliche Eitelkeit oder gar Hochmuth!«

»Gewiß, meine Gnädigste,« versetzte der Vorsteher, verbindlich schmunzelnd, »und wenn ich Ihrer gütigen Zustimmung versichert wäre, würde ich mir erlauben, Ihren geehrten Namen mit dem der jungen Gräfin Renate in eine Zeile obenan zu stellen.«

»Handeln Sie, wie Sie es für am geeignetsten halten, mein guter Herr Seim,« erwiderte die Commissionsräthin, worauf sie mit matter Bewegung und halb geschlossenen Augen ihre zierliche Brieftasche öffnete und Papiergeld im Betrage von etwa zehn Thalern hervorzog; »soll ich indessen mit aller Gewalt als - nun, als Freundin Ihrer Waisen öffentlich genannt werden, so will ich doch auch in der Stille mit der rechten Hand etwas geben, wovon die linke nichts weiß. Hier, Herr Seim, nehmen Sie dies, verwenden Sie es nach bestem Ermessen, aber sprechen Sie nicht darüber.«

»Darf ich den Empfang dieses Geldes auf der Quittung über die zweihundertsechsundachtzig Thaler bestätigen?« fragte Herr Seim zuvorkommend.

»Nein, nein, ich will mir eben den Genuß verschaffen, auch im Verborgenen segensreich zu wirken, und da die Quittungen vorgelegt werden, so ...«

»Ich verstehe, ich verstehe, gnädige Frau,« fiel der Vorsteher der Commissionsräthin mit Wärme in die Rede. In seinen Augenwinkeln aber funkelten wiederum zwei helle Thautropfen, so daß er sich abwenden mußte, um dieselben verstohlen zu entfernen, bei welcher Gelegenheit er kaum verständlich die Worte: »Edle, hochherzige Seele!« in die Falten seines Taschentuches murmelte.

Er besiegte indessen schnell seine Rührung, und der Commissionsräthin sein biederes, durch sanftes Zurückschrauben seines Kinnes noch an Ausdruck gewinnendes Antlitz zuwendend, fragte er bescheiden, ob er nicht auch den Namen von dero gnädigem Fräulein Tochter in eine Reihe mit dem der Gräfin Renate bringen dürfe.

»Gewiß dürfen Sie das, mein guter Herr Seim,« lautete die billigende Antwort; »das holde Kind verdient diese kleine Aufmerksamkeit, denn es dehnt seine Wohlthätigkeit ebenfalls heimlich in der That so weit aus, daß mein Mann, der Geheime Commissionsrath, ihr Nadelgeld bereits um eine erhebliche Summe erhöhen mußte.«

»Glückliche, reich gesegnete Mutter!« flüsterten Herrn Seim's bebende Lippen wie unbewußt, während seine Blicke in den Augen seiner Gönnerin zu lesen suchten.

Diese aber hatte schnell wieder ihre Brieftasche zur Hand genommen, und mit einem ausdrucksvollen: »Im Namen meiner Tochter für Ihren geheimen Fonds!« legte sie abermals einen Geldschein vor den überraschten Vorsteher hin.

Erleichterten Herzens erhob sie sich darauf; Herr Seim war ihr beim Anziehen des Pelzes behülflich, und gern gestattete sie ihm, daß er sie mit dem Hute in der Hand bis an den Schlitten begleitete und an Stelle des unterwürfig zurückgetretenen Dieners ihr in die üppige Anhäufung von kostbaren Wildschuren und Decken hineinhalf.

»Gott erhalte Sie, gnädige Frau!« rief Herr Seim innig aus, als die Pferde sich anschickten, auf ein Zeichen des Kutschers durch den stäubenden Schnee davonzustürmen.

»Sorgen Sie auch recht gut für die lieben Kleinen und grüßen Sie alle herzlich von mir!« rief die Commissionsräthin laut zurück. Es geschah dies nämlich im Uebermaße ihres Wohlwollens und keineswegs aus Eitelkeit, denn sie erschrak fast, als sie bemerkte, daß einige Vorübergehende beim Klange ihrer Stimme mit achtungsvoller Verwunderung zu ihr emporschauten.

Die Peitsche knallte, die Glocken klingelten im lustigen Chor, und dahin schossen die Pferde in gestrecktem Trabe, als ob sie sich auf einer Rennbahn befunden hätten.

Seim blickte dem stattlichen Gefähre eine Weile nach und dann trat er gesenkten Hauptes in den Hof zurück.

»Braves Herz, gute, edle Dame!« sprach er vor sich hin, als er bei den mit Schaufeln beschäftigten Tagelöhnern vorüberschritt, und zwar laut genug, um von diesen verstanden zu werden. Dann aber plötzlich stehen bleibend, als ob er sich jetzt erst der Anwesenheit der Arbeiter erinnere, wendete er sich diesen mit theilnehmendem, mitleidigem Lächeln zu.

»Es ist kalt heute, liebe Kinder,« begann er aufmunternd; »wollte Gott, ich könnte Euch die Arbeit erleichtern und obenein doppelten Tagelohn zahlen!«

Dieser Gedanke preßte ihm einen tiefen Seufzer aus, und wie um seiner eigenen, an Leichtsinn streifenden Weichherzigkeit zu entrinnen, eilte er hastig in's Haus.

»Ein rechtschaffener Mann,« sagten die Leute zu einander, indem sie sich mit ihrer Arbeit beeilten, »und dabei so mildherzig; für Jeden hat er ein freundliches Wort, und läge es in seiner Macht, würde er uns Allen gewiß helfen.«

Herr Seim war unterdessen in sein Geschäftszimmer eingetreten. Einen zufriedenen Blick warf er auf den Tisch, auf welchem das Geld noch immer lag; ein zweiter Blick galt seiner silbernen Uhr - eine goldene zu tragen, hielt er sich in seiner Stellung als Vorbild der Jugend nicht für berechtigt - und dann wiederholte er vor dem Spiegel einen Theil der Stellungen, welche er der Commissionsräthin gegenüber angenommen hatte, um daraus ungefähr zu berechnen, welchen Eindruck er auf seine Gönnerin ausgeübt haben könne.

Offenbar lieferte die Prüfung ein befriedigendes Resultat; denn nachdem er mit leichter Hand seinen symmetrisch geordneten Locken einen sanften Schwung gegeben und demnächst mit edel zurückgezogenem Kinn das wohlgeformte Haupt die bekannten Drehungen in der weißen Halsbinde hatte ausführen lassen, spitzte er die Lippen zierlich zu einem leisen, dabei aber recht munter klingenden Pfeifen. Mit geübten Fingern und ohne das Pfeifen, den harmlosen Ausbruch einer frohen Stimmung und eines ruhigen Gewissens, einzustellen, zählte er flüchtig das Geld. Ein zufriedenes Nicken seines Hauptes verrieth, daß die Summen stimmten, worauf er sie nach dem Schreibtische hintrug, das volle Leinwandsäckchen in den Blechkasten stellte, die zuletzt empfangenen losen Scheine dagegen in die hölzerne Mulde legte.

Er war noch mit dem Einschreiben in seine Cassen-Folianten beschäftigt, als es klopfte und auf sein freundliches Herein! ein Wärter des Hauses zu ihm herantrat und zwei eben eingelaufene Briefe neben ihn auf den Tisch legte.

Herr Seim, sonst immer gütig und zuvorkommend, war indessen zu sehr in seine Rechnungen vertieft, um nach lieber, alter Weise den treuen Wärter nach dem Befinden seiner Familie zu befragen, und dieser besaß eine zu große Verehrung vor seinem milden Gebieter, um ihn zu ungelegener Zeit stören zu mögen; er schlich daher wieder leise zur Thür hinaus.

Kaum aber hörte Herr Seim den Riegel in's Schloß fallen, da legte er die Feder zur Seite. Ein Blick auf die Uhr überzeugte ihn, daß noch fünf Minuten an der von seiner Tochter festgesetzten Zeit fehlten, er nahm daher die Briefe zur Hand, und nachdem er flüchtig die Aufschrift beider geprüft, erbrach er denjenigen, welchen er für den wichtigsten hielt. »Geehrter Herr Seim,« lautete dieser, »wenn Ihr Weg Sie in nächster Zeit an meiner Wohnung vorbeiführt, dann haben Sie wohl die Güte, vorzusprechen und mit mir über die Verwendung des Ertrages unserer Lotterie, der zur Weihnachtsbescheerung für Ihre Schutzbefohlenen bestimmt ist, zu berathen. Ergebenst

»Hm, hm, als ob meine Juliane nicht billiger und zweckmäßiger einzukaufen verstände!« murmelte Herr Seim mit einem kaum bemerkbaren Anfluge von Ungeduld, und dann entfaltete er den zweiten Brief.

»Ich erwarte Sie heute Abend zwischen neun und zehn Uhr in meiner Wohnung, um von Ihnen zu hören, wie die Sache mit dem, laut Zeitungs-Annonce, entlaufenen und auf den Namen Lieschen hörenden Mädchen zusammenhängt.

»Adel bleibt Adel,« bemerkte Herr Seim, die beiden Briefe mit einer gewissen Ehrerbietung zusammenlegend und demnächst in ein geheimes Fach seines Schreibtisches verschließend; »selbst aus ihren Briefen kennt man sie heraus,« fuhr er in seinen lauten Betrachtungen fort. »Aber das gute Kind ist pünktlich,« verfiel er plötzlich in einen heitern Ton, und über sein wohlwollendes Antlitz verbreitete sich ein freundlicher Schimmer, »und dazu mein Leibgericht, prächtig, prächtig, es wäre in der That Hochverrath, meine sorgliche Juliane warten zu lassen.«

Festen Schrittes begab er sich nach der Flurthür, und nachdem er dieselbe doppelt verriegelt, eilte er durch die andere Thür nach den Hintergemächern seiner Wohnung.

5. Die Geschwister.

Eine schöner und geschmackvoller eingerichtete Wohnung, als die des Grafen Hannibal, wäre schwerlich zu finden gewesen; denn nicht nur zeugte die ganze Einrichtung derselben von großem Reichthum, sondern die einzelnen der Hunderte von Gegenständen, von der schweren Parforce-Peitsche bis zu der mit Schildpatt ausgelegten Stutzuhr, waren auch so sorgfältig gewählt, und mit so viel feinem Geschmack geordnet, daß, wäre man verschwenderischer Ueberladung wer weiß wie abhold gewesen, man beim Eintritt sich dennoch behaglich angehaucht und sogar bis zu einem gewissen Grade heimisch fühlen mußte.

Der Graf selbst war natürlich derartigen Eindrücken nicht unterworfen. Ihm galten die türkischen Teppiche und Damast-Gardinen nicht mehr, vielleicht noch weniger, als einem einfachen Bürgersmanne ein sandbestreuter Fußboden und dünne, weiße Fenstervorhänge.

Die reich gepolsterten Sessel, die kostbar geschnitzten Stühle und Tische, der prachtvolle Kronleuchter, die wunderbar schönen Bronze- und Elfenbein-Bildhauerwerke, was waren sie ihm auch weiter, als Erinnerungszeichen einer vorübergehenden Laune, deren Befriedigung ihm eine kurze Unterhaltung gewährte.

Ein oberflächlicher Blick belehrte, daß es außer Pferden und Hunden nicht viel mehr in der Welt gab, was seine Theilnahme zu erwecken vermochte. Es stand dies in seinen schlaffen, jedoch regelmäßig schönen Zügen geschrieben; es lag in seinen von kraftlos und matt niederhängenden Lidern versteckten blauen Augen; vor Allem aber sprach es sich in der ganzen Haltung aus, mit der er am Abende jenes Wintertages auf einer schwellenden Ottomane lag, mit den breiten, stählernen Sporen rücksichtslos in das kostbare Gewebe bohrte und einem neben ihm sitzenden Neufundländer Hunde die Lefzen so lange über der Nase zusammenpreßte, bis das geduldige Thier endlich vor Schmerz laut aufjauchzte.

Das Jauchzen des Neufundländers rief ein schadenfrohes Knurren zweier kleiner Affenpinscher hervor, die neben dem Grafen auf der Ottomane lagen; das Knurren wieder bewegte den Grafen, von dem Neufundländer abzulassen und die Affenpinscher an den kurzen Schweifendchen zu zerren, daß sie in ein giftiges Bellen ausbrachen, wofür sie zur Strafe nach dem mit einer türkischen Decke verhangenen Tische hinaufgeworfen wurden, wo sie die größte Mühe hatten, sich ihren Weg, ohne Schaden anzurichten, zwischen geschliffenen Gläsern, Krystallflaschen, Porzellanleuchtern, Aschbecher und Bergen von photographischen Abbildungen hervorragender Tänzerinnen, Rennpferden und gekrönten Häuptern hindurch zu suchen.

Nachdem wieder Ruhe eingetreten und die matten Augenlider, die sich bei dem Lärm der Hunde etwas erhoben hatten, in ihre alte Lage zurückgesunken waren, strich die weiße, sorgfältig gepflegte rechte Hand einige Male nachlässig über den stattlichen, blonden Bart, der zu beiden Seiten des Kinns in lange, gekräuselte Zipfel auslief, und dann wendete der Graf sich halb nach einer Dame um, die ihm gegenüber mit derselben vornehmen Nachlässigkeit in einem umfangreichen Lehnsessel ruhte.

Wie jeder Zug im Gesichte des Grafen von einer unbesiegbaren Langenweile zeugte und man in demselben vergeblich nach einer Spur von höheren Geistesfähigkeiten suchte, so bot auch die in reichster Toilette prangende Dame das vollkommene Bild einer mit allen Genüssen eines üppigen Lebens vertraut gewordenen, den sogenannten höheren und bevorzugten Ständen entsprossenen Persönlichkeit. In ihren zuweilen scharf aufblitzenden Augen lag dagegen etwas mehr Lebhaftigkeit, wie in ihrem Antlitz die schwache Familien-Aehnlichkeit durch einen bemerklichen Ausdruck von Klugheit wieder ziemlich verwischt wurde. Jedenfalls hätte man die Beiden nicht auf den ersten Blick für Geschwister gehalten, es sei denn, man wäre durch die vornehme Vernachlässigung des feinen Anstandes auf die richtige Spur geführt worden.

Häßlich war die Gräfin keineswegs, im Gegentheil, ihr Gesicht hatte schöne Formen und Farben, eben so schien ihr dunkles Haar üppig und stark zu sein. Der Ausschnitt ihres Kleides reichte so tief hinab, daß ein sittsames Bürgermädchen sich mindestens befremdet von ihr abgewandt haben würde, ohne über die prächtige Farbenabstufung in Erstaunen zu gerathen, welche die Schwanendaunen-Einfassung des Kleides zu dem von einer doppelten Perlenschnur umschlungenen, weiß gepuderten Halse bildete.

Als der Graf sich nach einem längeren Schweigen seiner offenbar grübelnden Schwester wieder zuwendete, nahmen deren Augen einen fast lauernden Ausdruck an, doch sichtlich vermied sie, durch eine Veränderung ihrer Lage zu große Theilnahme zu verrathen.

»Jedenfalls wirst Du einräumen, Clotilde,« begann der Graf, und indem er sich träge herumschob, drangen seine Sporen tiefer in die weiche Polsterung ein, »ja, jedenfalls, daß die Affaire mit dem Wechselbalg sich sehr mißlich gestaltet hat. Erstens traue ich dem Schurken von Vorsteher nicht, der mir beständig auf der Tasche liegt, und dann könnte das Kind auch sehr leicht in unrechte Hände fallen, die etwas Anderes daraus machten, als vielleicht wünschenswerth wäre.«

»Wie vermagst Du nur derartige Befürchtungen zu hegen?« fragte die Gräfin nach kurzem Sinnen zurück. »Bist Du nicht im Stande, den elenden Seim in jedem Augenblicke zu zermalmen, ohne daß Du dabei den geringsten Unannehmlichkeiten ausgesetzt wärest? Hast Du nicht Alles mit kluger Ueberlegung eingeleitet, daß ...«

»Bitte um Verzeihung, theuerste Schwester,« unterbrach der Officier die Gräfin mit ungewöhnlicher Regsamkeit, »Du wirst Dich entsinnen, daß ich nie ohne Deinen Rath handelte, die Ehre der klugen Ueberlegung also vorzugsweise Dir zufällt, außerdem aber Du Dich ganz derselben daraus entspringenden Vortheile erfreust, wie ich.«

Die Gräfin machte eine ungeduldige Bewegung; sie besann sich indessen schnell wieder und fuhr fort, als ob sie gar nicht unterbrochen worden wäre: »Also, daß unsere Vorkehrungen von keiner Seite durchkreuzt werden können. Doch sei dem nun, wie ihm wolle, das Kind geht uns nichts an; es ist entlaufen und hat dadurch die Verderbtheit seines Charakters bewiesen. Herr Seim wird die geeigneten Wege einschlagen, es wieder in seine Gewalt zu bekommen, es dann nach seinen Grundsätzen behandeln und allmählich für ein Correctionshaus oder, wer weiß wofür, reif machen. Ich baue fest darauf, daß, hat es wirklich seinen Weg zu anderen Leuten gefunden, dies erstens nicht verborgen bleibt, anderntheils aber auch dort seine bösen Neigungen zum Vorschein kommen, und man schließlich froh ist, es auf gute Art wieder los zu werden.«

»Wenn es nur gewiß wäre, daß es durch sein Betragen Alle, die mit ihm in Berührung kommen, von seiner Unverbesserlichkeit überzeugt,« versetzte der Graf gedehnt, indem er die Ohren des Neufundländers über dessen Stirn zusammenzuknüpfen versuchte; »ich kann mich nämlich von der Furcht nicht lossagen, daß es nicht so schlimm mit ihm steht und daß es sich möglichen Falles Freunde erwirbt, die nach seinem Ursprunge forschen.«

»Laß sie forschen, so viel sie wollen, und kommen sie endlich auf den Grund, so kann es keine weiteren Folgen haben, als daß wir uns großmüthig zu einer kleinen Unterstützung verstehen, die sicherlich nicht die Höhe der Summen erreicht, die der saubere Seim bezieht. Weiß man aber erst, woher das räthselhafte Kind stammt, so schwindet auch das Interesse für dasselbe und man beruhigt sich leicht bei dem Gedanken, daß in einem auf dunkle Art in die Welt geschleuderten Geschöpfe kein guter Kern verborgen sein kann.«

»Oho,« fuhr der Graf auf, und der Hund jauchzte wieder unter einem rauhen Griff, »meine weise Schwester sollte doch am besten wissen, ob der Stamm, von welchem die Frucht fiel, einen derartigen Vorwurf verdient!«

»Allerdings weiß ich das; allein die Leute, welche etwa der Zufall mit dem Kinde zusammenführt, können das nicht wissen. Uebrigens scheinst Du heute Abend sehr philanthropischer Laune zu sein, und es sollte mich kaum befremden, bestrittest Du, daß durch eine Beimischung von gemeinen Elementen das edelste Blut verdorben werden kann.«

»Das bestreite ich nicht, meine theure Schwester, im Gegentheil, es sieht wohl kaum Jemand in unseren Kreisen strenger auf Reinhaltung des ihm tadelfrei überkommenen Stammbaumes, als ich, wenn ich auch zugebe, daß Verhältnisse eintreten können, die zur Auffrischung des erblindeten äußeren Glanzes ein Niedersteigen von der Höhe entschuldigen. Was Du irrthümlicher Weise als kindische Philanthropie bezeichnest, war eben weiter nichts, als der flüchtige Gedanke, daß das Kind vielleicht im Schnee umgekommen sei.«

Aus dem Gesichte der Gräfin wich bei diesen Worten die Farbe; jedoch nur auf Secunden, denn bald zeigte es wieder den kalten, berechnenden Ausdruck.

»Dann tragen wir keine Schuld, nein, unter keiner Bedingung tragen wir die Schuld an seinem Tode,« sagte sie hastig. »Warum ist es entlaufen? Warum hat es sich durch schlechte Führung seinen Aufenthalt in dem Waisenhause verleidet? Ist das Mädchen durch seine eigene Schuld um's Leben gekommen, so sind wir dadurch nur von einer großen Unruhe befreit worden, gerade so wie damals, als wir die verbürgte Nachricht ...«

»Schweige davon!« fuhr der Graf hastig empor, indem er sich auf der Ottomane herumwarf, daß dieselbe in allen Fugen knackte; »Du weißt, ich will nicht daran erinnert sein, es verdirbt mir die Laune für den ganzen Abend. Uebrigens kannst Du Dich rühmen, mich schon damals durch Deine Rathschläge bestimmt zu haben.«

Die Gräfin warf sich hintenüber und stieß ein helles, aber erzwungenes Lachen aus.

»Sieh doch den tapfern Krieger,« rief sie spöttisch ihrem Bruder zu, und zugleich lockte sie durch eine Handbewegung die munteren Affenpinscher auf ihren Schooß. »Sinke doch lieber gleich in Ohnmacht, anstatt mit mir darüber zu frohlocken, daß das Geschick vielleicht gütig genug war, den letzten Stein des Anstoßes aus unserem Wege zu räumen. Auch ich gönne dem unglücklichen Kinde kein trauriges Ende, allein wenn es einmal geschehen ist, so läßt es sich nicht mehr ändern.«

Die drei in dem Gemache befindlichen Stutzuhren schlugen jetzt kurz hinter einander halb Zehn und fast gleichzeitig ertönte von der Hausflur her das Klingeln eines Einlaßbegehrenden.

»Das ist der Vorsteher,« sagte der Graf; »ich bestellte ihn auf halb zehn Uhr hierher, und eine servile Natur, wie er, ist immer pünktlich. Aber willst Du der Unterhandlung wirklich beiwohnen?«

»Natürlich, wenn auch nicht auf diesem Stuhle. Ich ziehe mich in Dein Schlafgemach zurück. Außerdem erwarte ich meinen Wagen erst gegen zehn Uhr. Ich hofft, meine Nähe wird auf Deine Verhandlungen keinen nachtheiligen Einfluß ausüben.«

»Keineswegs,« antwortete der Graf leise, denn er vernahm auf der Treppe Männerschritte.

Kaum war die Gräfin in das durch schwere Vorhänge von dem Salon getrennte Nebenzimmer geschlüpft, als ein Diener hereintrat und meldete, daß ein fremder Herr den Herrn Grafen in dringenden Angelegenheiten zu sprechen wünsche.

»Laß ihn herein,« befahl der Graf, indem er sich halb aufrichtete, »und merke Dir, ich bin für Niemanden zu sprechen.«

Der Diener entfernte sich mit einer Verbeugung, und mit einer noch tieferen Verbeugung erschien Herr Seim auf der Schwelle.

Er war noch immer derselbe, wie am Vormittage, nur ein Paar weiße Handschuhe und eine weiße Weste hatte er seinem gewählten Anzuge beigefügt; vielleicht auch, daß die grauen Haare sich noch etwas fester an den runden Schädel anschmiegten, das Lockenkränzchen über dem Rockkragen etwas neckischer nach oben wies und der biedere Ausdruck auf dem bescheiden lächelnden Antlitz wo möglich noch eindringlicher geworden war. Auch in seinen Bewegungen entwickelte er eine erhöhte Anmuth, was wohl mit darin seinen Grund fand, daß die dicken Teppiche eine gewisse Federkraft besaßen und den ungeübten Fuß beständig zu vorsichtigem Einherschreiten mahnten.

»Der Herr Graf waren so gnädig, mich zu sich zu entbieten,« begann Herr Seim, sobald er bis auf drei Schritte vor dem Officier angekommen war, seine Worte mit einer neuen Verbeugung begleitend.

»Ganz recht, Herr Seim,« entgegnete der Graf mit einer leichten Verneigung seines Hauptes, »ich wollte Sie sprechen, ja, aber setzen Sie sich, es ist mir bequemer.«

Herr Seim leistete der an ihn gerichteten Aufforderung sehr anmuthig Folge, wobei er mancherlei von »hoher Ehre« und »tiefster Beschämung« murmelte, und der Graf fuhr fort:

»Daß es mich unangenehm überraschte, als ich heute in der Zeitung die Geschichte von dem Entweichen einer Ihrer Pflegebefohlenen las und aus der Beschreibung sogleich das bewußte Mädchen heraus erkannte, brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen.«

»Gewiß nicht, Herr Graf; ich glaube Dero Gefühle und Empfindungen Betreffs dieser Sache nicht zu unterschätzen.«

»Wohlan denn, mein werther Herr Seim, ich muß es Ihnen gegenüber einräumen, daß mir viel daran liegt, das Kind wieder unter Ihrer treuen Obhut zu wissen.«

»Nicht Geld noch Mühe sollen gespart werden, diesen Wunsch in Erfüllung zu bringen.«

»Gut, gut, ich bin gern bereit, Ihnen alle Kosten zu vergüten, und da ich mich sehr für das Kind interessire, weil - nun, Sie wissen ja - weil mir sein Gesicht einst auf der Straße auffiel ...«

»Weil das kleine, verkommene Geschöpf dem Herrn Grafen einst auf der Straße auffiel,« wagte Herr Seim den verlegen zur Seite schauenden Grafen ausdrucksvoll zu unterbrechen.

»Ganz richtig,« fuhr dieser darauf wieder fort; »ich sehe, Herr Seim, Sie verstehen mich vollkommen. Ich interessire mich also für das Kind und bin mit ganzer Seele bei dem Versuche, das verdorbene, kleine Geschöpf zu retten und der menschlichen Gesellschaft zu erhalten. Ich befürchte zwar, daß meine Geldopfer und Ihre Mühe nutzlos vergeudet sind ...«

»Vollständig nutzlos,« schaltete der Vorsteher mit entschiedenem Wesen und verbindlichem Lächeln ein.

»Das soll mich indessen nicht hindern, noch ein Stück Geld daran zu wenden,« erklärte der Graf weiter, »um mir später sagen zu dürfen, daß ich Alles aufbot, das Kind vor dem Corrections- oder Arbeitshause zu bewahren. Also, Herr Seim, das unglückliche Geschöpf zeigt wenig Anlage zu einem rechtschaffenen Lebenswandel?«

»Nicht die geringste, Herr Graf.«

»So daß Jeder ihm gern aus dem Wege geht?«

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