Kitabı oku: «Grundkurs Psychologie für die Soziale Arbeit», sayfa 3

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Martin Dornes (2012) beschreibt, dass Kinder bereits mit neun Monaten „Mentalisten“ seien, also in der Regel hoch interessiert daran sind, die Einstellungen anderer Menschen in deren Gesichtern zu lesen. Die Reaktion des Maskierens erklärt man sich in etwa auf diese Weise: Unsicher-vermeidend gebundene Kinder „lesen“ aus den Reaktionen ihrer Bezugspersonen, dass ein autonomes und gefühlsverbergendes Verhalten ein adäquates und gewünschtes Verhalten sei. Noch in vielen Kindertageseinrichtungen gelten die Kinder, die in Trennungssituationen „nicht so viel Theater“ machen, als die pflegeleichten und sich richtig verhaltenden Kinder. Auch in einigen afrikanischen Ländern scheint die Variante eines eher passiven und emotionslosen Babys und Kleinkindes populärer. Das Kind ist dann durch sein ruhiges Verhalten besser von anderen zu beaufsichtigen; Weinen oder Schreien gilt eher als Zeichen für eine ernsthafte Gefährdung (Atabavikpo Lochmann 2015).

Als Typ B gilt der sicher gebundene Bindungsstil – etwa 60–70 % aller Kinder sind den meisten Studien zufolge diesem Stil zuzurechnen. Sicher gebundene Kinder reagieren in der Regel mit deutlichen Emotionen (Weinen oder Schreien) auf die Trennung von der Bezugsperson, lassen sich dann beruhigen und reagieren mit klar erkennbarer Freude auf die Wiederkehr der Bezugsperson. Gegen Ende des zweiten Lebensjahres verhalten sich sicher gebundene Kinder überwiegend kooperativ. Zu der Entwicklung eines sicheren Bindungsstils gehört die elterliche Feinfühligkeit bzw. die intuitive Elternschaft, die sich bei einem Großteil der Eltern als Anpassungsleistung nach der Geburt einstellt (Papoušek/Papoušek 1987) und auf die im nächsten Abschnitt (2.3.3) eingegangen wird.

Der Typ C wird als unsicher-ambivalenter Bindungsstil bezeichnet. Die betroffenen Kinder reagieren ebenfalls wie sicher gebundene Kinder deutlich erkennbar auf die Trennung, lassen sich dann aber nicht beruhigen und bleiben auch bei der Wiederkehr der Bezugsperson eher in der negativen Emotion. Häufig korreliert dieser Bindungsstil mit trennungsängstlichen oder zumindest sehr trennungsambivalenten Bezugspersonen.

Später wurde von Mary Main und Judith Solomon (1986) auch der sogenannte desorganisierte Bindungsstil (Typ D) klassifiziert. Dieser zeigt sich in einem äußerst wechselhaften, nicht eindeutigen Bindungsverhalten und geht z.T. mit plötzlichem Erstarren und eingefrorener Mimik einher. Er taucht bei ca. 5–10% der beobachteten Kinder auf und wird im Zusammenhang mit traumatisierenden Erlebnissen, Misshandlung oder auch chronischer Vernachlässigung gesehen.

Von den Bindungsstilen zu unterscheiden sind Bindungsstörungen, die in kinderpsychiatrische Diagnosesysteme einzuordnen sind. Hierzu zählt beispielsweise die reaktive Bindungsstörung, die von Angst und großer Zurückhaltung gegenüber Erwachsenen geprägt ist, und die Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung, die sich in Distanz- und Wahllosigkeit in Zuwendungsbezeugungen gegenüber Erwachsenen manifestiert. Letztere tritt des Öfteren bei stark deprivierten und vernachlässigten Kindern auf, die schon viele Wechsel ihrer Bezugspersonen erfahren mussten.

„Das Muster der sicheren Bindung wird als adaptiv für eine gesunde Entwicklung betrachtet. Trotzdem handelt es sich bei den bisher beschriebenen unsicheren Bindungsmustern und auch bei der Bindungsdesorganisation nicht um pathologische Muster, sondern um Varianten von Bindungsmustern, die innerhalb eines normalen Verhaltensspektrums angesiedelt werden können“ (Spangler 2011, 284).

Sichere oder unsichere Bindungsstile sind das Ergebnis gemeinsamer und individuell unterschiedlicher Interaktionserfahrungen. Sie können auch von Bezugsperson zu Bezugsperson variieren, sind geronnene Beziehungserfahrungen und nicht als stabile Eigenschaftsbeschreibungen zu betrachten. Frühe Bindungserfahrungen sind zwar für die spätere Entwicklung hoch bedeutsam. Dennoch kann das innere Arbeitsmodell von Bindung sich durch spätere positive Beziehungserfahrungen positiv oder durch das Auftreten schwerer Belastungen im späteren Leben auch negativ verändern (Seiffge-Krenke 2015). Bindungsprozesse werden als mentale Arbeitsmodelle etwa ab Mitte des zweiten Lebensjahres gespeichert – dieses geht auch mit dem Beginn des Spracherwerbs einher; mit fünf Jahren sind sie meist entwickelt und bilden das Bindungssystem.

2.3.3 Das Konzept der elterlichen Feinfühligkeit

Elterliche Feinfühligkeit setzt sich aus drei Komponenten zusammen:

a. Wahrnehmung der Signale des Kindes

b. angemessene Interpretation dieser Signale

c. angemessene und prompte Reaktion auf diese Signale

Bei einem Säugling sollte im Sinne von Feinfühligkeit auf die Bedürfnisäußerung – beispielsweise Schreien wegen Hungers – direkt geantwortet und sofern möglich auch mit sofortiger Bedürfnisbefriedigung gehandelt werden. Bei einem Kind um das erste Lebensjahr herum würde feinfühliges Handeln dagegen bedeuten, zwar direkt auf die Bedürfnisäußerung des Kindes zu antworten, aber je nach Situation nicht unbedingt gleich zu handeln und das Bedürfnis umgehend zu befriedigen (also nicht sofort unbekleidet und nass aus der Dusche zu springen, wenn das Kleinkind Hunger äußert).

Zu diesen feinfühligen Kompetenzen gehört es auch, dem Kind markiert seine Gefühle zu spiegeln. Das bedeutet, dem Kind durch Gestik, Mimik und Worte zu verstehen zu geben, dass man seine akute Not (z. B. Hunger, Schmerz, Müdigkeit) versteht, aber nicht teilt, und darum in der Lage ist, das Kind zu trösten. Das Kind bekommt somit seine Gefühle zum einen als seine eigenen und zum anderen als vom Gegenüber aushaltbar gespiegelt. Diese markierte Spiegelung ist zentral für die Ausbildung der Mentalisierungsfähigkeit, auf die unter Kapitel 2.6.1 eingegangen wird.

Etwa dreiviertel aller Eltern verfügen über derlei intuitive kommunikative Kompetenzen. Auch Geschwisterkinder können etwa ab dem 4. Lebensjahr im Umgang mit dem jüngeren Geschwisterkind Feinfühligkeit zeigen. Einige Eltern, beispielsweise depressiv erkrankte Elternteile, haben jedoch Schwierigkeiten, feinfühlig gegenüber ihren Kindern zu agieren (Murray 2011).

Lange Zeit ging es bei dem Konstrukt der Feinfühligkeit immer nur um die mütterliche Feinfühligkeit. Heute wird zwischen einem mütterlichen und einem väterlichen feinfühligen Interaktionsstil unterschieden – wobei diese Bezeichnungen insofern missverständlich sind, als dass sie nicht geschlechtsgebunden sind. Der sogenannte mütterliche Interaktionsstil, den aber auch Männer praktizieren können, zeichnet sich eher durch Konventionalität, Fürsorglichkeit und Sicherheit aus. Der sogenannte väterliche Interaktionsstil, den ebenso auch Mütter verfolgen können, manifestiert sich in unkonventionellem, das Erregungsniveau stimulierendem Verhalten (Grossmann/Grossmann 2006).

Ein wesentlicher Faktor für die Interaktion zwischen Eltern und Kind ist aber nicht nur die elterliche Feinfühligkeit, sondern u.a. auch der Gesundheitszustand und das Temperament des Kindes (Bindt 2003); alle diese Faktoren haben durchaus Auswirkungen auf den jeweiligen Bindungsstil der Kinder. In der Temperamentsforschung werden drei Temperamentsdimensionen unterschieden (Elsner/Pauen 2012):

a. das einfache Temperament (easy babies): Dazu zählen die sogenannten „Sonnenscheinkinder“ – explorativ, freundlich, mit hoher Selbstregulationsfähigkeit und kontaktsuchend.

b. das langsam auftauende Temperament (slow-to-warm-up babies): Diese Kinder verhalten sich eher zurückgezogen und beobachtend, verfügen über eine hohe Selbstregulationsfähigkeit und sind wenig reizoffen.

c. das schwierige Temperament (difficult babies): diese Kinder sind oftmals sehr explorativ, haben aber eine niedrige Selbstregulationsfähigkeit und sind sehr reizoffen; zu ihnen zählen die sogenannten „Schreibabys“.

Wichtig hierbei zu beachten ist die Passung bzw. das Zusammentreffen der unterschiedlichen Faktoren. So ist es auch für feinfühlige Eltern herausfordernder, eine sichere Bindung mit einem Kind mit einem schwierigen Temperament einzugehen; dennoch kann dieses durchaus gelingen. Wenn jedoch Eltern, die nur über geringe intuitive kommunikative Kompetenzen verfügen, ein Kind mit einem schwierigen Temperament haben, ist das Risiko für eine unsichere Bindung bzw. auch für die Entwicklung einer Bindungsstörung durchaus erhöht.

2.3.4 Bindungsstile im Erwachsenenalter

Zur Untersuchung von Bindungsstilen im Erwachsenenalter – hier spricht man von Bindungseinstellung – entwickelte Mary Main das Adult Attachment Interview (AAI) (Gloger-Tippelt 2012). Hierbei zeigten sich ähnliche Unterschiede wie bei Kindern. So konnten die autonome Bindungseinstellung, die distanziertbeziehungsabweisende Bindungseinstellung, die präokkupiertverstrickte Bindungseinstellung und die vom unverarbeiteten Objektverlust geprägte Bindungseinstellung unterschieden werden (Grossmann/Grossmann 2006).

Die autonome Bindungseinstellung von Eltern, die eine realistische und nicht idealisierende Erinnerung an die eigene Kindheit sowie positive und negative reflektierte Gefühle gegenüber Bindungspersonen umfasst, korrelierte überwiegend mit dem sicher gebundenen Bindungsstil ihrer Kinder.

Eltern mit distanziert beziehungsabweisender Bindungseinstellung haben oft viele Erinnerungen an ihre eigene Kindheit verdrängt, idealisieren diese, betonen ihre eigene Unabhängigkeit und Stärke und beharren darauf, dass es ihnen an nichts gefehlt habe. Dieser Bindungsstil korreliert mit dem unsicher-vermeidend gebundenen Bindungstyp bei Kindern.

Die präokkupiert-verstrickte Bindungseinstellung ist durch eine übermäßig detaillierte und wenig distanzierte Erinnerung an die eigene Kindheit sowie eine noch starke Abhängigkeit gegenüber den ursprünglichen Bindungspersonen gekennzeichnet. Elternteile mit der präokkupiert-verstrickten Bindungseinstellung haben oft unsicher-ambivalent gebundene Kinder mit erschwerten Ablöseprozessen.

Menschen mit einer von einem unverarbeiteten Objektverlust geprägten Bindungseinstellung haben oftmals schwere traumatisierende Verlusterlebnisse in ihrer Kindheit erfahren, die sie nicht bearbeiten konnten; dieses kann sich dann auch transgenerational in einem desorganisiert gebundenen Bindungsstil ihrer Kinder fortsetzen.

2.3.5 Die Relevanz des Bindungssystems

Bindungen werden als dauerhafte, dyadische Beziehungen definiert und werden nicht nur für die frühe Kindheit angenommen, sondern für den gesamten Lebensverlauf. Nicht jede Bezugsperson wird zur Bindungsperson, aber ein Kind ist in der Regel an mehr Personen gebunden, als nur seine Eltern.

In vertrauten Situationen und bei ausgeglichener Befindlichkeit gehen Kinder eher dem Interesse nach Neuem nach; in unvertrauten Situationen überwiegt das Bedürfnis nach emotionaler Sicherheit und sie suchen Rückhalt bei den Menschen, zu denen sie eine sichere Bindung entwickelt haben. Dieses lässt sich auch auf das Erwachsenenalter übertragen: In einer Erstsemesterveranstaltung werden die Studierenden vorrangig das Bedürfnis haben, mit ihnen vertrauten Menschen zusammenzusitzen – im letzten Semester ist das Bedürfnis, sich nach außen und beispielsweise in Richtung Berufswelt zu orientieren, meistens relativ groß.

Eine Bindungsperson qualifiziert sich dadurch, dass sie vom Kind als personifizierte emotionale und empathische Sicherheitsquelle identifiziert wird, von der aus das Kind, je nach Situation und Kontext, regelmäßig exploriert und zurückkehrt, um emotional aufzutanken. Ein typisches Beispiel ist das von der Bezugsperson wegrobbende und sich doch immer wieder umdrehende Kleinkind, das sich auf diese Weise der Anwesenheit und der Aufmerksamkeit durch die Bezugsperson versichert. In Situationen der Verunsicherung und Angst wird das Bindungssystem aktiviert, d.h., Menschen suchen entsprechend ihres Bindungsstils besondere Nähe oder besondere Distanz zu den relevanten Bezugspersonen. Aus diesem Grunde begegnen SozialarbeiterInnen ihren KlientInnen auch oft in solchen Situationen, in denen deren Bindungssystem aktiviert ist – d.h. also in Notsituationen oder in Momenten, die von gefühlter oder realer Bedrohung geprägt sind.

In einer Hilfekonferenz für den zwölfjährigen Max, an dem die zuständige Jugendamtsmitarbeiterin, der Bezugserzieher der Jugendwohngruppe, Max und seine Eltern und deren Familientherapeutin teilnehmen, geht es um die Frage, wann und unter welchen Umständen Max wieder zu Hause wohnen darf. Max lebt wegen seines aggressiven Verhaltens, das sich in unkontrollierbaren Wutausbrüchen und verbalen Attacken gegen seine Mutter manifestiert, seit einem halben Jahr in der Wohngruppe. Er möchte sehr gern wieder zu Hause wohnen, auch seine Eltern wollen ihn wieder bei sich zu Hause aufnehmen, sie leben aber in furchtsamer Erwartung vor dem nächsten Wutausbruch. Bei einer probeweisen Beurlaubung, bei der Max unter dem Druck steht, sich „adäquat“ zu benehmen, trägt sich folgende Situation zu: Max will mit seiner Mutter am Sonntagmorgen Hausaufgaben machen. Diese stellt die Bedingung, dass er sich dazu anzieht. Max will die Hausaufgaben aber im Schlafanzug machen. Es kommt zum Streit und die Mutter verlässt abrupt das Zimmer. Daraufhin eskaliert die Situation, Max randaliert in seinem Zimmer und die Beurlaubung wird vorzeitig abgebrochen.

Dieses Beispiel stellt die Aktivierung einer Bindungsreaktion in einer für Max bedrohlichen Situation dar. Die bedrohliche Situation besteht zum einen darin, dass Max sich generell in seinen Rückkehrwünschen bedroht sieht, da hierzu noch keine verlässliche Entscheidung getroffen wurde. Zum anderen werden in dem plötzlichen Akt des Zimmer-Verlassens durch die Mutter möglicherweise alte Verlassenheitsängste aktiviert. Max hat als kleines Kind öfter die Erfahrung gemacht, dass seine Wünsche nach Nähe und Trost offenbar nicht aushaltbar sind und nicht erfüllt werden können, und reagiert zunächst mit Frustration, die sich dann in Aggression kehrt, wenn er den Wunsch nach Nähe verspürt. Für seine Eltern, die vermutlich über eine distanziertbeziehungsabweisende Bindungseinstellung verfügen, sind seine „Nähewünsche“ als solche nicht mehr erkennbar. Beide Eltern verfügen nur über ein sehr geringes Erinnerungsvermögen an ihre eigene Kindheit, verbalisieren wenig ihre Gefühle und pochen sehr auf ihre Autonomie und Unabhängigkeit. Max maskiert seine Nähe- und Trostbedürfnisse hinter pseudoautonomem, ruppigem und aggressivem Verhalten. Max‘ Eltern können demzufolge sein Verhalten aus gut nachvollziehbaren Gründen nur als gegen sich gerichtet erkennen.

Bindungsstile können sich im Laufe des Lebens modifizieren oder durch korrigierende Erfahrungen verändert werden. Zu den wesentlichen protektiven Faktoren zählt eine längere und stabile Beziehung an eine Bezugsperson – dieses kann z.B. eine Großmutter, ein Pflegevater oder auch eine langjährige sozialpädagogische Familienhelferin sein – eine stabile Partnerschaft im Erwachsenenalter oder auch eine psychotherapeutische Behandlung (Kißgen 2009).

Anhand von Bindungstheorien ist es also insgesamt möglich, Verhalten sowie Erlebens- und Verarbeitungsweisen von kleinen Kindern in emotionalen Notsituationen bzw. körperlich bedrohlichen Situationen zu beschreiben und zu erklären. Bindungssysteme werden jedoch nicht nur in der Kindheit, sondern ein Leben lang in Notsituationen aktiviert. Auch SozialarbeiterInnen selbst müssen also – beispielsweise in Krisensituationen – darauf achten, dass KlientInnen ihre eigenen Bindungsbedürfnissignale erkennen und wenn möglich auch zeigen dürfen. Ein weiteres gutes Beispiel dafür ist, dass es für Menschen auf der Flucht von immenser Wichtigkeit ist, einen wie auch immer gearteten Kontakt zu ihren Angehörigen in ihrer Heimat zu haben, sodass die Schaffung oder Ermöglichung von Internet- und/oder telefonischen Verbindungen beispielsweise in Notunterkünften oder Flüchtlingsheimen unter Bindungsgesichtspunkten als absolut elementar anzusehen ist.

2.4 Entwicklungsfaktoren und -risiken in der Schwangerschaft

Die meisten Frauen erleben Schwangerschaft als einen schönen und unkomplizierten Prozess. SozialarbeiterInnen sind aber häufig mit den Risiken und Belastungen rund um die Schwangerschaft bei den betroffenen Frauen und Familien beschäftigt. Aus diesem Grund werden in diesem Kapitel die entwicklungsbezogenen Risiken der Schwangerschaft beschrieben.

Ein Risiko jeder Schwangerschaft ist die Fehlgeburt. Bereits nach der Zeugung beginnt der biologische Entwicklungsprozess eines Individuums. Etwa zehn Tage nach der Empfängnis bilden sich die ersten Zellen an der Uteruswand der Mutter. Allerdings überleben nicht einmal die Hälfte aller befruchteten Eizellen die ersten zwei Wochen (Myers 2014). Die Zahl der (in diesem frühen Stadium der Schwangerschaft meist unbemerkten) Fehlgeburten liegt in den ersten vier Wochen bei fast 50%.

Fehlgeburten werden in Anamnesen und Genogrammen, bei denen es um die Erfassung individueller und familienbezogener Lebenserfahrungen geht, oft verschwiegen – aus Scham, dem Gefühl vermeintlicher Bedeutungslosigkeit oder auch aus der Empfindung heraus, allein damit zu sein. Sie haben aber in der Regel für die Mütter, Väter und die Geschwister eine hohe psychische Bedeutung und können auch eine Belastung darstellen, die umso stärker ist, desto tabuisierter sie gehandhabt werden.

Andere Risiken für die Entwicklung des Kindes in der Schwangerschaft sind Erkrankungen der Mutter, beispielsweise durch Virusinfektionen, oder unerwartete Komplikationen während der Geburt. Ein plötzlicher Sauerstoffmangel während der Geburt kann beispielsweise zu schweren Folgeschäden führen, die die werdenden Eltern oft unvorbereitet schwer treffen. Sich in dieser Situation um Eltern zu kümmern und Unterstützung anzubieten, ist oft die Aufgabe von in Kliniken tätigen SozialarbeiterInnen.

Auch das Verhalten der Mutter kann Schädigungen für das Kind verursachen. So schaden Nikotin, Alkohol sowie der Konsum anderer Drogen – mit Ausnahme von Koffein – der Entwicklung des Embryos und späteren Fötus. Es sei an den eingangs beschriebenen Fall von Lisa erinnert, bei der der Drogenkonsum der Mutter mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Auslöser der Frühgeburt gewesen ist. Weitere Folgeschäden können Missbildungen und/oder Verhaltensstörungen sein. Die Zahl der jährlich in Deutschland mit alkoholbedingten Schädigungen auf die Welt gebrachten Kinder liegt in den 2010er Jahren bei etwa 10.000, ca. 2000 Babys erfüllen das Vollbild des „fetalen Alkoholsyndroms“. Dieses kann sich in drei Bereichen entfalten: in körperlichen Fehlbildungen, Wachstumsstörungen und Schädigungen des zentralen Nervensystems. Diese Gruppe bildet ein nicht zu vernachlässigendes Klientel von SozialarbeiterInnen (Pfinder/Feldmann 2011, ter Horst 2010).

SozialarbeiterInnen arbeiten nicht nur mit den hiervon betroffenen Kindern, sondern auch mit ihren Eltern, und insbesondere mit ihren Müttern. Sie haben die Aufgabe, in der Arbeit mit drogen- und alkoholabhängigen potenziellen und schwangeren Müttern präventiv tätig zu sein und diese aufzuklären. Wenn die Kinder geboren wurden, sind sie weiter unterstützend tätig in der Elternarbeit.

Unterschätzt werden nach wie vor die Folgen einer unerkannten und nicht behandelten postpartalen Depression. Etwa 10–15% (Bühring 2012) der Mütter erleiden eine postpartale Depression, die sich von dem zwei- bis fünftägigen „Babyblues“ unmittelbar nach der Geburt in ihrer Länge und ihrem Ausmaß unterscheidet. Erschwerend für die Erkennung und Behandlung dieser Erkrankung kommt hinzu, dass der gesellschaftliche Druck auf die Frauen, jetzt glücklich mit ihrem neugeborenen Kind sein zu müssen, nach wie vor enorm hoch ist und die Scham, diesen Erwartungen nicht entsprechen zu können, umso höher. Aus sozialarbeiterischer Sicht ist insbesondere darauf zu achten, die postpartale Depression als solche zu enttabuisieren, über Behandlungsmöglichkeiten zu informieren, Betroffene ggf. an psychiatrische oder psychotherapeutische Fachkräfte weiter zu vermitteln sowie die sozialen Netzwerke der Betroffenen zu aktivieren, um diese auch informell zu unterstützen. Insbesondere aufsuchende Hilfeformen sind ausgesprochen geeignet, die Rate unerkannter und unbehandelter postpartaler Depressionen zu senken (Hübner-Liebermann et al. 2012). Die postpartale Psychose, eine Erkrankung, bei der die betroffene Frau unter extremen Angst-, Wahnvorstellungen oder Halluzinationen leidet, ist eher selten und betrifft 0,1–0,2% der Mütter. Sie bedürfen in der Regel einer sofortigen stationären psychiatrischen Behandlung, wobei idealerweise Fachkräfte der Sozialen Arbeit die Zusammenarbeit verschiedener Professionen koordinieren sollten.

2.5 Entwicklung in der Säuglings-und Kleinkindzeit

„Für Joey sind fast alle Begegnungen mit der Welt dramatisch und vom Gefühl bestimmt. Elemente und Wesen dieser dramatischen Zusammentreffen sind für uns Erwachsene nicht offensichtlich. Von allen Dingen im Zimmer erregt der Sonnenschein an der Wand Joeys Aufmerksamkeit am meisten und hält ihn in Bann. Die Helligkeit und Intensität faszinieren ihn. Im Alter von sechs Wochen ist seine Sehfähigkeit schon recht gut entwickelt, wenn auch zur Perfektion noch einiges fehlt. Er erkennt bereits verschiedene Farben, Formen und Intensitätsgrade. Von Geburt an hat er starke Vorlieben für bestimmte Dinge, die er ansehen möchte, für Dinge, die ihm gefallen. An erster Stelle steht dabei die Intensität einer Wahrnehmung […]“ (Stern/Bruschweiler-Stern 2004, 24).

Dieses Zitat stammt aus dem fiktiven „Tagebuch eines Babys“ des britischen Entwicklungspsychologen Daniel Stern, bei dem höchst eindrücklich die Wahrnehmung eines Sonnenstrahls durch einen Säugling beschrieben wird. Bereits Neugeborene verfügen über ein differenziertes Wahrnehmungsvermögen: Sie schmecken und unterscheiden von Anfang an zwischen „süß“, „sauer“ und „bitter“. Nach wenigen Tagen erkennen sie ihre Mutter am Geruch. Sie hören bereits seit dem sechsten Schwangerschaftsmonat und orientieren sich als Neugeborene in Richtung einer Schallquelle. Sie sind in der Lage, Objekte, Muster, Figuren oder Formen zu erkennen, wenn sie sie auch noch nicht mit den Augen fixieren können, und sie unterscheiden Farbtöne und Helligkeitsabstufungen. Im Unterschied zu Sigmund Freud, der den Säugling noch als passives und einzig und allein an seiner Lustbefriedigung orientiertes Wesen ansah, hat der Entwicklungspsychologe Martin Dornes (1993) das Bild des kompetenten und an Interaktion interessierten Säuglings geprägt. Im Folgenden werden zum einen die Entwicklung des Selbst, und zum anderen die frühe Entwicklung kognitiver, emotionaler und selbstregulatorischer Prozesse beschrieben.

2.5.1 Die Entwicklung des Selbst

Daniel Stern (1979)schildert die Entwicklung des Selbstempfindens in vier Stadien. Das erste Stadium wird durch ein sogenanntes unreflektiertes Selbstempfinden gekennzeichnet; das Neugeborene ist ganz mit sich und seinen vegetativen Prozessen beschäftigt, von denen es beherrscht und manchmal auch gequält wird. Stern hat für dieses Stadium den schönen Begriff des auftauchenden Selbst geprägt; der dritte Lebensmonat, der auch den Übergang von der Neugeborenen- zur Säuglingszeit darstellt, ist oft ein Zeitpunkt, an dem viele Kinder erst „richtig“auf die Welt kommen.

Ab dem dritten Monat erfolgt laut Stern die Bildung eines Kernselbst. Das Kind spürt, dass es von der Mutter körperlich getrennt ist, und es existiert ein primär körperliches Selbstempfinden. Ab diesem Zeitpunkt werden bereits zwei entgegengesetzte Grundbedürfnisse erkennbar, die den Menschen ein Leben lang begleiten werden: das Bedürfnis nach Bindung und das Bedürfnis nach Exploration und Autonomie. Lichtenberg (1991) spricht von fünf Motivationssystemen, die er bereits dem Säuglingsalter zuschrieb. Dazu gehören die Notwendigkeit biologische Bedürfnisse wie Essen und Schlafen zu erfüllen, das Bedürfnis nach Bindung, das Bedürfnis nach Exploration und Selbstbehauptung, das Bedürfnis nach Rückzug, wenn unangenehme Dinge passieren, und das Bedürfnis nach Sinnlichkeit und Sexualität.

Ungefähr mit Beginn des siebten Lebensmonats wird, so Stern, das Stadium des subjektiven Selbst erreicht. Dieses bedeutet, dass das Kind ab diesem Zeitpunkt die zentrale Erfahrung von Intersubjektivität macht – Erlebnisse und Gefühle können mit anderen geteilt werden. Interessanterweise geht dieses Stadium mit einem bedeutsamen Schritt in der motorischen Entwicklung einher: Etwa ab diesem Zeitpunkt können sich die meisten Kinder auf irgendeine Weise von ihren Bezugspersonen wegbewegen. Charakteristisch ist ein eifriges Wegrobben, das von einem in regelmäßigen Abständen den Kopf in Richtung der Bezugsperson Wenden begleitet wird – nach dem Motto: „Bist Du noch da? Na dann ist gut, dann kann ich weiter. “

In dieser Sequenz bildet sich das Grundkonzept bzw. die Grundspannung komplementärer menschlicher Bedürfnisse ab, die bereits bei der Beschreibung des Bindungsbegriffs (s. Kapitel 2.3.1) benannt wurde: Es geht um die Befriedigung des Explorationsbedürfnisses – die Suche nach Veränderung – und um die des Bindungsbedürfnisses – der Wunsch nach einer sicheren Rückzugsmöglichkeit. Ungefähr zur selben Zeit setzt das sogenannte „Fremdeln“ ein, das sich vor allem in der Abwendung des Blicks und lauten Unmutsäußerungen manifestiert, wenn eine sich dem Kind nicht ganz so vertraute Person plötzlich nähert. Dieses Phänomen tritt auf, wenn sich bereits eine Bindung an eine Bezugsperson etabliert hat, also Vertrauen entstanden ist. Unter funktionalen Gesichtspunkten erklärt sich das Fremdeln aus der neu entstandenen Fähigkeit zu eigener Fortbewegung. Das Kind kann sich selbst wegbewegen und sich vor Fremden und nicht fürsorgemotivierten Personen quasi schützen (Bischof-Köhler 2011).

Etwa ab dem 15–18. Lebensmonat setzt das vierte Stadium des Selbstempfindens ein, welches Stern als das verbale bzw. konzeptuelle Selbst bezeichnet. Das Kind wird sich seiner selbst als „ich“ bewusst. Bis zu dieser Zeit ist das sog. Playmate-Verhalten zu beobachten. Die Kinder lächeln oder spielen mit dem Spiegelbild wie mit einem Spielpartner, identifizieren es aber nicht als ihr eigenes Abbild. Nun erkennen Kinder ihr eigenes Spiegelbild.

Auch motivational geschieht in diesem neuen Stadium des Selbstempfindens eine Veränderung: Die Kinder bekommen ein Gefühl für ihre eigene Leistung. In einem Experiment wurde deutlich, dass Kinder ab dem Zeitpunkt, an dem sie sich selbst im Spiegel erkennen können, nicht mehr gelassen darauf reagieren, ob sie oder jemand anderes den letzten Stein auf einen selbst gebauten Turm legen. Sie geben deutlich zu erkennen, die Erfahrung des Selbst-fertiggestellt-Habens machen zu wollen (Bischof-Köhler 2011). Diese Phase geht mit einer zunehmenden Fähigkeit zu symbolisieren, d.h. in Als-ob-Möglichkeiten zu denken, einher. Es ist eine Phase, in der man Kinder wie selbstverständlich mit einem Auto am Ohr durchs Zimmer streifen sieht – sie „telefonieren“ dann, bzw. tun so, als ob.

„In der Ausgestaltung von Als-ob-Situationen – ich tue so, als wenn ich einkaufen gehe, indem ich Mamas Schlüssel, ihre Schuhe und eine Plastiktüte als Handtasche nehme – macht sich das Kind eine weitere Realität verfügbar. Mit symbolischen Gesten und Handlungen setzt es Erfahrungen und Ereignisse in Szene, die von realen Ereignissen und Gegenständen entkoppelt sind. Das Spiel ist geprägt von Intensität, Ernsthaftigkeit, Freude, Kreativität und Konzentration; es folgt einem inneren ‚Faden‘ und führt zu Zufriedenheit und Sättigung“ (Rass 2011, 91).

Die Fähigkeit zur Symbolisierung ist eine zentrale Voraussetzung für die Entwicklung späterer Verbalisierungs- und Abstraktionsfähigkeiten und auch dafür, Emotionen in Sprache zu übersetzen und nicht unmittelbar auszuagieren. Jugendliche mit dissozialen Störungen – eine häufige Klientel von SozialarbeiterInnen – sind oftmals genau in dieser Fähigkeit beeinträchtigt; ihnen fehlt die Möglichkeit, ihre Wut zu verbalisieren, sodass sie sie in gewalttätigen Handlungen ausdrücken müssen.

2.5.2 Kognitionen, Emotionen und die Fähigkeit zur Selbstregulation

Jean Piaget (1896–1980) gilt als einer der wichtigsten Entwicklungspsychologen, der sich mit der geistigen Entwicklung von Säuglingen und Kindern beschäftigte. Er verstand diese geistige Entwicklung als Prozess der aktiven Konstruktion von Wissen in der Interaktion des Individuums mit der Umwelt. Das Kind bezeichnete Piaget als einen von einer inneren Neugier getriebenen Wissenschaftler, der aktiv seine Umwelt erkunde (Piaget 2003, Sodian 2012). Dabei beschrieb er den Erkenntnisprozess im Wechselspiel von zwei komplementären Mechanismen. Den einen nannte Piaget Assimilation. Assimilation geschehe immer dann, wenn etwas Neues in bestehende mentale Strukturen integriert werden könne. Dieser reiche aber allein nicht aus, um sich den Lernzuwachs von Kindern zu erklären:

„Wenn nur Assimilation an der Entwicklung beteiligt wäre, gäbe es keine Variationen in der Struktur des Kindes. Infolgedessen würde es keine neuen Inhalte erwerben und sich nicht weiterentwickeln“ (Piaget 2003, 55).

Den anderen und ergänzenden Mechanismus bezeichnete Piaget als Akkomodation. Hierbei müssen sich die mentalen Strukturen an die Umweltanforderungen anpassen und entwickeln sich auf diese Weise weiter. Das Wechselspiel dieser beiden Mechanismen soll an folgendem Beispiel illustriert werden:

Ein anderthalbjähriges Kind hat herausgefunden, dass ein Teller, wenn es ihn auf den Boden wirft, zerbricht. Wenn es dann eine Tasse herunterwirft, lernt es, dass auch Tassen zerbrechen und ordnet dies seinem vorhandenen Wahrnehmungsschema zu, dass Gegenstände, wenn man sie herunterwirft, kaputt gehen. So erklärt sich der Mechanismus der Assimilation. Die bestehende mentale Struktur des Kindes beinhaltet nun die Überzeugung, dass Gegenstände, die man hinunterwirft, kaputt gehen. Nun stellt das Kind aber fest, dass z.B. ein Plastikteller oder ein Plastikauto heil bleibt, obwohl man sie herunterwirft. Das heißt, das Kind verändert durch den Mechanismus der Akkomodation seine mentalen Strukturen von „alle Gegenstände gehen kaputt, wenn ich sie runterwerfe“ in „manche Gegenstände, die ich herunterwerfe, gehen kaputt, andere nicht“.