Kitabı oku: «Augen, die im Dunkeln leuchten», sayfa 3
2.
Ein Verehrer mit ernsten Absichten
Als Helena Rubinstein sechs Jahre nach der Landung des Postdampfers ein zweites Mal in Melbourne eintrifft, hat sie vieles von dem, was sie für einen eigenen Laden brauchen wird, beisammen: Sie hat genug Englisch gelernt, um Kundinnen zu beraten, wobei sie ihren harten Akzent nie verlieren wird. Sie weiß so manches über die Verfertigung von Cremes, kennt das Geheimnis der Gewinnung von Lanolin, der Herstellung von Emulsionen und führt wertvolle gepresste Kräuter, spezielle Rezepturen sowie noch einige Töpfe der Lykusky-Creme mit sich. Und sie hat eine realistische und optimistische Einschätzung des Marktes gewonnen, den sie erschließen will: den der Kosmetik. Noch zögern Frauen, wenn es darum geht, sich so zu pflegen und zu schminken, wie es bislang nur Schauspielerinnen gestattet war. Aber die Australierinnen sind den viktorianischen Normen – für Frauen hießen die in erster Linie: Bescheidenheit, bloß nicht auffallen – längst nicht so streng unterworfen wie die Engländerinnen, die Frauen im Rest Europas und der Neuen Welt. Hier in Melbourne gibt es mehr Freiheit für die weibliche Bevölkerung, mehr Jobs, mehr Einkommen. Helena weiß sich am rechten Ort für die Umsetzung ihrer Idee, gute Gesichtscreme vom Geheimtipp zum gefragten Produkt zu befördern.
Was ihr noch fehlt, ist Kapital. Für die Anmietung eines Geschäftslokals reichen ihre Ersparnisse aus Toowoomba nicht, sie muss sich als Kellnerin verdingen. Fürs Erste mietet sie sich in einem Wohnheim ein, in der Küche darf sie experimentieren. Sie verteilt ihren restlichen Creme-Vorrat auf eine große Anzahl kleiner Dosen und gibt sie den verschiedensten Läden, meist Apotheken, in Kommission. In der „Maison Dorée“ und im „Winter Garden“, wo sie Getränke serviert, verdient sie wenig; der Gewinn ist immaterieller Art: Kontakte. Sie lernt einen Maler kennen, einen Weinhändler, einen Kunstdrucker und Mr Thompson, einen Tee-Importeur. Die Herren merken bald, dass die interessante kleine Polin keinen Mann sucht, sondern Rat und Unterstützung. Und es gelingt Helena, ihre Eroberungen in Freundschaften umzuwidmen: Alle vier Männer finden sich bereit, Miss Rubinstein bei der Gründung ihres Geschäfts zur Seite zu stehen. Mr Dillon, der Maler, weiß, dass in der Collins Street ein paar schöne Räume zur Miete angeboten werden, er sucht selbst ein Atelier und kennt sich aus. Besonders interessant wird Mr Thompson für sie. Der macht gerade die Erfahrung, wie wichtig gezielte Werbung für den Umsatz ist. Er rät Helena, in den Melbourner Tageszeitungen zu inserieren. Die ist sofort dazu entschlossen, doch solche Inserate sind teuer.
Einmal mehr blättert Helena in ihrem alten Notizbuch. Da gab es doch noch eine Lady auf dem Schiff, die nach Melbourne reisen wollte, um dort zu heiraten. Ja richtig, das war Helen McDonald, Helena macht sie ausfindig. Das Wiedersehen rührt beide, und als Helena zugibt, dass sie Geld brauche und auch erklärt, wofür, freut sich die alte Bekannte sogar. „Du musst an dich selber glauben, Helena, so wie ich an dich glaube“, sagt sie und leiht 250 Pfund her, ein Großteil ihrer Ersparnisse. Es dauert nur einige Monate, dann kann Helena den Betrag – mit Zinsen – zurückzahlen. „Es war die einzige Summe Geldes, die ich je geborgt habe. Aber ich habe es nicht bereut“, erinnert sie sich. Sie hasst es, Schulden zu machen und hat es dem eigenen Bekunden zufolge nur dieses einzige Mal getan.
Inzwischen ist Helena klar geworden, dass sie mehr braucht als einen Laden. Sie will ja nicht bloß Cremes verkaufen, sie will den Kundinnen eine Diagnose bezüglich ihres Hauttyps stellen und sie beraten, will ihnen eine Umgebung bieten, in der sie über ihr Aussehen nachdenken können, braucht Räume, Ambiente, Stimmung – und vielleicht bald auch Mitarbeiterinnen. Plato hatte eben nicht nur unrecht. Zwar sollen Frauen bitteschön kosmetische Erzeugnisse benutzen, aber der Gedanke, dass Schönheit von innen komme, ist nicht ganz abwegig. An die Ausstrahlung einer schönen Seele glaubt Helena zwar nicht, aber an Leibesübungen, gesunde Ernährung, Massage und Entspannung unbedingt. Über all das will sie mit den Kundinnen reden, ihnen Freude an ihrem Körper vermitteln. Dazu wäre ein geschmackvoll eingerichteter Salon eine wichtige Bedingung. Und jetzt, das kleine Kapital der englischen Freundin in Händen, kann sie den Schritt gehen. Sie berät sich mit Mr Thompson.
„Helena, du verkaufst nicht nur eine Creme, sondern ein Lebensgefühl. Die Einrichtung muss stimmen, die Raumtemperatur, die Beduftung. Überlass nichts dem Zufall.“
„Ich habe noch etwas weißen Musselin. Daraus wollte ich mir eigentlich ein Kleid nähen. Aber jetzt nehme ich den Stoff für die Vorhänge.“
„Und du brauchst unbedingt einen Namen für deine Creme! Ich rate zu Französisch. Die Eleganz dieser Sprache macht immer etwas her.“
Helena grinst ein wenig verschämt. „Ich habe schon einen.“
„Raus damit!“
„Was sagst du zu: Valaze …?“
„Hm. Äh … Valaze. Ist das reine Fantasie oder hat es eine Bedeutung?“
„Es ist ungarisch und bedeutet Geschenk des Himmels. Jakob Lykusky, der die Rezeptur erfunden hat, nannte sein Produkt einmal so. Ich habe es nicht vergessen.“
„Dann kommst du um den Namen nicht herum. Versuch es damit.“
Und so eröffnet Helena Rubinstein ihren ersten Schönheitssalon unter dem Namen:
Valaze Maison de Beauté.
Der Zuspruch in der weiblichen Bevölkerung der Stadt übertraf alle Erwartungen. „Die Frauen strömten nur so – manche kamen aus bloßer Neugier, denn von einem Schönheitssalon hatten sie noch nie etwas gehört. Die meisten aber blieben, um sich beraten zu lassen, und nur wenige gingen ohne einen Cremetopf mit handgeschriebener Aufschrift: Valaze nach Hause“, so Helena in der Rückschau. Tatsächlich bildeten die Kundinnen schon eine Stunde vor der täglichen Öffnung eine Schlange in der Collins Street, und Helena blieb nichts übrig, als im Salon zu übernachten, um anderntags rechtzeitig auf der Schwelle stehen und die Damen einlassen zu können. Sie verkaufte Cremes, Massage-Öle, erfrischendes Tonikum und Wattebäusche wie geschnitten Brot. Was aber die meiste Zeit kostete, waren ausführliche Gespräche mit den Kundinnen über einen Lebenswandel, der die Glätte und Reinheit der Haut beförderte. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde von der Wirksamkeit der Behandlung in Stadt und Land; die Ladies reisten aus den Nachbarstädten und sogar aus den Dörfern an, um sich von Miss Rubinstein behandeln zu lassen, und sie zahlten gut dafür. Aus Sydney gar kam eine Journalistin, um über die Melbourner Innovation für den Morning Herald zu recherchieren – und sie veröffentlichte eine Lobeshymne. Selbst Berühmtheiten kamen wegen Helenas Schönheitsinstitut in die Stadt; nach der Schauspielerin Nellie Stewart erschien die große Sängerin Nellie Melba, die nicht nur groß war im Sinne von großartig, sondern auch hoch gewachsen. Da stand die kurze Helena vor der langen Melba und wusste nicht recht, wie sie es anstellen sollte, deren Gesicht zu untersuchen, denn die Sängerin lehnte es ab, sich hinzusetzen. Sie war recht korpulent und fürchtete, der kleine Korbsessel, der für sie bereitstand, könnte unter ihr zusammenbrechen. Helena wusste, was sie ihren Klientinnen schuldig war. Sie holte einen Schemel, stieg darauf und beäugte Stirn, Nase und Wangen der berühmten Kundin.
„Sie haben eine Mischhaut. Ein Tonikum für Nase und Kinn und für die Wangen ein extra Tropfen Öl. Ich habe das Passende für Sie.“
Melba war sehr beeindruckt von der Sorgfalt dieser aparten Geschäftsinhaberin und erwarb einen ganzen Beutel voller Cremedosen, um sie an die weiblichen Mitglieder des Opernchors weiterzureichen. Inzwischen hatte sich im bedufteten Warteraum schon eine ganze Schar neuer Kundinnen eingefunden; Helenas erste Helferin, ein Nachbarsmädchen, schenkte Tee aus. Nellie Melba wurde von der Chefin persönlich hinausbegleitet, und nach dem Goodbye wandte sich Helena auf dem Absatz um und der nächsten Klientin zu.
Sie blieb stets ruhig und freundlich. Sie machte keine Pause. Sie arbeitete von früh bis spät im Salon und komponierte nachts noch in ihrem neuen Labor, das sie „Küche“ nannte – denn es wurde ja auch in der Küche eingerichtet –, spezielle Lotionen und Badezusätze. Wenn sie sich dann auf einer Liege im Behandlungszimmer ihres Salons zum Schlafen zusammenrollte, war sie so erschöpft, dass sie innerhalb von Minuten in tiefe Träume fiel. Ein Riesenvogel mit weißen Schwingen kam im ersten Traumbild angeflogen und krächzte: „Valaze, Valaze!“ Und packte sie mit großem Schnabel, sie umfasste seinen Hals.
So geschah es, dass Helena Rubinstein innerhalb weniger Monate ein Vermögen verdiente. Als erstes suchte sie Helen auf – die ebenfalls eine treue Kundin geworden war – und zahlte ihr den Kredit in bar zurück. Danach nahm sie sich eine neue Wohnung in der Nähe der Collins Street. Sie legte ihren Krakauer Spitzenkragen an und lud ihre Freunde und ausgewählte Kundinnen in ein edles Restaurant im mondänen Stadtzentrum ein. Sie hatte keine Angst mehr vor Fischbesteck und Konversation über Kunst. Aber in Gedanken war sie schon beim nächsten Schritt ihrer Unternehmenserweiterung: Den Service schaffte sie allein nicht mehr. Wie wäre es denn, wenn eine ihrer jüngeren, noch unverheirateten Schwestern herreiste und ins Business einstiege? Ferner musste sie die Produktion mengenmäßig erhöhen. Schon war die Zufuhr knapp geworden, Kundinnen, die per Post bestellten, wurden immer nur vertröstet. Doch auch was die Qualität betraf, war ihre Umsetzung der Valaze-Formel noch nicht vollkommen, das wurde Helena schmerzlich bewusst. Vor allem, wenn es darum ging, für verschiedene Hauttypen Cremes mit jeweils unterschiedlichen Anteilen von Öl und Adstringens zu kreieren, reichten Helenas Kenntnisse nicht aus. Es half alles nichts: Dr. Lykusky selbst musste zu ihr nach Australien kommen. Sie konnte ihm die Reise bezahlen und ihm eine Beteiligung für die Überlassung der Formel in Aussicht stellen. Helena schrieb ihm einen Brief. Zu ihrer großen Freude sagte er zu. Und noch jemand erklärte sich bereit, ihr zur Seite zu stehen: Ceska, die drittjüngste in der Geschwisterreihe, erst zweiundzwanzig Jahre alt. Egal, dachte Helena, Hauptsache, sie tut, was ich sage. Und wenn ich so zurückdenke: Als ich zweiundzwanzig war, brach es auch bei mir aus, das große Fernweh.
Ihren Gewinn reinvestierte Helena. Sie stellte Assistentinnen ein, die sie in Beratung und Behandlung schulte. Sie beschäftigte Ausstatter, Putzkräfte und eine Empfangsdame. Gleich nach ihrer Ankunft wurde Ceska von der großen Schwester erst einmal in die Buchhaltung eingeführt, glücklicherweise erwies sie sich als recht geschickt. Große Summen steckte Helena in die Werbung. Jetzt konnte sie den Namen des berühmten ungarischen Doktors der Chemie Jakob Lykusky aus Krakau in ihre Inserate einfließen lassen – das war eine vortreffliche Strategie, denn der Kosmetik haftete immer noch der Ruch einer unseriösen Quacksalberei an. Dr. Lykusky setzte da den nötigen aufklärerischen Akzent. Etliche Damen waren beeindruckt und trauten sich erstmals in den nunmehr rumdum seriös anmutenden Salon. „Meine Träume“, schrieb Helena, „waren praktischer Natur. Ich war entschlossen, dem vagen poetischen Unsinn über Elixiere ewiger Jugend und Schönheit ein für alle Mal den Garaus zu machen. Der einzig sichere Weg zur Schönheit war der wissenschaftliche Ansatz. Und ich wollte meine Träume verwirklichen. Das hieß, dass ich noch einiges zu lernen hatte.“
Dr. Lykusky traf in Melbourne ein, er hatte viel Creme und Wissen, aber wenig Zeit mitgebracht. Im Schnellverfahren lernte Helena, was er ihr über die Herstellung von Kosmetika zusätzlich beibringen konnte, gemeinsam entwickelten sie ein schonendes Gesichtswasser, eine Reinigungsmilch und eine parfümierte Seife. Über das Honorar und die Beteiligung des Doktors an ihren Umsätzen wurden sie sich schnell einig. So offen, stolz und nachdrücklich Helena von der wissenschaftlichen Basis für die Produktion ihrer Artikel sprach, so geheimnisumwittert blieb stets die Formel des Doktors für die Valaze-Creme. Die sollten nur sie und Lykusky kennen, da blieb sie stur. Und sie wusste genau, dass ein wenig Mystery gut fürs Geschäft war. Die Leute wollten nicht nur über die chemische Zusammensetzung einer Creme und die Art und Weise ihrer Wirkung unterrichtet sein, sie wünschten sich auch die Teilhabe an einem Hauch von Magie.
Bald wurde es Zeit, umzuziehen – in ein weitläufigeres Gebäude, ebenfalls in der Collins Street. Hier hatte Helena einen großen Raum für das Labor – „die Küche“ – zur Verfügung, sie konnte ihre Klientinnen in vier schönen, hellgrün gestrichenen Sälen versorgen, modische Möbel anschaffen und weitere Assistentinnen einstellen. Das war im Jahr 1905. Helena war nun fünfunddreißig Jahre alt und eine vermögende Frau. Sie hatte geschuftet wie ein Kutschgaul, im Grunde, seit sie dreizehn war, und sie hätte sich jetzt zurücklehnen und ein wenig das Leben im boomenden Melbourne genießen können. Aber das war nicht ihre Art. Sie dachte immer nur vorwärts. Und von Ceska und all ihren Mitarbeiterinnen verlangte sie einen ähnlichen Einsatz.
„Ach, Chaja“, sagte Ceska, die sich an den Namen Helena noch nicht gewöhnt hatte, „können wir nicht wenigstens heute am Sabbat ein wenig spazieren gehen?“
„Es sind noch Lieferantenrechnungen zu schreiben, und die neue Creme für trockene Haut muss bis zum Testlauf zweimal gerührt werden.“
„Eins möchte ich noch wissen, Schwesterherz. Was ist mit dir und Mr Thompson? Er schaut fast täglich vorbei.“
„Das will ich ihm auch geraten haben. Er leitet meine Werbeabteilung.“
„Und mehr ist da nicht? Du kennst ihn schon länger, hab ich gehört, und er sieht nicht übel aus.“
„Mein Kind, er ist verheiratet. Und selbst wenn er es nicht wäre – ich bleibe ledig. Was ist los, du bist doch mit Aufräumen fertig. Mach dich an die Rechnungen!“
Ceska hat ja recht, dachte Helena, der Laden läuft, ich könnte spazieren gehen. Und warum tu ich es nicht? Weil ich daran zweifle, dass der Erfolg anhält, weil ich mehr tun muss, um ihn zu sichern. Und weil mir die Eroberung Melbournes nicht genügt. Was ist mit den großen Städten in der Alten Welt?
Helena erzählte zwar jedem von ihrem Medizinstudium in Krakau, aber sie wusste nur zu gut, dass sie nie studiert hatte. Und wie die meisten Autodidakten sehnte sie sich nach einem Mehr an Kenntnissen, sie war auch bereit, manches dafür zu tun. Die Verwissenschaftlichung der Kosmetikindustrie würde nicht aufzuhalten sein, und sie war eine Vorreiterin dieser neuen Welle. Ihr Name und der ihres Unternehmens wurden mit dem Doktortitel des Herrn Lykusky und mit dem Schauplatz eines Labors voller Petrischalen, Bunsenbrenner und Erlenmeyerkolben assoziiert. Diesen Vorsprung musste sie ausbauen, für dieses Image ihres Geschäfts wollte sie alles tun. Neuerdings trug sie im Salon einen weißen Kittel, das sah sachlich-fachlich und medizinisch aus. Und sie verhandelte mit Spezialisten, denen sie die Herstellung ihrer Produkte in einer besonderen Fertigungsstätte anvertrauen wollte. Auch diese Herren trugen weiße Kittel. Schönheit war kein Wunder, sondern ein Produkt der Naturwissenschaft, der Forschung und maschinellen Herstellung. Als Botschafterin einer so verstandenen, menschenfreundlichen Verschönerungsindustrie wollte Helena in der Zukunft auftreten und selbst für ihre Erzeugnisse werben. Der weiße Kittel sollte ihr Alleinstellungsmerkmal sein, ihr Abzeichen und ihr Gütesiegel. Aber war sie auch schon kundig genug, um mehr als eine Fassade von Wissenschaftlichkeit zu bieten? Helena fühlte sich ein wenig wie eine Hochstaplerin. Das muss ich ändern, sagte sie zu sich. Ich muss mich ehrlich machen und dorthin fahren und studieren, wo das Wissen zu Hause ist: nach Europa. Jakob Lykusky hatte ihr von den Universitäten in Wien, Paris und Berlin erzählt, dort trieb man Chemie nach neuesten Methoden. „Man nennt Deutschland“, sagte er zu ihr, „die Apotheke der Welt.“ Ich muss mitten hinein, dachte sie, und die Professoren ausfragen. Kein Weg führt da drumherum. Ceska hat schon einen guten Überblick über die Abläufe im Salon. Sie wird mich vertreten.
Im Juni 1905 schiffte sich Helena noch einmal ein. Diesmal ging es zurück in die Alte Welt.
Ihre erste Station war natürlich Kazimierz, Krakau. Zehn Jahre war es nun her, dass sie ihre Eltern und Geschwister gesehen hatte. Helena oder Chaja, wie sie hier noch gerufen wurde, war seitdem nicht mehr gewachsen, äußerlich blieb sie die kleine Frau. Doch innerlich war sie reifer und größer geworden, sie hatte andere Städte gesehen und viele Menschen getroffen, sie hatte ein Unternehmen gegründet und immerhin gut 100.000 Pfund auf der Bank. Die Stadt, das Viertel erschienen ihr so klein. Nichts hatte sich verändert, die Gassen waren so eng, die Läden so muffig, das Zuhause so ärmlich wie je. Vaters Bart war weiß geworden, noch immer grollte er der ältesten Tochter – die Rubinsteins konnten sehr dickköpfig sein. Er begrüßte sie kurz und knapp, dann zog er sich in seine Bücherecke zurück.
„Chaja“, sagte Gitel, „mit deiner Reiselust wirst du nie einen Mann finden, das ist schon mal sicher. Sieh dir unsere bodenständige Rosa, sieh dir Regina und Pauline an – sie sind längst unter der Haube.“ Früher hätte sich Helena heftig widersetzt, doch jetzt ließ sie die Worte der Mutter einfach so stehen. Auch Gitel hatte sich nicht verändert – innerlich nicht. Äußerlich schon, sie war alt geworden, zittrig, Falten der Bitterkeit hatten sich um ihren Mund gegraben, sie ging gebeugt. Die Schwestern hingegen waren neugierig, schwärmten von Chajas elegantem Kostüm, bewunderten den kecken Hut und wollten alles wissen. Wie es Ceska denn erginge in der Ferne? Helena erzählte bereitwillig, merkte jedoch, dass sie selbst gar nicht so genau wissen wollte, wann Rosa und Regina ihre Kinder bekommen hatten. Sie war zur Exotin geworden, innerlich wie äußerlich. Sie berichtete von Australien, von Coleraine, Brisbane und Melbourne, von ihren Begegnungen mit Nellie Stewart und Nellie Melba und schließlich von ihrem Erfolg mit der Selbstständigkeit. Dabei achtete sie darauf, keinen Neid in ihrer Umgebung zu wecken und genug Interesse für das Geschick von Tante Rosa und Großmutter Rebecca zu bekunden. Doch die Nähe der früheren Tage stellte sich nicht mehr ein, sie war der Welt ihrer Jugend entwachsen. Das war schmerzlich für Helena, doch zugleich verdross sie der Stillstand, den sie wahrnahm, sie langweilte sich und wurde ungeduldig. Etwas in ihr hatte es immer gewusst: Es war richtig gewesen, in die Fremde zu gehen, die alte Welt hinter sich zu lassen. „Nichts hatte sich hier verändert. Die gleiche friedliche Bevölkerung ging gleichsam zeitlos ihrer Beschäftigung nach, bewegte sich durch die zwölf stillen Straßen, die wie ein Sinnbild der Machtlosigkeit auf ein und denselben großen Platz zuliefen. Das schlafende Krakau ließ mich besser verstehen, wie sehr ich mich verändert hatte. Diese Rückkehr in meine Geburtsstadt erwies sich als nützlich, weil sie mich überzeugte, dass ich meine Zukunft ganz allein in den Händen hielt.“ Sobald die Situation es erlaubte, verließ sie Kazimierz. Ihr nächstes Ziel war Wien. Unter dem Vorwand, wichtigen Terminen nachkommen zu müssen, sagte sie der Familie Lebewohl. Ihre Eltern sollte sie nicht mehr wiedersehen.
Und sie hatte wirklich einen wichtigen Termin. In Wien war sie mit Dr. Emmie List verabredet. Die Ärztin stand in dem Ruf, wirksam und nachhaltig Akne und andere Hautprobleme und Schönheitsfehler behandeln zu können. Durch regelmäßiges Auftragen gewisser Lotionen und Peelings gelang es ihren Patientinnen, innerhalb weniger Monate Narben und Hautflecken fast zu eliminieren, da sich das Gewebe unter den Masken ohne Makel erneuern konnte. Helena schaute sich, einer Praktikantin gleich, alles genau an, stellte Fragen und probierte aus. Die beiden Frauen trafen sich regelmäßig und wurden Freundinnen; Helena lud Emmie ein, sie in Australien zu unterstützen. Als nächstes stand Berlin auf ihrem Reiseplan. In der Reichshauptstadt traf sie den kosmetischen Chirurgen Dr. Eugen Holländer, der am Jüdischen Krankenhaus arbeitete. Er war der erste Mediziner, der eine Methode zur plastischen Brustoperation entwickelt hatte und erfolgreich Flechten und Warzen behandelte. Er verwendeteTinkturen, Salben und Heißluft. Auch von ihm konnte sie viel mitnehmen. Nach den Studien kam dann die Erholung, aber auch die war ein Studienobjekt. Helena nahm die berühmten Kurbäder des alten Kontinents in Augenschein, sie besuchte Spas in Baden-Baden, Brides-les-Bains, Budapest und Marienbad. Sie war begeistert von den Anwendungen und spürte am eigenen Leib, wie warmes Wasser, Dampf, Packungen, Wassertreten und Schlammbäder sie entspannten. Ihre Gesichtszüge wurden weicher, ihre Haut seidiger, und in ihr Herz zog Heiterkeit ein. Das schmackhafte und frisch zubereitete Essen, das Heilwasser, von dem man täglich mehrmals trank, das umfassende Umsorgtwerden, das Nichtstun-Müssen taten ihr gut. Schönheit kommt eben auch von innen, das wusste sie zwar, spürte es jetzt aber hautnah.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist das Publikum. Helena beobachtet es genau und fühlt sich in seine Bedürfnisse ein. Kuren sind ein Privileg der Aristokratie und des wohlhabenden Bürgertums. Entsprechend einladend präsentieren sich das Ambiente und die Atmosphäre der Spas, Exklusivität und Luxus sind ein essenzieller Bestandteil, der selbstverständlich teuer verrechnet wird. Schönheit und Erholung haben ihren Preis, müssen ihren Preis haben, sonst würde ihre segensreiche Wirkung verpuffen. Solche Kuren wird sie ihr Leben lang als Angebote beibehalten und ausbauen, viele Elemente davon in ihren Schönheitssalons praktizieren – die Kundinnen sollen dort nicht ihre Sorgen überschminken, sondern sich erholen und wohlfühlen wie in einem Kurzurlaub in einer Oase. In Wiesbaden besucht sie Dr. Joseph Kapp, Direktor eines Thermalbads, dessen Vorläufer bereits in die Römerzeit zurückreichen. Kapp behandelt als Experte Venenleiden, kümmert sich aber auch um Hautprobleme. Genau schaut sie sich seine Methoden beim Erstellen von Diagnosen an, um sie später selbst auszuüben. Der Arzt wird für sie zum Leitbild; wann immer sie medizinischen Rat braucht, wird sie sich an ihn wenden.
Von Deutschland aus reist Helena nach Frankreich in die Hauptstadt. Hier in Paris verwöhnt sie sich auf andere Weise – sie geht einkaufen. Und zwar richtig teuer. Sie hat ordentlich verdient, jetzt gönnt sie sich was. Neben Juwelen und Goldschmuck erwirbt sie vor allem Kleidung, und zwar Haute Couture. Begeistert ist sie von den Kreationen des Begründers der gehobenen Schneiderei, Charles Frederick Worth, und von Jacques Doucet. Sie ist ja nicht als Touristin unterwegs, daher schaut sie genau hin, wie die Geschäfte, Salons und Umkleideräume angelegt und ausgestattet sind. Ihr gefällt die schlichte Eleganz und die sehr persönliche Betreuung, die jeder Kundin, jedem Kunden zuteil wird. Sie kauft auch ihre ersten Kunstwerke, meist Gemälde zeitgenössischer Meister.
All diese Dinge erfüllten drei Funktionen: Sie verliehen ihr selbst, Helena, Schönheit und Eleganz und luden zugleich die Marke Rubinstein mit Exklusivität und Luxus auf, waren also „Marketing“ – auch wenn es diesen Begriff noch gar nicht gab. Da Marke und Person in ihrem Fall ein und dasselbe waren, unterschied sie hier nicht, sie war schließlich die Botschafterin ihres Unternehmens. Und drittens war der Erwerb einzigartiger Dinge zugleich eine Investition in solide Vermögenswerte, das hatte Helena schon in ihrer Jugend erkannt. Juwelen, Modellkleider und Gemälde gaben der alleinstehenden, zierlichen Frau Rubinstein eine Sicherheit, die sich behaglich anfühlte. „Haute Couture und Schönheit gehen Hand in Hand“, war einer ihrer Leitsätze.
In Paris suchte Helena auch renommierte Chemiker und Ärzte auf, deren Erkenntnisse ihr bei der Herstellung guter kosmetischer Produkte hilfreich sein würden. Marcelin Berthelot war fast achtzig Jahre alt, als sie ihn traf, er brachte der wissbegierigen Frau allerhand bei. Mit ihm erörterte sie ihre Theorie, dass es unterschiedliche Hauttypen gäbe. Bei anderen Dermatologen erfuhr sie, wie sich die Hautschichten regenerieren, wie man die Elastizität der Haut erhalten und die Faltenbildung verzögern kann.
Einige Ärzte jedoch nahmen sie nicht ernst. „Junge Frau, zerbrechen Sie doch nicht Ihr hübsches Köpfchen mit derart komplizierten Dingen. Sie werden ohnehin nicht alles verstehen. Der Platz einer Frau sollte im Haus sein, nicht im Labor.“ Helena kümmerte sich nicht weiter darum, solche Reaktionen war sie gewohnt, auch wenn sie ärgerlich waren. Manchmal dachte sie und musste dann unwillkürlich lächeln: Jaja, mein Platz ist in der Küche, da haben Sie ganz recht. Aber es ist meine Art von Küche, es stehen Forschungsinstrumente darin …
Ihr Leben lang sollte sie als Unternehmerin in der Kosmetikbranche auf eine Aura von Wissenschaftlichkeit Wert legen, doch sie war immer auch pragmatisch. Wenn jemand nicht mit ihr reden wollte, ließ sie ihn einfach stehen. Es gab genügend andere Forscher und Ärzte, die ihr Wissen nur allzu gern weitergaben, Männer im weißen Kittel, die sich freuten, wenn jemand fragte, auch wenn dieser Jemand ungewöhnlicherweise eine Frau war.
Neben den Koryphäen der Wissenschaft besuchte Helena medizinische Massagesalons. Ja, davon gab es einige, aber sie hatten wenig Ähnlichkeit mit Helenas Melbourner Institut. Hier wurden Methoden wie in den Kurbädern angewandt, außerdem gab es Behandlungen mit Licht und Elektrizität und natürlich Massagen. Helena klopfte alle Anwendungen daraufhin ab, ob sie in ihren Salon passen könnten. Sie war überzeugt, dass Bewegung, Gymnastik und gesunde Ernährung wesentlich zu einem schönen Äußeren beitrugen, auch wenn sie selbst in diesem Bereich nicht besonders aktiv war. „Mein Rezept, um gut auszusehen, ist harte Arbeit“, pflegte sie zu sagen. Und ihre Arbeit, das war ihr Unternehmen – mit „Küche“, Behandlungen, Verkauf, Kostenrechnung und Organisation. Das hatte mit Gymnastik und Entspannung nichts zu tun, aber mit Leidenschaft. Und diese ihre große Begeisterung für ihre Schöpfung: das Rubinstein-Kosmetik-Unternehmen, machte nicht nur ihren Betrieb groß, sondern erhielt auch sie selbst schön.
Es wurde Zeit, nach Melbourne und in den Umkreis des Valaze-Salons zurückzukehren. Das Jahr 1907 hatte begonnen. Helena fürchtete plötzlich um den Bestand ihres Salons, sah Ceska am Ende ihrer Kräfte und die Fabrikation ihrer Creme gefährdet und hatte nun kein anderes Bestreben mehr als die Heimkehr. Unterwegs auf dem Schiff dachte sie lange über sich selbst und ihre Welt nach. Einst war sie als arme Auswanderin in Australien gelandet, jetzt kehrte sie mit großem Gepäck dorthin zurück: mit Kisten voller Kleider der besten Pariser Couturiers, mit Leinwänden moderner Maler und mit Kladden voller Erkenntnisse der kundigsten Chemiker und Ärzte aus Paris, Wien und Berlin. Der Weg war geebnet, sie konnte ihn weiter gehen. Sie war eine Pionierin auf dem Pfad einer ganz neuen Branche: der Schönheits-Industrie. Aber was hieß das für sie als Mensch? Als Frau? War sie ausgewandert, um ein Unternehmen zu gründen? War das ihr Ziel gewesen? Nein, es hatte sich anders abgespielt – sie war auf der Flucht gewesen. Sie war davongelaufen – aber wovor? Eine Weile musste sie darüber nachdenken, obwohl es doch auf der Hand lag. Sie war geflüchtet vor den Wünschen, den Vorstellungen, den Befehlen ihrer Eltern, vor den Wegweisungen ihrer Gemeinde und ihres Milieus, die nur eines von ihr gefordert hatten: zu heiraten, so jung wie möglich, und ihrem Gatten, ob er ihr nun gefiel oder nicht, jede Menge Kinder zu „schenken“. Sie war geflohen vor Schmuel aus Kazimierz, vor dem kauzigen Engländer auf dem Schiff, vor den Übergriffen des Onkels in Coleraine und vor dem artigen Antrag jenes Sattlers, der mit Onkel Bernhard befreundet war. Sie war weggelaufen, abgehauen – stets vor Lebensperspektiven, die sie einem Mann untertan gemacht hätten, wie gut auch die Absichten und wie gut gemeint die Empfehlungen waren, die dahinter steckten. Sie hatte sich in Sicherheit bringen wollen – und dabei, fast wie nebenbei, für sich selbst einen neuen, einen nicht-familiären Lebenszweck gefunden und ein Geschäft eröffnet, das wunderbar florierte. Sie hatte Geld verdient und wollte mehr aus der Valaze-Sache machen, sie ahnte, dass sie auch woanders großen Erfolg haben würde. Aber etwas war dabei auf der Strecke geblieben. Wer erwartete sie denn jetzt in Melbourne? Ceska – und einige treue Kundinnen. Wer noch? Es gab keine Liebe in ihrem Leben. In der Familie, das hatte sie gerade erst in Kazimierz erlebt, war sie nur noch eine Figur aus älterer Zeit, eine Tochter und eine Schwester, die einen unerhörten, im Grunde abzulehnenden Weg eingeschlagen hatte. In Melbourne war sie eine Ikone aus neuerer Zeit – aber wer freute sich dort wirklich auf sie? Helena seufzte tief, als sie an Land ging. Sie konnte sich drei Kutschen zur Collins Street leisten, für sich selbst und all ihr Gepäck. Aber niemand war da, der sie am Hafen willkommen hieß. „Sei es, wie es sei“, sagte Helena ein wenig grimmig zu sich selbst, „ich stehe zu allen meinen Entscheidungen, zu all meinen Fluchten. Und wenn es nur meine Küche ist, die mich willkommen heißt, ich bereue keinen einzigen Schritt, den ich hinaus aus Kazimierz und hinein in die Welt getan habe.“ In ihren Lebenserinnerungen schrieb sie: „Als ich nach Australien zurückfuhr, war ich voller großer Pläne für die Zukunft. Meine Zeit in Europa hatte mich einmal mehr davon überzeugt, dass das Werk, das ich zu meinem Lebensinhalt erkoren hatte, mich ganz und gar ausfüllte. Ich hatte weder Zeit noch Aufmerksamkeit für irgendetwas anderes.“