Kitabı oku: «Grundkurs Psychologie für die Soziale Arbeit», sayfa 2

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Sigmund Freud (1856–1938) als der Vater der Psychoanalyse legte mit seiner Idee, dass seelische Störungen ihren Ursprung in einer unbewussten Dynamik haben und auf ungelösten frühkindlichen, vornehmlich sexuellen Konflikten basieren, den Grundstein für psychodynamische Theorien und für die Behandlungsidee einer Art Sprechkur. Interessanterweise wird die Psychoanalyse an vielen deutschen psychologischen Fakultäten heute fast gar nicht mehr gelehrt, weil sie als unwissenschaftlich und nicht ausreichend empirisch belegt gilt; sie ist hingegen an religions- oder literaturwissenschaftlichen Lehrstühlen relativ präsent. Die Psychoanalyse stellt nach wie vor eine der bedeutsamsten Theorien über die menschliche Seele und deren Eigenarten dar und ist auch für die psychosoziale Handlungspraxis (s. Kapitel 6.4) relevant.

Als dritte große Richtung ist der Kognitivismus zu benennen, in dessen Zentrum die Theorie der Erkenntnis und das Bewusstsein im Sinne von Einsicht und Vernunft stehen. Einer der berühmtesten Vertreter des Kognitivismus ist der Entwicklungspsychologe Jean Piaget (1896–1980), der sich intensiv mit der Entwicklung geistiger Strukturen (s. Kapitel 2.6) befasste.

1.5 Die Rolle der Psychologie in der NS-Zeit und ihre Nachwirkungen

Die bedeutenden Entwicklungspsychologen Charlotte und Karl Bühler, der Wahrnehmungspsychologe Kurt Goldstein, der wichtige neuropsychologische Grundlagen schuf, Paul Lazarsfeld als der Ideengeber der Marienthalstudie, Max Wertheimer als Vater der Gestaltpsychologie, William Stern als Begründer der Persönlichkeitspsychologie und Erfinder des Intelligenzquotienten, Kurt Lewin als Schöpfer der Feldtheorie: Sie sind nur einige wenige Beispiele für eine Vielzahl von wegweisenden Psychologen, die während der NS-Zeit auf Grund ihrer jüdischen Herkunft oder abweichender politischer Überzeugungen ihre Stellung in Deutschland verloren oder emigrieren mussten.

Gleichwohl – die Geschichte der Psychologie in der NS-Zeit ist nicht nur die Geschichte der Verfolgung und Vertreibung ihrer Mitglieder. Sie ist ebenso eine Geschichte der Mittäterschaft. Darüber hinaus hat sich die Psychologie als eigenständige akademische Disziplin in dieser Zeit etabliert:

„Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass die Psychologie in Deutschland der NS-Herrschaft ihre Etablierung als eine eigenständige akademische Disziplin verdankt, losgelöst von Philosophie und Medizin. Mit der Einführung der Diplomstudienordnung für das Fach Psychologie im Jahre 1941 wurde ein Curriculum entwickelt, das der Psychologie nach dem 2. Weltkrieg die Einrichtung von Lehrstühlen für Psychologen erst ermöglichte (vgl. Geuter 1984a). Hierbei spielte die individuelle Anpassung aufgrund opportunistischer Erwägungen an die herrschende NS Ideologie ebenso eine Rolle wie der Versuch, die psychologischen Erkenntnisse der Diagnostik vor allem in der Wehrpsychologie und Berufsberatung nutzbar zu machen“ (Wolfradt 2017, 1f.).

Während der NS-Zeit arbeiteten nicht wenige Psychologen als Wehrpsychologen und profitierten von der damit verbundenen Verbeamtung. Eine Mitgliedschaft in der NSDAP konnte dazu beitragen, eine gesicherte Anstellung an Universitäten oder anderen staatlichen Stellen zu erhalten. Auch bei der Entwicklung einer Rassenpsychologie wirkten Psychologen mit. Besonders populär waren in dieser Zeit psychologische Lehren, die biologischorganische Charakterologien propagierten und einen völkischen Gemeinschaftsgedanken betonten. Insgesamt war die Psychologie, die häufig mit der stark jüdisch geprägten Psychoanalyse gleichgesetzt wurde, den NS-Machthabern zwar suspekt, dennoch wurden z.B. völkische Rassegedanken von Psychologen in bestehende Persönlichkeitskonzepte integriert (Geuter 1985, Wolfradt 2017).

Es gibt einige Beispiele dafür, dass psychologische Wissenschaftler, die offensiv nationalsozialistisches Gedankengut vertraten, auch nach dem zweiten Weltkrieg wichtige akademische Positionen bekleideten. Hierzu gehört der bekannte Ausdruckspsychologe Philipp Lersch, der sich 1941 offen für das Euthanasieprogramm der Nazis ausgesprochen hatte, von 1942–1968 in München lehrte und von 1953–1955 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychologie war. Ein anderes Beispiel ist die Entwicklungspsychologin Hildegard Hetzer, die sich zwar zeitweise mit der NSFührung überwarf, aber dennoch 1942 Charaktergutachten über polnische Kinder erstellte, die über deren mögliche Umerziehung oder auch potenzielle Vernichtung entschieden. Sie wurde 1961 zur Psychologieprofessorin in Gießen berufen und erhielt zahlreiche Ehrungen und Preise.

Nur wenige PsychologieprofessorInnen wurden im Zuge der Entnazifizierung ihrer Hochschulämter enthoben. Insofern konnte gerade in den damaligen Westzonen von einer gewissen personellen und inhaltlichen Kontinuität von Lehre und Forschung seit der Zeit des Nationalsozialismus ausgegangen werden. Die seit 1941 bestehende und bis in das neue Jahrtausend fast unveränderte Diplomprüfungsordnung ist ein Ausdruck dieser Kontinuität (Häcker/Stapf 2009).

Während sich ansonsten in der Bundesrepublik Deutschland bis Ende der 1980er Jahre im psychotherapeutischen Bereich tiefenpsychologische, verhaltenstherapeutische, humanistische und familientherapeutische Verfahren nebeneinander entwickelten, dominierten in der ehemaligen DDR angelehnt an die sowjetische Ideologie zunächst Entspannungs- und Hypnoseverfahren. Psychoanalytische Verfahren waren verpönt, erst Anfang der 1970er Jahre lockerte sich dieses. Das Ausmaß an Bespitzelung durch PsychologInnen ist bis heute nicht bekannt, es ist aber gesichert, dass das Ministerium für Staatssicherheit Psychotherapeuten angeworben hat, um deren Patienten auszuspionieren (Sonnenmoser 2009).

1.6 Psychologie heute

Der Kanon der universitär gelehrten Psychologie besteht heute im Allgemeinen in der Lehre der Entwicklungspsychologie, Sozialpsychologie, Persönlichkeitspsychologie, der allgemeinen Psychologie, der pädagogischen Psychologie, der klinischen Psychologie, der biologischen Psychologie und der Arbeits- und Organisationspsychologie (Röhner/Schütz 2012). In der Bundesrepublik entwickelte sich in den 1970er Jahren maßgeblich um Klaus Holzkamp (2003) an der FU Berlin zusätzlich die kritische Psychologie, die sich programmatisch die Reflexion gesellschaftlicher Zwänge zum Ziel gesetzt hatte und insofern eine besondere Nähe zu Ansätzen der Sozialen Arbeit aufweist.

Heute beschäftigt sich die psychologische Forschung mit einer Vielzahl von Themen. Aus Perspektive der Sozialen Arbeit sind z.B. Erkenntnisse aus der Traumaforschung, die u.a. die Entdeckung von Körpergedächtnissymptomen und innerfamiliärem Missbrauch als Verursacher komplexer posttraumatischer Stress-Syndrome (Cole/Putnam 1992, van der Kolk 2000, Fegert 2015) hervorbrachte, sehr interessant. Seit ein paar Jahren verändern Erkenntnisse über die Bedeutung epigenetischer Kontrollmechanismen (Roth/Strüber 2014) – d.h., dass auch erworbene Eigenschaften an nächste Generationen vererbt werden können – den Blick auf individuelle Entwicklungsbedingungen. Aber auch die Weiterentwicklung der Neurowissenschaften und der Psychoimmunologie – also wie psychische Mechanismen das Immunsystem stärken oder auch schwächen können – geben einen Ausblick auf die Verwobenheit körperlicher, seelischer und kontextueller Faktoren.


Schönpflug, W. (2013): Geschichte und Systematik der Psychologie. 3. vollst. überarb. Aufl. Beltz, Weinheim

Walach, H. (2013): Psychologie. Wissenschaftstheorie, philosophische Grundlagen und Geschichte. Ein Lehrbuch. 3. überarb. und erw. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart

Was verstanden die Orphiker unter der Seele?

Wie werden die unterschiedlichen Temperamente laut den Safttheorien beschrieben?

Differenzieren Sie empiristische, rationalistische und hermeneutische Zugänge zu Erkenntnis.

Worin unterscheidet sich die allgemeine von der differentiellen Psychologie?

Skizzieren Sie die unterschiedlichen grundsätzlichen Fragen, die den Behaviourismus, die Psychoanalyse und den Kognitivismus beschäftigen.

2 Entwicklungspsychologie

Das Fachgebiet der Entwicklungspsychologie beschäftigt sich mit den Veränderungen und stabilen Faktoren menschlichen Erlebens und Verhaltens. Die Vorstellungen davon, wie Entwicklung sich zeigt und durch was sie verursacht wird, haben sich im 20. Jahrhundert stark verändert. Die moderne Entwicklungspsychologie betrachtet Entwicklung über die gesamte Lebensspanne, betont die Variabilität in Entwicklungsverläufen und versteht Entwicklung als kontextabhängig. Im Fokus dieses Kapitels steht zum einen die Betrachtung der unterschiedlichen Lebensalter. Hierzu zählen Entwicklungsfaktoren und Risiken in der Schwangerschaft, die frühe Entwicklung kognitiver, emotionaler und selbstregulatorischer Prozesse. Weiterhin werden die vielfältigen Transformationsprozesse im Jugendalter sowie die entwicklungsbezogenen Herausforderungen im mittleren und höheren Erwachsenenalter beschrieben. Zum anderen wird der Blick auf verschiedene Aspekte der sozioemotionalen Entwicklung gelenkt sowie auf die unterschiedlichen Kontexte und Rahmenbedingungen, die sich förderlich – oder eben auch nicht – auf die individuelle Entwicklung auswirken. Dazu zählt die Bindungsentwicklung, die die angeborene soziale Motivation beschreibt, nahe Beziehungen einzugehen sowie die Entwicklung von Mentalisierung und Empathie.

„Entwicklungspsychologen versuchen herauszufinden, wie Menschen sich unter verschiedenen Rahmenbedingungen entwickeln. Sie beachten dabei verschiedene Dimensionen, z.B. die kognitive, emotionale oder soziale Entwicklung. Von besonderer Wichtigkeit ist dabei, möglichst allgemeine Entwicklungsgesetze zu entdecken und die unterschiedlichen Bedingungen für gelingende Entwicklungsverläufe zu erfassen“ (Wälte et al. 2011, 15).

Ganz allgemein kann man sagen, dass sich Entwicklungspsychologie mit Veränderungen und Stabilitäten des menschlichen Erlebens und Verhaltens beschäftigt. Dabei betrachtet sie die innerhalb eines Individuums ablaufende Entwicklung (intraindividuell) und die Entwicklung mehrerer Menschen im Vergleich (interindividuell). Anhand des folgenden Fallbeispiels sollen die Nützlichkeit und Notwendigkeit entwicklungspsychologischer Kenntnisse in der Praxis der Sozialen Arbeit dargestellt werden:

Im Rahmen einer Supervision stellt eine Sozialarbeiterin den Fall der 4-jährigen Lisa dar, die sich in ihrer Kindergartengruppe auffällig verhält, indem sie sich sehr zurückgezogen zeigt, sich kaum verbal äußert und sich von der Erzieherin nur schwer in das Gruppengeschehen integrieren lässt. Die Sozialarbeiterin hat nun die Aufgabe, Lisa in ihren sozialen Kompetenzen zu fördern. Aus der Vorgeschichte des Mädchens wird deutlich, dass es in der 25. Schwangerschaftswoche als sehr frühe Frühgeburt zur Welt kam und beide Eltern drogenabhängig waren. Die leibliche Mutter, die zum Zeitpunkt der Geburt noch minderjährig war, brachte den drei Monate alten Säugling zu ihrer Mutter, die sich seitdem um das Kind kümmert. Lisa erhielt Physio-, Ergo- und Logopädie und wird von beiden Großeltern liebevoll und innig betreut, wobei beide selbst sozial sehr zurückgezogen leben und andere Menschen so gut wie nie zu Besuch kommen. In der Videoaufnahme einer Spielsituation eines Regelspiels, die die Sozialarbeiterin mit in die Supervision bringt, wird deutlich, dass Lisa ihrer Spielkameradin im Zählen und auch im Begreifen des Spielverlaufs kognitiv weit überlegen ist, das andere Mädchen aber hohe soziale und verbale Kompetenzen zeigt, in dem es z.B. laut überlegt, wie es jetzt wohl weiterspielen könne, und Lisa auch um Hilfe bittet.

Um Lisa unterstützen zu können, muss die Sozialarbeiterin u.a. die besonderen Entwicklungsbedingungen, die Lisa geprägt haben, verstehen und einordnen können. Auf welchem Entwicklungsstand ist Lisa, und wie stellt sich dieser im Vergleich zu anderen Kindern dar?

Im Falle von Lisa sind relevante Rahmenbedingungen z.B. ihre frühe Geburt in der 25. Schwangerschaftswoche und der Drogenkonsum ihrer leiblichen Mutter einerseits und die sehr gute und stabile Bindung an die Großmutter sowie die diversen Förderungen durch Physio-, Ergo- und Logopädie andererseits. Lisa entwickelt sich in den einzelnen Funktionsbereichen (sozial, kognitiv, emotional, motorisch) unterschiedlich; so ist sie kognitiv ihrer Spielkameradin überlegen, im sozialen Bereich hingegen hat sie noch Nachholbedarf. Warum diese Aspekte aus entwicklungspsychologischer Perspektive relevant sind und warum die Fachkraft aus der Sozialen Arbeit sie benötigt, um Lisa und ihre Familie adäquat in ihrem Umfeld unterstützen zu können, wird in den folgenden Kapiteln deutlich.

2.1 Entwicklungspsychologie in der Sozialen Arbeit

Entwicklungspsychologische Kenntnisse sind im Feld der Sozialen Arbeit vor allem aus zwei Gründen hoch relevant. Der erste Grund bezieht sich auf die lebensalterbezogenen Bedürfnisse und auf anstehende Entwicklungsaufgaben. Der Psychoanalytiker Erik Erikson (1902–1994) entwarf ein Stufenmodell psychosozialer Entwicklung (Erikson 1988), bei dem er jedem Lebensalter bestimmte Themen zuordnete, die im Spannungsfeld zwischen individuellen Bedürfnissen und den umweltbedingten Anforderungen entstehen. Im ersten Lebensjahr manifestiert sich dieses Spannungsfeld beispielsweise zwischen Ur Vertrauen vs. Ur Misstrauen, d.h., in dieser Phase entscheidet sich, ob das Kind von seiner Umwelt so getragen und versorgt wird, dass es ein grundsätzliches Vertrauen in menschliche Beziehungen entwickeln kann. Auch wenn die von Erikson beschriebenen Stadien auf Grund der heutigen Diversität von Biographien mittlerweile sehr normativ erscheinen, sind viele der genannten Spannungsfelder nach wie vor aktuell und werden von aktuellen bindungstheoretischen Befunden (s. Kapitel 2.3) gestütztss.

Das Konzept der Entwicklungsaufgaben wurde erstmals von Robert J. Havighurst (1948/1982) beschrieben und betrachtet das Leben unter dem Fokus einer Abfolge von zu bewältigenden Anforderungen. Anstehende Entwicklungsaufgaben werden im Wechselspiel zwischen äußeren bzw. inneren Anforderungen von Kindern und Jugendlichen je nach der physischen Reife, des kulturellen Drucks und individueller Zielsetzungen und Werte gelöst (Petermann et al. 2004, Resch 1999). Das erfordert die Fähigkeit zur Selbstregulation, d.h., Kinder und Jugendliche müssen sich angesichts der Konfrontation mit den unterschiedlichen Anforderungen immer wieder mit bestimmten Gefühlen – z.B. Überforderungsgefühle,Ängste – auseinandersetzen und dennoch handlungsfähig bleiben.

Bei der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, aber auch bei der Arbeit mit älteren Menschen sind also bestimmte von den Klienten zu leistende Entwicklungsaufgaben zu berücksichtigen. Bei kleineren Kindern, wie bei Lisa, zählt die Integration in die Kindergartengruppe dazu, bei Schulkindern der regelmäßige Schulbesuch und eine Konzentrationsleistung über 45 Minuten und bei Jugendlichen eine zunehmende Verselbständigung. In der Phase der Adoleszenz vollziehen sich komplexe körperliche, geistige und seelische Veränderungen, die einen Übergang zum Erwachsenwerden markieren (Fend 2013). Dazu zählen neben Ablösung und dem Eingehen neuer Bindungsbeziehungen u.a. auch die Aufgaben von Bildungsnotwendigkeit und Qualifikation, die Entwicklung einer Zukunftsperspektive, von Verantwortlichkeit, von Partizipation, sprich der Ausbildung eines ethischen und politischen Bewusstseins (Albert et al. 2010, Resch/Lehmkuhl 2015). Bei älteren Menschen zählt die Auseinandersetzung mit dem drohenden oder bereits erfolgten Verlust bestimmter Fähigkeiten zu den zentralen Herausforderungen (Lindenberger 2012); darüber hinaus kann aber auch die Ausbildung von Generativität eine wichtige Entwicklungsaufgabe in diesem Lebensabschnitt darstellen:

„Gemeint ist die aktive Sorge um die nachfolgende Generation mit der angestrebten Verbesserung ihrer Lebensbedingungen und Chancen. Dies beinhaltet die Fähigkeit, von sich selbst absehen zu können, für andere da zu sein und das erworbene Wissen und die Erfahrungen in eine Art ‚Weltverbesserung‘ einzubringen“ (Rass 2011, 156)

Diverse biologisch, psychologisch oder sozial bedingte Gründe können dazu führen, dass Menschen Schwierigkeiten haben, Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Diese Schwierigkeiten bestimmen zu einem nicht geringen Anteil den Unterstützungsbedarf durch Fachkräfte der Sozialen Arbeit. Störungen in der Entwicklung oder auch manifeste psychische Störungen können insbesondere bei Kindern und Jugendlichen oftmals als Ausdruck von Überforderung verstanden werden, wenn die erforderliche Selbstregulation unter komplizierten und vielschichtigen inneren und äußeren Umständen nicht mehr symptomfrei geleistet werden kann (Resch 1999, Metzmacher 2004).

„Aus dem Blickwinkel der Entwicklungspsychopathologie liegt der Schlüssel für das Verständnis einer gegebenen Störung darin, sie vor dem Hintergrund der wesentlichen Themen derjenigen Entwicklungsperiode, in der sie auftritt, zu betrachten, und nach misslungenen Anpassungsversuchen die wesentlichen Themen dieser und/oder früherer Entwicklungsperioden zu suchen“(Marvin 2003, 111f.).

Störungen können somit auch als „kompetente Lösungsversuche“ (Marvin 2003) angesehen werden, um sehr ungünstige Umweltbedingungen individuell zu kompensieren. Bei Lisa kann ihre soziale Zurückgezogenheit z.B. als Versuch angesehen werden, sich selbst am besten zu schützen; auch diese Komponente sollte bei der Auswahl möglicher Hilfen berücksichtigt werden.

Der zweite Grund, warum entwicklungspsychologische Kenntnisse für Fachkräfte der Sozialen Arbeit wichtig sind, besteht in der Fähigkeit zur Differenzierung zwischen entwicklungsangemessenen bzw. erwartbaren Verhaltensweisen und überfordernden bzw. unterfordernden Ansprüchen an die jeweiligen Menschen. Die Erwartung von Eltern, dass ihr drei Monate altes Kind durchschläft, ist zwar ausgesprochen verständlich, aber aus entwicklungspsychologischer Perspektive nicht angemessen. Gleichzeitig kann einem 12-jährigen Kind in der Regel zugemutet werden, allein zur Schule zu gehen und nicht von seinen Eltern ständig begleitet zu werden. Entwicklungspsychologie bietet somit eine normative Orientierungsfolie, auch wenn diese, wie in Lisas Fall, durchaus kritisch zu hinterfragen ist. Auf Grund von Lisas biologischer Vorgeschichte ist z.B. nicht zu erwarten, dass sie mit vier Jahren bereits in allen „Funktionsbereichen“ altersentsprechend entwickelt ist.

2.2 Der Entwicklungsbegriff und Entwicklungsmodelle

„Es kann schon nicht alles so bleiben

Hier unter dem wechselnden Mond

Es blüht eine Zeit und verwelket

Was mit uns die Erde bewohnt […]“ (August von Kotzebue, 1802).

Vereinfacht könnte man sagen, dass Entwicklung Veränderung über die Zeit bedeutet. Die meisten EntwicklungspsychologInnen gehen allerdings davon aus, dass es sich dabei um Veränderungen handelt, die lebensalterbezogen, langfristig und geordnet verlaufen (Ulich 2005). Nach dieser Auffassung wäre also eine kurzfristige Veränderung des Gemütszustandes, wie z.B. eine depressive Episode, keine Entwicklung. Hingegen ist eine fortschreitende Erkrankung im höheren Lebensalter, wie z.B. Demenz, durchaus als Entwicklung zu verstehen.

Ein erweiterter Entwicklungsbegriff beinhaltet alle längerfristig wirksamen Veränderungen von Kompetenzen, also alle bleibenden sowie kurzzeitigen Veränderungen, die weitere Veränderungen nach sich ziehen (Flammer/Alsaker 2002).

Es gibt sehr unterschiedliche Vorstellungen und Ideen davon, wie Entwicklung von statten geht. Dies wird beispielhaft deutlich an unterschiedlichen Vorstellungen von Kindheit und des angemessenen Umgangs mit Kindern (Ariès 1975; deMause 1989; Dornes 2012). Philipp Ariès zeichnet in seinem berühmten Buch „Geschichte der Kindheit“ (1975) den Wandel des Kindheitsbegriffs nach und macht die Relativität und die historische Eingebundenheit des Begriffs der Kindheit, so wie wir ihn heute verstehen, deutlich. Nach dem Historiker Lloyd deMause (1989) ist das Verständnis von Kindheit und den Bedürfnissen von Kindern bis ins 20. Jahrhundert zum einen als eine Art Abnahme eines Alptraums zu verstehen. Dieser reichte von systematischen Kindermorden in der Antike (Herodes) über die in manchen Ländern bis heute bestehende gnadenlose Ausbeutung von Kindern als Arbeitskraft bis hin zur gesetzlichen Ächtung von Gewalt in der Erziehung in Deutschland im Jahre 2000 der Erziehung. Zum anderen weist Martin Dornes (2012) darauf hin, dass Kinder zwar zum einen kontinuierlich mehr Rechte erhielten, aber dafür umso mehr an Freiheiten einbüßten.

Im 17. und 18. Jahrhundert herrschte die Vorstellung vor, dass das Kind ein kleiner Erwachsener sei und keiner spezifischen Lebensräume bedürfe. Eine andere Idee, die vor allem in der christlichen Religion wurzelte, implizierte, dass Kinder eher einen schlechten Kern haben und vor allem bestraft werden müssen – hier spricht man von dem sogenannten „Erbsündemodell“. Jean Jacques Rosseau, einer der wichtigsten Philosophen und Pädagogen der Aufklärung (1712–1778), vertrat hingegen die Auffassung, dass der Mensch und somit auch das Kind von Natur aus gut sei, und im Wesentlichen vor äußeren und somit auch vor erzieherischen Einflüssen geschützt werden müsse. Heute herrscht in der westlichen Welt in der Regel das Bild vom Kind als einer aktiv handelnden Persönlichkeit, das in seiner Kompetenzentwicklung umfassend gefördert und begleitet werden sollte (Hédervári-Heller 2011).

Eine Kernfrage aller Entwicklungsmodelle beschäftigte sich damit, ob die Entwicklung von inneren oder äußeren Kräften gelenkt wird. Auch in der Sozialen Arbeit ist diese Frage immer dann von Bedeutsamkeit, wenn es um die Möglichkeiten von äußerer Einflussnahme bzw. Hilfe und Unterstützung von verschiedenen Zielgruppen geht. Historisch bedeutsam sind dabei zwei entgegengesetzte Modelle: das endogenistische und das exogenistische Entwicklungsmodell. Beide Modelle wurden Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts vertreten und prägten die damaligen Vorstellungen von Entwicklungspsychologie.

Das endogenistische Entwicklungsmodell stellte Entwicklung phasenhaft in mehreren irreversiblen Schritten ablaufend dar, an deren Ende ein abgeschlossener Reifezustand vorlag. Die einzelnen Phasen wurden im Kindesalter bildhaft benannt – der Greifling, der Läufling, das Schimpansenalter, das Alter der Namensfragen/ Warumfragen, das Märchenalter, die Schulreife. Teile dieser mittlerweile in seiner Absolutheit überholten Vorstellung finden sich nach wie vor in verschiedenen pädagogischen Konzepten, so z.B. in der Waldorfpädagogik oder auch übergreifend in der Feststellung der Schulreife.

Das exogenistische, auch als Tabula-Rasa-Modell bezeichnete Modell, findet seine Wurzeln vor allem im Behaviourismus (s. Kapitel 3.6.2 und 6.5). Es geht davon aus, dass Kinder ohne jegliche Anlagen auf die Welt kommen und durch Erziehung in jede beliebige Richtung geformt werden können. Nach dieser Vorstellung gibt es keine festgelegten Abläufe, sondern Entwicklung wird als Lernfortschritt betrachtet – Dinge können beliebig gelernt oder auch wieder verlernt werden. Auch dieses Modell ist mittlerweile in seinem Absolutheitsanspruch überholt (Wicki 2015). Teile davon finden sich aber noch immer in eher verhaltensorientierten Konzepten von Heimeinrichtungen oder Jugendwohngruppen, die vor allem mit Lob und Strafe in sogenannten Verstärkerprogrammen (s. Kapitel 3.6.3) arbeiten.

Insgesamt werden beide Entwicklungsmodelle – das endogenistische und das exogenistische – mittlerweile als zu universalistisch beurteilt, weil sie z.B. zu wenig kulturelle und individuelle Unterschiede berücksichtigen. Zudem konzentrierten sich beide Entwicklungsmodelle sehr auf die Kindheit und Jugend und beinhalten tendenziell starre und normative Vorstellungen von Entwicklungsverläufen (Montada et al. 2012).

Die moderne Entwicklungspsychologie betrachtet Entwicklung über die gesamte Lebensspanne und bezieht differentielle Entwicklungen ein. Zudem wird Entwicklung in viel stärkerem Maße kontextabhängig und als von den sozialen Versorgungssystemen abhängig verstanden. So weiß man beispielsweise, dass Armut ein wesentliches Entwicklungsrisiko darstellt (Weiß 2010).

„Die Entwicklungspsychologie der Lebensspanne hat eine Erkenntnis in aller Schärfe deutlich gemacht: Die differenziellen Unterschiede im Lebenslauf beziehen sich nicht nur auf die Variabilität zwischen Kulturen, Subkulturen oder sozialen Gruppen, sondern auch auf die Unterschiede zwischen unterschiedlichen Generationen. Sexualität beispielsweise ist heutzutage von einem Jugendlichen in anderer Weise zu bewältigen als früher, ebenso wie etwa das Altern heute andere Anforderungen an die Menschen stellt als an Angehörige früherer Generationen. Von Generation zu Generation sind nur beschränkte Schlussfolgerungen möglich. So wird Entwicklungspsychologie auch immer eine ‚unendliche Geschichte‘ sein“ (Langfeldt/Nothdurft 2015, 73).

Ein aktuelles und für die Soziale Arbeit anschlussfähiges Entwicklungsmodell ist das biopsychosoziale Entwicklungsmodell (Fröhlich Gildhoff 2013). Die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben und aktuellen Anforderungen ist demzufolge abhängig von

biologischen Bedingungen (Genen, Temperament, Schwangerschaft, Geburtsumständen),

psychischen Strukturen (Emotions- und Reizregulation) und

sozialen Umständen (Bindungserfahrungen etc.).

Im Falle von Lisa wäre also ihre Entwicklung maßgeblich von dem Drogenkonsum ihrer Mutter während der Schwangerschaft und ihrer Frühgeburt (biologische Bedingungen), ihrer guten Emotionsregulation (psychische Strukturen) sowie vom Abbruch der Mutter-Kind-Beziehung einerseits und der verlässlichen sowie warmherzigen Beziehung zu den sozial zurückgezogen lebenden Großeltern andererseits (soziale Umstände) geprägt.

In diesem Modell wird der Mensch als erkennender und potenziell reflektierender Mitgestalter seiner Entwicklung angesehen, der sich ein Bild von sich selbst und seiner Umwelt macht und bei neuen Erfahrungen modifiziert. Dabei wird nicht nur dem Entwicklungssubjekt, sondern auch den Entwicklungskontexten und den in diesen agierenden Menschen gestaltender Einfluss auf die Entwicklung zugeschrieben.

2.3 Bindung

Das Konstrukt der Bindung soll aus folgenden Gründen unter der entwicklungspsychologischen Perspektive einigermaßen gründlich erläutert werden: Ein Großteil Sozialer Arbeit manifestiert sich in psychosozialen Hilfeprozessen, die von Beziehungen getragen sind. Dabei

„[…] lässt sich für das Gelingen eines psychosozialen Hilfeprozesses eine authentische, emotional tragfähige, persönlich geprägte und dennoch reflexiv und fachlich durchdrungene Beziehungsgestaltung herauskristallisieren, die sich inmitten des Lebensalltags der AdressatInnen entfaltet“ (Gahleitner 2017, 234).

Bei dieser professionellen Beziehungsgestaltung mit KlientInnen sind SozialarbeiterInnen in der Regel permanent mit zwei Bindungssystemen konfrontiert: mit ihrem eigenen und mit dem ihrer KlientInnen. Das Bindungssystem meint die angeborene Motivation, in bedrohlich erlebten Situationen, die Nähe oder den Schutz einer vertrauten Person aufzusuchen.

Aber was bedeutet Bindung überhaupt?

2.3.1 Der Bindungsbegriff

Bindung beschreibt die angeborene soziale Motivation, Beziehungen zu anderen emotional nahe stehenden Menschen einzugehen (Bowlby 1969, Bischof 1989). Im Englischen wird zwischen „bonding“ (emotionale Bindung der Eltern an das Kind) und „attachment“ (emotionale Bindung des Kindes an seine Bezugsperson) differenziert. Das Bonding wird hormonell vorbereitet und zeitbegrenzt in den ersten Minuten nach der Geburt ausgelöst; dieses ist eine sensible Phase für den Prägungsvorgang und der Grund dafür, dass heutzutage in den meisten deutschen Krankenhäusern viel Wert darauf gelegt wird, den Kontakt zwischen Mutter und Kind unmittelbar nach der Geburt möglichst wenig zu stören.

Das Bedürfnis nach Bindung ist komplementär zu dem Bedürfnis nach Exploration – also der Wunsch, die Welt zu erkunden – und Autonomie zu verstehen. Die Herstellung der Ausgewogenheit beider Bedürfnisse gilt als eine lebenslange Entwicklungsaufgabe (Rass 2011).

Alle Kinder entwickeln im Verlaufe des ersten Lebensjahres eine oder mehrere enge Bindungen zu nahestehenden Personen. Ausgenommen davon sind Kinder, deren kognitives Entwicklungsniveau das von sechs Monaten nicht überschreitet, sowie schwer vernachlässigte Kinder. Im günstigen Fall hat das Kind bis zum Beginn des dritten Lebensjahres eine „sichere“ Bindung (s. Kapitel 2.3.2) zu einer oder mehreren zentralen Bezugspersonen aufgebaut.

„Das Kind sollte bis dahin eine emotionale Repräsentation der Bindungsperson entwickelt haben; diese ermöglicht es ihm zum einen, bei Angst und Gefahr zur Bindungsperson zu laufen und dort wie in einem ‚sicheren Hafen‘ Schutz zu suchen, und sorgt zum anderen dafür, dass das Kind innerlich auf die emotional positive Erfahrung von Schutz und Geborgenheit aus vielen solchen früheren Erlebnissen zurückgreifen und sich durch den Rückgriff und die Erinnerung an das gute Gefühl bei Aktivierung der Bindungsrepräsentation emotional selbst beruhigen kann“ (Brisch 2015, 40).

2.3.2 Bindungsstile

In der Bindungstheorie wird zwischen unterschiedlichen Bindungsstilen unterschieden. Diese Unterscheidung geht auf die Bindungsforscherin Mary Ainsworth zurück, die den sogenannten „Fremde Situations Test“ (1974/2011) entwickelte, bei dem sie das Verhalten von Kindern im Alter zwischen 12 und 18 Monaten in kurzen experimentell hergestellten Trennungssituationen beobachtete. Dabei kristallisierten sich drei unterschiedliche Bindungsstile heraus, die alle als Variationen eines normalen Bindungsverhaltens angesehen werden.

Als Typ A gilt der unsicher–vermeidende Bindungsstil – Mary Ainsworth ging davon aus, dass dieser Stil sich am häufigsten manifestieren würde, was sich aber nicht bewahrheitete. Die auf diese Weise gebundenen Kinder reagieren vermeintlich „cool“ auf die Trennung von der Bezugsperson, explorieren ungerührt weiter und zeigen keine besondere Reaktion nach Wiederkehr der Bezugsperson. Bei hormonellen Messungen am Hautwiderstand wurde aber deutlich, dass diese Kinder sehr wohl in dieser Trennungssituation Stress erleben, aber bereits Ende des ersten Lebensjahrs in der Lage sind, ihre Gefühle zu maskieren.