Kitabı oku: «Der Herzensdieb»
Der Herzensdieb
Barbara Cartland
Barbara Cartland E-Books Ltd.
Vorliegende Ausgabe ©2017
Copyright Cartland Promotions 1985
Gestaltung M-Y Books
Inhaltsverzeichnis
1.
Von den vielen Kerzen in den riesigen Leuchtern strömte eine fast unerträgliche Hitze aus, der schwere Duft der unzähligen Blumen hatte etwas Erstickendes. Zwei Menschen lösten sich aus der glänzenden Menge der Tanzenden und schlenderten durch die weiten Korridore des prächtigen Hauses, das Lord Marshall, einem engen Freund des Prinzen von Wales, gehörte.
„Wohin führen Sie mich, D’Arcy?“ fragte die Dame, als die Musik und das Geräusch, das die vielen Füße auf dem Parkett verursachten, hinter ihnen zurückblieb.
„An einen ruhigen Ort, an dem ich ungestört mit Ihnen reden kann.“
Die Dame ließ ein Lachen hören, das bar jeden Humors war, so melodisch es auch klang.
„Um Himmels willen, nicht schon wieder“, wehrte sie ab, „dazu bin ich heute abend wirklich nicht aufgelegt.“
Ohne auf ihre Worte einzugehen, öffnete der Mann die Tür zu einem leeren Salon, der nur von zwei Leuchtern rechts und links auf dem Kaminsims erhellt wurde.
Die Dame sah sich neugierig um.
„Wie reizend, hier bin ich noch nie gewesen“, stellte sie fest.
„Das Zimmer ist Marshalls Heiligtum, zu dem nur seine vertrautesten Freunde Zutritt haben.“
„Zu denen Sie sich selbstverständlich rechnen.“
„Er ist ein langweiliger Bursche, aber ich kenne ihn schon seit vielen Jahren.“
Die Vorhänge waren zurückgezogen, die Abendbrise, die durch die offenen Fenster hereinwehte, genügte jedoch kaum, um die Kerzen zum Flackern zu bringen. Die Dame fächelte sich mit einem handbemalten Fächer langsam und rhythmisch Luft zu.
Der Mann vermochte den Blick nicht von ihr zu wenden.
„So schön wie heute habe ich Sie noch nie gesehen, Galatea“, bemerkte er schließlich.
Sie nahm das Kompliment gelangweilt zur Kenntnis. Ohne Zweifel war Lady Galatea Roysdon eine außergewöhnlich schöne Frau. Das dunkle Haar - nach der neuesten Pariser Mode frisiert, umrahmte ein vollkommen ebenmäßiges Gesicht. Am auffallendsten aber wirkten ihre großen, tiefgrünen Augen mit den kleinen goldenen Flecken darin. Sie erinnerten an einen klaren Bach, auf dessen Oberfläche die Sonnenstrahlen tanzten.
Es waren sehr ausdrucksvolle Augen, mit denen sie den vor ihr stehenden Mann mißbilligend betrachtete.
„Nun, D’Arcy, was gibt es?“ erkundigte sie sich.
Die einfache Frage genügte, um ihn in Wut zu bringen.
„Verdammt“, fluchte er, „Sie wissen sehr genau, was ich Ihnen sagen will.“
„Und Sie kennen meine Antwort, warum also etwas wiederholen, was zu einem ermüdenden Refrain geworden ist.“
„Mehr bedeute ich Ihnen nicht?“
Er blickte sie mit glühenden Augen an. Höchst elegant gekleidet, wirkte er in seiner Art kaum weniger attraktiv als seine Begleiterin. Wer immer Lady Roysdon und den Grafen von Sheringham im Ballsaal zusammen tanzen sah, konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die beiden sowohl äußerlich wie auch dem Ruf nach ausgezeichnet zueinander paßten.
Nur zeigte sich auf Lady Roysdons schönem Gesicht kein Zeichen des wilden Lebens, das sie zum Gesprächsthema der Stadt gemacht hatte, während die ausschweifenden Jahre begannen, ihre Spuren bei dem Grafen zu hinterlassen. Unter seinen Augen bildeten sich leichte Tränensäcke, und die Blässe seiner Wangen zeugte von vielen späten Nächten am Spieltisch oder anderswo.
Während er rastlos im Zimmer herumlief, zerrte er mit den Fingern nervös an den Aufschlägen seiner tadellos sitzenden Jacke.
„So können wir nicht weitermachen“, brach es aus ihm heraus.
„Warum nicht?“
„Weil ich Sie begehre und mich nicht länger am Gängelband halten lasse.“
„Das zu entscheiden, ist meine Sache“, erwiderte sie so gleichgültig, als ob die Unterhaltung sie höchlichst langweilte.
Da ihm nicht entging, daß genau das der Fall war, setzte der Graf sich neben sie auf das Sofa und begann eindringlich auf sie einzusprechen.
„Ich kann es nicht länger ertragen, daß Sie nur mit mir spielen, Galatea. Als ich Sie heute abend mit dem Prinzen lachen und scherzen sah, war ich nahe daran, die Beherrschung zu verlieren.“
Ohne ihn zu beachten, starrte sie mit leeren Augen auf die gegenüberliegende Wand, an der ein ziemlich schlechtes Ölbild hing, das einen erlegten Hirsch zeigte.
„Ich habe Sie schon vor der Abfahrt nach Brighton darauf aufmerksam gemacht, daß Ihnen gar nichts anderes übrig bleibt, als sich von mir lieben zu lassen.“
„Und wenn ich das nicht tue?“
Sie schien ihn auszulachen.
„Dann bringe ich Sie um“, fuhr er sie an.
„Mein lieber D’Arcy, was soll dieser theatralische Ton?“ wollte sie wissen. „Sie haben nicht den leisesten Wunsch, mich umzubringen. Ihr einziges Bestreben ist, mich zu Ihrer Geliebten zu machen.“
„Ich will Sie heiraten, sobald diese halbe Leiche, die Sie Ihren Gatten nennen, nicht mehr lebt.“
„Er ist mein Gatte.“
„Wie können Sie einem Mann die Treue bewahren, der weder sehen noch hören kann und nichts Menschliches mehr an sich hat, wenn man davon absieht, daß er noch atmet.“
„Und solange George atmet, bin ich seine Frau.“
„Das haben Sie schon tausendmal beteuert, wenn auch nicht sehr überzeugend.“
„Warum finden Sie sich nicht damit ab, daß ich nicht beabsichtige, Ihre Geliebte zu werden?“
„Wie lange muß ich denn noch warten?“ fragte der Graf verzweifelt. Als sie nicht antwortete, fuhr er fort. „Wenn Roysdon kein reicher Mann wäre, wäre er längst tot. Diese berechnenden Ärzte erhalten ihn nur am Leben, um sich die Taschen füllen zu können. Wann war es doch noch, als er seinen Schlaganfall erlitt?“
„Vor fünf Jahren.“
„Unmittelbar nach Ihrer Hochzeit.“
„Allerdings.“
„Konnte er Ihnen in der kurzen Zeit denn etwas über die Liebe beibringen?“
Lady Roysdon schwieg, so daß er weitersprach.
„Erlauben Sie mir, Ihr Lehrer zu sein, meine Allerschönste. Lassen Sie sich von mir in die Entzückungen einweihen, die nicht nur wir sterblichen Männer und Frauen erleben, sondern die Götter selbst genießen.“
Lady Roysdon stieß ein kleines Lachen aus.
„Jetzt werden Sie sogar poetisch, D’Arcy. Demnächst schreiben Sie Oden auf meine Augenbrauen wie dieser lästige junge Mann, den wir vor ein paar Wochen getroffen haben. An seinen Namen kann ich mich nicht mehr erinnern.“
„Ich hege nicht den Wunsch, Gedichte auf Sie zu schreiben“, erklärte der Graf, „sondern ich will Sie in den Armen halten und küssen, in dem Bewußtsein, daß Sie mir gehören.“
Lady Roysdon gab sich keine Mühe, ein Gähnen zu verbergen.
„Ich gehöre niemanden außer George, und da er mich nicht benötigt, höchstens noch mir selbst.“
Sie erhob sich lässig.
„Kommen Sie, D’Arcy, ich möchte nach Hause fahren.“
Nachdem der Graf ihrem Beispiel gefolgt war, baute er sich vor ihr auf, einen entschlossenen Ausdruck im Gesicht. Sie ahnte seine Absicht und stellte daher ruhig fest.
„Wenn Sie mich anrühren, sehen Sie mich nie wieder, das schwöre ich Ihnen.“
„Sie können mich nicht behandeln, wie Sie das gewöhnlich mit Ihren Anbetern tun.“
„Ich kann und will“, entgegnete sie scharf, „also benehmen Sie sich.“
„Sie machen mich verrückt.“
„Nicht verrückter als Sie bereits sind.“
Er wußte, wann er geschlagen war und trat einen Schritt zurück.
„Ich werde Sie nach Hause bringen.“
„Vielen Dank, aber ich habe meinen eigenen Wagen.“
„Sie fahren mit mir!“ befahl er. „Ich bin nämlich noch nicht fertig mit dem, was ich zu sagen habe.“
„Es ist unnötig, den Lästerzungen noch mehr Material zu geben, als sie ohnehin schon haben.“
„Warum sollten wir uns plötzlich darum kümmern, was die Leute reden?“ meinte der Graf. „Wer in der Gesellschaft nicht blind und taub ist, weiß, daß Sie früher oder später mein sind.“
„Sie geben sich alle Mühe, die anderen glauben zu lassen, daß ich Ihnen bereits gehöre, weil das vermutlich Balsam für Ihren verletzten Stolz bedeutet.“
Mit trotzig erhobenem Kinn fügte sie hinzu: „Mich dagegen ärgert es, wenn die Leute etwas glauben, was nicht den Tatsachen entspricht.“
„Was kümmern uns die anderen?“ fragte der Graf grob. „Sie waren doch bisher kein solcher Hasenfuß, Galatea.“
„Da ich in einigen Wochen einundzwanzig werde, sollte ich mich in Zukunft wohl umsichtiger und würdiger benehmen.“
Der Graf warf den Kopf zurück und lachte schallend.
„Was ist aus der Rebellin geworden, die mich zum Haymarket begleitete und im gleichen Raum wie der Abschaum von Piccadilly tanzte?“ Da sie schwieg, sprach er weiter. „Ist das noch das gleiche Geschöpf, das ich nach Covent Garden führte, damit sie den Burschen den Kopf verdrehen sollte, die eigentlich die Schauspielerinnen bewundern wollten. Meine Partnerin bei vielen Abenteuern, die uns beide zum Gesprächsstoff von St. James gemacht haben.“
Sie wandte den Kopf ab.
„Ich habe heute gehört, daß man mich die zügellose Lady nennt.“
„Außerdem bezeichnet man Sie als die schönste Frau Englands, Sie können also Ihre Wahl treffen.“
„Nach unserem Besuch in Bridewell habe ich mich zutiefst geschämt.“
„Ich wüßte nicht, weshalb. Das Ganze war ein Spaß, und wie Sie sich erinnern können, haben wir auf dem Heimweg gelacht.“
„Sie haben gelacht.“
„Und das werden wir wieder tun, wenn ich Sie jetzt nach Hause fahre“, sagte der Graf. „Kommen Sie, Galatea, damit wir uns von unserem Gastgeber verabschieden.“
Er bot ihr den Arm, auf den sie eben die Hand legen wollte, als sie es sich anders überlegte.
„Ich mag nicht noch einmal in den überfüllten Ballsaal zurückgehen“, erwiderte sie. „Außerdem wissen Sie sehr wohl, daß wir uns vor dem Prinzen nicht verabschieden sollten.“
„Dann werden wir uns heimlich entfernen.“
Der Graf richtete den Blick auf ihr liebreizendes Gesicht.
„Die anderen Leute, auch der Prinz, drängen sich ständig zwischen uns, wo ich Sie doch für mich allein haben möchte.“
Seine leidenschaftliche Stimme und die glühenden Augen warnten Lady Roysdon, daß er nahe dran war, die Beherrschung zu verlieren. Was D’Arcy Sheringham betraf, so mußte sie ständig auf der Hut sein. Schon am ersten Abend, als sie sich in Carlton House begegneten, hatte er sich - ohne sie um Erlaubnis zu fragen - zu ihrem ständigen Begleiter erklärt. Damals war sie eine sehr junge und unschuldige Frau, deren Ehemann umsorgt von einer Heerschar von Ärzten und Schwestern in einem verdunkelten Zimmer lag und sich nicht um sie kümmern konnte. Sie wäre sich wohl während ihrer ersten Saison in London sehr verloren und allein vorgekommen, wenn der Graf sie nicht bei jeder Gelegenheit eskortiert und unterhalten hätte.
Im Grunde war es ihre Unschuld, die in der Gesellschaft, in der sie sich bewegte, einen effektiveren Schutz bedeutete, als das ein Mensch hätte sein können. Ihre Unwissenheit schirmte sie gegen ihre Umwelt ab. Selbst die kritischsten Damen, die sie um ihre Schönheit beneideten, fanden keine wirklichen Angriffspunkte.
Aber so blieb es nicht. In dem Maße, in dem der Graf ungestümer und fordernder wurde, wurde auch Lady Roysdon wilder und ausgelassener, und bald ließen sich die Abenteuer der beiden nicht mehr übersehen.
Freizügigkeit und Schamlosigkeit bedeuteten im Kreise um den Prinzen von Wales nichts Außergewöhnliches. Er umgab sich von jeher mit Leuten, die nicht nur den langweiligen und steifen Hof schockierten, sondern auch das Volk, das für die sich ständig steigernden Extravaganzen des Thronfolgers zahlen mußte. Er war ständig von Skandalen umwittert, ob es sich um seine angeblich im Geheimen stattgefundene Eheschließung mit der katholischen Mrs. Fitzherbert handelte, seine wirkliche Ehe mit Prinzessin Caroline von Brunswick, die einen immer verheerenderen Verlauf nahm, oder seinen immer höher werdenden Schuldenberg.
Es gab aber auch eine Seite seines Charakters, die seine guten Bekannten und Freunde unwiderstehlich fanden. Er besaß großen, persönlichen Charme, einen bemerkenswert guten Geschmack und erstaunliche Kenntnisse über eine Vielzahl von Objekten. Wer es verstand, sein Herz anzurühren, konnte mit seiner Großzügigkeit rechnen. Seine Diener taten alles für ihn und seine Freunde waren der Meinung, daß die Art und Weise, wie er von seinem Vater behandelt wurde, sein ausschweifendes Leben weitgehend entschuldigte.
Jedenfalls war das keine Gesellschaft, in der sich eine Frau bewegen konnte, ohne an ihrem Ruf Schaden zu erleiden. Wenn über Lady Roysdon geklatscht wurde, dann hatte sie das hauptsächlich dem Grafen von Sheringham zu verdanken.
Und plötzlich begehrte der Spielgefährte, den sie über vier Jahre herumkommandiert hatte, auf und wurde schwierig. Sie hatte London Hals über Kopf verlassen, weil sie sich ihres letzten Abenteuers schämte und nicht nur den strafend auf sie gerichteten Fingern entgehen wollte, sondern vor allem dem Grafen selbst. Da er - wie er stets behauptet hatte, Brighton verabscheute, war er in früheren Jahren dem Prinzen nicht dorthin gefolgt. Als er diesmal vor drei Tagen in seiner Begleitung erschien, wußte Lady Roysdon, daß Ruhe und Frieden für sie zu Ende waren.
Sie hatte heute abend kaum den Ballsaal betreten, als er sie auch schon in Beschlag genommen hatte. Dabei hatte er alle anderen Männer vertrieben, die sich um ihre Gunst bemühten. Sie war sehr wütend gewesen. Obwohl sie sich gesagt hatte, daß er sich Rechte anmaßte, die ihm nicht zustanden, jagte er ihr mit seiner Beharrlichkeit, sie besitzen zu wollen, Angst ein.
Während er jetzt darauf wartete, daß sie ihre Hand auf seinen Arm legte, deutete sein Gesichtsausdruck an, daß er nichts Gutes im Sinn hatte.
„Ich habe meinen Umhang in der Halle gelassen“, sagte sie schnell. „Würden Sie ihn mir bitte holen? Wenn ich es selbst tue, werde ich sicherlich unterwegs aufgehalten.“
Das mußte der Graf einsehen.
„Ich lasse meinen Wagen vorfahren und gleichzeitig Ihrem Kutscher die Nachricht zukommen, daß er nicht auf Sie warten muß und nach Hause fahren kann.“
„Vielen Dank, D’Arcy.“
Sein rascher Seitenblick zeigte, wie überrascht er war, weil sie sich so gefügig zeigte.
„Hoffentlich finde ich Sie noch hier vor, wenn ich zurückomme“, sagte er mit einem leichten Lächeln. „Vielleicht täte ich gut daran, die Tür zu verschließen, damit keiner Ihrer Bewunderer Sie inzwischen zum Tanz entführen kann.“
„Ich habe nicht die Absicht, heute noch einmal zu tanzen“, erwiderte Lady Roysdon beinahe scharf. „Mich zieht es nach Hause. Eine Party, die sich zulange hinzieht, ist schrecklich ermüdend.“
„Sie haben recht, wir hätten schon früher gehen sollen“, stimmte er zu.
„Dann wollen wir nicht länger verweilen, ich bin müde und bedarf der Ruhe.“
Er war kaum verschwunden, als sich Lady Roysdons gelangweilte Miene jäh veränderte. Sie lauschte einige Augenblicke, um sicher zu sein, daß er nicht schon wieder zurückkehrte. Dann durchquerte sie leichtfüßig den Raum und kletterte durch das offene Fenster in den Garten, was ihr in dem dünnen Tüllkleid mühelos gelang. Nachdem sie sich unten orientiert hatte, lief sie über den Rasen auf ein paar Lichter zu, die hinter den Büschen flackerten. Wie sie richtig vermutet hatte, gehörten sie zu den wartenden Kutschen, unter denen sie ihre eigene ohne Schwierigkeit fand.
Hancocks, der Kutscher - seit vielen Jahren im Dienste der Familie ihres Mannes - saß dösend auf dem Bock. Jake, ein junger Mann, den sie erst in Brighton als Reitknecht engagiert hatte, unterhielt sich mit einigen Kollegen.
Lady Roysdons Erscheinen löste zunächst einige Überraschung aus, doch Jake faßte sich schnell, griff nach seinem Hut mit Kokarde, der achtlos auf dem Boden lag, setzte ihn auf und erkundigte sich.
„Sie wünschen zu fahren, Mylady?“
Auf ihre bejahende Antwort hin beeilte er sich, ihr die Kutschentür zu öffnen und eine Pelzdecke über die Knie zu breiten.
„Nach Hause, Mylady?“
„Nach Hause“, bestätigte sie, „und Hancocks soll die Hauptstraße meiden. Es gibt da, glaube ich, noch eine andere Straße über die Downs.“
Die Tür wurde geschlossen, die Pferde setzten sich in Bewegung. Die Kutsche rollte an der langen Reihe - wartender Wagen vorbei.
Nach einer Viertelmeile verließen sie die Brighton Road und bogen in eine schmale, staubige Straße ein. Lady Roysdon hatte gute Gründe, diese Route zu wählen. Die vier Pferde des Grafen hätten ihr eigenes Gespann leicht einholen können, sie traute ihm durchaus zu, daß er sie anhalten und darauf bestehen würde, daß sie zu ihm in den Wagen stieg, mochte sie wollen oder nicht. Auf engem Raum allein würde es schwer sein, sich den Grafen vom Leibe zu halten. Die Straße über die Downs war länger und holpriger, versprach aber mehr Sicherheit und das war alles, was zählte.
Sie machte es sich in einer Ecke der gutgepolsterten Kutsche bequem und ließ die Pelzdecke auf den Boden rutschen. Nachdem sie das Fenster heruntergedreht hatte, umfächelte die vom Meer kommende Brise ihre Wangen und vertrieb die Beklemmungen, die sie befallen hatten, als sie den Grafen im Ballsaal vorgefunden hatte.
Es war ihr nicht klar, was sie in Bezug auf seine Person tun sollte. Anders als vor zwei Jahren wußte sie jetzt, daß sie ihn niemals heiraten würde, selbst wenn sie morgen schon frei wäre. Er hatte etwas an sich, was sie abstieß, obwohl er sie amüsierte. Und weil er sie amüsierte, hatte sie ihn den anderen Männern vorgezogen, die auf jede nur mögliche Art versucht hatten, sie davon zu überzeugen, daß eheliche Treue für eine Frau von Welt nur ein Witz und keine Tugend wäre. Wenn dann alle Schmeicheleien und Bitten erfolglos blieben, machten sich die meisten Galane auf die Suche nach leichter zu erobernden Opfern, doch der Graf war geblieben.
Lady Roysdon beschloß, sich ihn vom Halse zu schaffen, obwohl das nicht leicht sein würde. Daß sie ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben hatte, war keine Übertreibung, wie sie sehr wohl wußte. Nie zuvor in seinen sechsunddreißig Lebensjahren war ihm etwas versagt geblieben, was er begehrt hatte. Deshalb war sie für ihn zu einer Art Besessenheit geworden. Er wollte um jeden Preis erreichen, daß sie sich ihm als Sieger ergab. Lady Roysdon konnte sich selbst nicht erklären, warum sie ihre Ansicht über ihn in der letzten Zeit so sehr geändert hatte. Er war für sie nicht mehr der gleiche Mann, dem sie ihre Freundschaft geschenkt hatte, als sie nach London kam. Plötzlich wirkten seine engstehenden Augen bedrohlich und der dünnlippige Mund hart und grausam. Natürlich hatte sie auch früher schon Geschichten über ihn gehört. Es gab in der Gesellschaft niemanden, über den nicht geringschätzig gesprochen wurde, nur pflegte sie selten zu glauben, was sie hörte. Was den Grafen anging, so wurde sie langsam mißtrauisch. Gleichzeitig stellte sich ein Gefühl ein, als ob er sie in ein unsichtbares Netz einspannte, aus dem sie nicht entfliehen konnte.
Zum erstenmal wünschte sie sich, einen Mann zu kennen, an den sie sich um Rat und Hilfe wenden konnte. Bisher hatte der Graf sie zwar gelegentlich in die Klemme gebracht, sie jedoch auch jedesmal wieder herausgeholt. Er hatte sie - falls notwendig - beraten, und da er ein wichtiges Mitglied der Gesellschaft und zudem ein erfahrener Mann war, war ihr sein Rat im großen Ganzen zum Vorteil ausgeschlagen.
Tief in Gedanken versunken bemerkte Lady Roysdon nicht, wohin sie fuhr. Sie erwachte erst aus ihren Betrachtungen, als die Kutsche plötzlich sehr abrupt zum Stehen kam. Sie blickte aus dem Fenster und stellte fest, daß sie sich mitten im Wald befanden. Jetzt tauchte eine hochgewachsene Gestalt auf und öffnete die Tür.
„Würden Mylady wohl die Güte haben, auszusteigen“, befahl eine Männerstimme. Im ersten Augenblick glaubte sie schon, der Graf habe sie trotz ihrer Vorsichtsmaßnahmen eingeholt, bis sie im Licht des Mondes und der Wagenlaternen mit ungläubiger Miene entdeckte, daß der Mann maskiert war. Er war also ein Straßenräuber. Er hielt eine Pistole in der Hand. Eigentlich hätte sie schreien müssen, doch ihr Stolz verbot ihr, auch nur eine Spur von Schwäche zu zeigen. Langsam und würdevoll stieg sie aus der Kutsche.
Der Mond schien so hell, daß sie einen zweiten Räuber erkannte, der mit seiner Pistole Hancocks und Jake in Schach hielt. Der Mann, der sie zum Aussteigen aufgefordert hatte, war groß und breitschultrig. Seine Augen konnte sie hinter der Maske, die den oberen Teil des Gesichtes bedeckte, nicht sehen. Um seine Lippen spielte jedoch unverkennbar ein leises Lächeln.
„Was wollen Sie von mir?“ fragte sie, „oder ist das eine überflüssige Frage?“
„Eine überflüssige, Mylady“, bestätigte er. „Darf ich Ihnen versichern, daß Sie so schön sind, daß Sie der unnötigen Zierde, die Ihre Smaragde darstellen, gar nicht bedürfen.“
„Auf Ihre Komplimente kann ich verzichten“, erwiderte sie eisig.
„Dann muß ich mich wohl mit den Smaragden begnügen, wenn sie auch neben der Schönheit ihrer Trägerin verblassen.“
Sie trug ein trotzig erhobenes Kinn zur Schau, löste aber das Kollier und reichte es ihm. Ohne den Blick von ihr zu wenden, ließ er es nachlässig in einen Leinenbeutel fallen, den er in der Hand hielt.
Er war anders angezogen, als sie von einem Straßenräuber erwartet hätte. In seiner Kleidung, die aus einer gut sitzenden Jacke, eng anliegenden Hosen und glänzend polierten Lederstiefeln bestand, unterschied er sich nicht von denen, denen sie täglich in der feinen Gesellschaft begegnete. Auf dem Kopf saß schräg ein hoher Hut, seine frische, weiße Krawatte war so kunstvoll gebunden, daß er dem Grafen damit förmlich Konkurrenz machte.
Lady Roysdon dachte unwillkürlich daran, daß es amüsant sein müßte, die beiden Männer sich gegenüber stehen zu sehen, wie es der Fall gewesen wäre, wenn der Graf sie nach Hause geleitet hätte. Andererseits hätte sie sich dann nicht auf dieser Straße befunden; sie konnte für ihr Mißgeschick nur sich selbst die Schuld zuschieben.
„Meine Sammlung wäre nicht vollständig ohne die Ohrringe von den muschelgleichen Ohren von Mylady, den Armreifen von ihren Handgelenken und dem Ring von ihrem Finger“, stellte der Wegelagerer fest.
Da ihr nichts anderes übrig blieb, händigte ihm Lady Roysdon die geforderten Schmuckstücke aus. Als sie ihm den Ring reichte, fing sich das Mondlicht im Stein eines zweiten Ringes, den sie am vierten Finger der linken Hand trug.
„Nein“, rief sie, da sie bemerkte, daß sein Blick darauf fiel.
„Nein?“ wiederholte er überrascht. „Und warum nicht? Ich kann nicht glauben, daß Sie sich mit etwas schmücken, was nicht von Wert ist.“
„Er ist gefühlsmäßig von Wert für mich, weil er meiner Mutter gehörte. Er ist das einzige, was mir von ihr geblieben ist.“
Sie sah ihn forschend an, um festzustellen, ob er ihr glaubte. Von einem Schmuckstück zu sprechen und ihm einen gefühlsmäßigen Wert zu geben, würde ein Bandit selten von den Lippen derer hören, die er beraubte.
Als er zögerte, bat sie ihn in einem Ton, dessen sie sich bisher nicht bedient hatte, ihr den Ring zu lassen, weil er ihr unendlich viel bedeutete.
„Sollte mir das etwas ausmachen?“
„Vermutlich nicht“, erwiderte sie betrübt, und da es offenbar sinnlos war, weiter in ihn zu dringen, streifte sie den Ring vom Finger.
Er entfernte sich, und sie sah, daß er den Beutel mit ihrem Schmuck in der Satteltasche seines Pferdes verstaute. Sie folgte ihm und stand hinter ihm, als er sich umdrehte.
„Da haben Sie, was Sie wollen“, sagte sie und hielt ihm den Ring hin.
„Denken Sie oft an Ihre Mutter?“ fragte er unvermittelt.
„Sie starb, als ich fünfzehn war, und trotzdem vermisse ich sie noch immer.“
„Sie haben sie sehr geliebt?“
„Oh ja, sehr.“
„Wie ich die meine, die bis vor wenigen Monaten bei mir lebte.“
„Dann waren Sie ein sehr glücklicher Mensch.“
„Das habe ich auch so empfunden.“
Lady Roysdon fand es ziemlich ungewöhnlich, mit einem Straßenräuber eine solche Unterhaltung zu führen. Seine kultivierte Stimme, die nicht anders klang als die der Gentlemen, die sie kannte, ließ keinen Zweifel daran, daß er jedes Wort ernst meinte. Neugierig betrachtete sie sein Gesicht mit dem festen und gleichzeitig großzügigen Mund, dessen Winkel ein wenig nach oben gezogen waren, der den Eindruck erweckte, als ob er insgeheim über sich selbst lächelte.
„Wer sind Sie?“ fragte sie.
„Ist das nicht eine etwas indiskrete Frage an einen Räuber?“ parierte er. „Leute meinesgleichen pflegen anonym zu bleiben.“
„Das weiß ich, aber ich überlege, ob das Ganze nicht ein Scherz auf meine Kosten ist, ob Sie mich nicht vielleicht aufgrund einer Wette berauben?“
Er lächelte.
„So etwas liegt eher auf Ihrer Linie, Lady Roysdon, ich bin echt.“
„Sie kennen meinen Namen?“
„Wer könnte in Brighton oder London wohnen, ohne von Ihnen gehört zu haben. Schließlich sind Sie berühmt.“
Sein Ton ließ seine Worte kaum wie ein Kompliment klingen.
„Sie meinen wohl eher berüchtigt“, erwiderte sie leise.
„So unhöflich würde ich mich niemals ausdrücken.“
„Aber Sie denken so.“
„Spielt es für Sie eine Rolle, was ich denke?“
„Vermutlich nicht, wobei ich mich allerdings frage, welche meiner Abenteuer an Ihr Ohr gedrungen sind.“
„Eine ganze Anzahl davon. Soll ich dazu bemerken, daß ich nur die Hälfte von dem glaube, was ich gehört habe?“
„Wie kann ich wissen, was Sie glauben, solange ich nicht weiß, was Sie gehört haben?“
Sein Lächeln machte ihr klar, daß sie sich mehr wie ein Kind als eine erwachsene Frau anhören mußte.
„Sie sind sehr schön, Lady Roysdon“, teilte er ihr nach kurzem Schweigen mit, „und daher finde ich, daß es jammerschade um Sie ist.“
„Was ist jammerschade?“
„Daß Ihr Name ständig in Verbindung mit den Stutzern und Dandies genannt wird, die in den Wirtshäusern und Clubs betrunken Toasts auf Ihr Wohl ausbringen.“
„Woher wollen Sie das wissen?“ erkundigte sie sich wütend.
Er machte eine kleine, wegwerfende Handbewegung, dann wandte er den Blick von ihr ab und richtete ihn dorthin, wo sich die Mondstrahlen durch die Zweige stahlen und silberne Muster auf den moosigen Boden malten.
„Klatsch und Gerede verbreiten sich wie der Wind, sie erreichen selbst Orte wie diesen.“
Sie folgte der Richtung seiner Augen. Erst jetzt ging ihr auf, wie friedlich und schön es hier war. Sie hatte plötzlich das Gefühl, als ob er sie Dinge zu sehen lehrte, die sie nicht kannte. Der Frieden, der unter diesen Bäumen herrschte, war etwas, wonach sie sich immer gesehnt, den sie jedoch nie gefunden hatte. Ein langes Schweigen breitete sich aus.
„Sie scheinen mich zu verstehen“, sagte er sehr leise, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte.
Und da alles so seltsam und ungewöhnlich erschien, daß sie nicht wußte, was sie denken sollte, streckte sie ihm erneut den Ring Ihrer Mutter entgegen.
„Nehmen Sie und lassen Sie mich gehen“, bat sie.
„Behalten Sie ihn.“
„Meinen Sie das im Ernst?“
„Sie haben mir doch erzählt, daß er von Ihrer Mutter stammt.“
„Was den Tatsachen entspricht.“
„Daran habe ich keine Sekunde gezweifelt.“
„Ich dachte, das hätten sie vielleicht.“
„Es würde Ihnen schwerfallen, mich hinters Licht zu führen.“
Zwischen ihren Brauen bildete sich eine steile, kleine Falte, als sie fragte. „Warum haben Sie mir das gesagt?“
„Die Antwort kennen Sie, ohne daß ich sie in Worte fasse.“
Sie starrte ihn an, bis er mit veränderter Stimme weitersprach.
„Ich bitte um Vergebung, aber ich hatte für einen Augenblick vergessen, daß ich nur ein Straßenräuber bin. Wenn ich Ihnen den Ring lasse, müssen Sie mir übrigens etwas von ähnlichem Wert geben.“
Lady Roysdon warf einen Blick in Richtung Kutsche dann sah sie ihn wieder an.
„Aber ich habe nichts bei mir...“, begann sie und verstummte, als sie das Lächeln gewahrte, das um seine Mundwinkel spielte.
Er trat auf sie zu, legte einen Finger unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht. Da sie sich nicht rührte, legte er die Arme um sie und traf Anstalten, sie zu küssen. Als sein Mund von ihren Lippen Besitz ergriff, stieg eine seltsame und unbekannte Wärme in ihr auf, die sich in ihrem ganzen Körper ausbreitete. Sie war so süß und wunderbar, daß sie zu träumen glaubte. Dann zog er sie noch näher an sich, die Intensität ihres Gefühls durchfuhr sie wie ein scharfer Schmerz, der sich, ehe sie ihn recht wahrnahm, in eine unendliche Seligkeit wandelte. Dies alles konnte nicht Wirklichkeit sein ...
Nach einer kleinen Ewigkeit gab er sie frei. Sie standen sich gegenüber und blickten sich in die Augen.
Als er sich umwandte und zur Kutsche ging, konnte sie ihm nur blindlings folgen. Sie spürte seine Hand an ihrem Ellbogen, während er ihr hineinhalf. Von ihr unbemerkt mußte er dem Kutscher ein Zeichen gegeben haben, denn die Pferde setzten sich sofort in Bewegung. Den Hut in der Hand ließ er den Wagen an sich vorbeipassieren.
Lady Roysdon lehnte sich in die Polster zurück. Ihr Herz klopfte wie wild, ihr Atem kam schnell und stoßweise. In Sichtweite der Lichter von Brighton griff sie nach ihrem schmucklosen Hals. Ihre Smaragde waren verschwunden. Was geschehen war, war wirklich und kein Phantasiegebilde.
Aus den Fenstern des Hauses, das sie gemietet hatte, schimmerte Licht. Die Möbel wurden schon ein wenig schäbig, aber es war bequem in dem Haus und bot auch für die Diener, die Lady Roysdon mitgebracht hatte, genügend Raum. Da es in Brighton an Unterkunftsmöglichkeiten mangelte - die Freunde des Prinzen von Wales zahlten enorme Preise, um in seiner Nähe zu sein - konnte sie sich glücklich schätzen, schon den dritten aufeinanderfolgenden Sommer das gleiche Haus zu bewohnen. Dadurch war sie nicht wie viele andere aus dem Carlton Circle gezwungen, Zimmer oder Landhäuser weit außerhalb der Stadt zu mieten, oder höchst unfair diejenigen zu überbieten, die im Voraus in den Hotels gebucht hatten. In dieser Woche war der Badeort noch überfüllter als sonst, weil der Geburtstag des Prinzen nahte, und es deshalb unzählige Festivitäten gab.