Kitabı oku: «Der blaue Vorhang», sayfa 3
II
Die Quellen der Kunst
Die Ankunft ihrer Mutter in Wien war eine große Erleichterung für Isadora gewesen. Das familiäre Nest war ihr immer noch wichtig; sie brauchte ihre Duncans um sich herum als Anreger, Fürsprecher, Trostspender und Hilfskräfte. Und nachdem sich die Ersatzfamilie rund um Loïe Fuller in all diesen Hinsichten als untauglich erwiesen hatte, war Isadora umso erfreuter, die Mutter wieder in die Arme zu schließen. Es war schwer genug für sie gewesen, Fehlschläge wie in Berlin, wo sie im Schatten Fullers nur Achtungserfolge erzielen konnte, allein wegzustecken. Aber ein Triumph, so rauschend wie der in Budapest, musste erst recht geteilt werden! Dass Mrs Duncan so eilends gekommen war, rechnete ihr die Tochter hoch an. Doch nun … Nun, nach der Begegnung mit Oscar Beregi, überlegte sie hin und her, wie sie es anstellen könnte, sich von der Mutter loszueisen. Sie streifte wieder einmal allein durch die Straßen der Stadt und über die Brücken, sie schaute über die Donau hin, beobachtete die Boote und warf Steinchen ins Wasser. ›Als Erstes‹, dachte sie, ›werde ich mit Mutter in die Vorstellung von Romeo und Julia im Nationaltheater gehen. Auch wenn ich kein Wort verstehe, ich muss diesen Jungen auf der Bühne sehen.‹ Was hatte er zu ihr gesagt? »Sie haben ein Gesicht wie eine Blume.« Sein Englisch war unvollkommen, er mischte Deutsch hinein, aber es reichte für die Verständigung. Sie hatten eine ganze Weile miteinander geredet. War sie ihm zu oft ins Wort gefallen? Mit ihren Lieblingsthemen, dem Solarplexus, der antiken Tragödie und den deutschen Philosophen? Nein, er hatte gelächelt, während sie sprach und ihr anvertraut, dass er für die Rolle des Marc Anton in Shakespeares Julius Cäsar vorgesehen sei. Für eine Aufführung von Romeo und Julia wolle er beste Plätze für sie und ihre Mutter buchen und an der Theaterkasse hinterlegen lassen. ›Was soll ich anziehen?‹, dachte sie jetzt auf der Brücke, ›das seidene Reformkleid, dazu Blumen im Haar, echte, ungarische Frühlingsblumen, wilde womöglich, gepflückt auf der Donauinsel … Diesmal‹, sagte sie zu sich, ›ist es Liebe‹. Dessen war sie sich sicher. Nur wie sie mit Beregi irgendwohin, wo niemand war, verschwinden könnte, das wusste sie noch immer nicht. ›Er ist ja auch noch da‹, seufzte sie, ›er wird schon einen Weg finden, er kennt sich hier aus.‹
Und so kam es. Nach der Aufführung von Shakespeares Tragödie, in der Beregi kühn seine glühendsten Liebesworte in Richtung Proszeniumsloge sprach, wo, wie er wusste, die schöne Tänzerin saß, lud Beregi Isadora und ihre Mutter in seine Kutsche ein und fuhr sie zum Hotel. Dort soupierte er mit beiden Damen und etlichen weiteren Theaternarren, und es ergab sich, o Wunder, dass Mrs Duncan sich um Mitternacht in ihre Suite zurückzog und auch die anderen Bewunderer sich zerstreuten. Das Paar blieb allein. Sie plauderten, machten Pausen und sahen einander an. Die Pausen wurden länger, und sie lächelten nicht mehr, wenn sie sich in die Augen schauten. Da ergriff Beregi Isadoras Hand und sagte:
»Komm mit mir. Ich kenne einen Landgasthof, dort sind wir allein. An der Rezeption hier im Hotel hinterlegen wir ein Billett für deine Mutter. Komm.«
Isadora stand auf, ohne seine Hand loszulassen, und ging mit ihm hinaus. Sie stiegen in die Kutsche und begannen dort, sich zu küssen. Der Gasthof lag weit vor den Toren der Stadt, es war Zeit genug für viele Küsse.
Oscar Beregi hatte nichts dagegen, Isadoras erster Liebhaber zu sein, ja, er genoss die überraschende Rolle und spielte sie mit Inbrunst und Ausdauer. Isadora selbst hatte diese überfällige erste Nacht lange herbeigesehnt, aber auch gefürchtet. Sie ging in das Abenteuer hinein in dem Bewusstsein, jetzt etwas zu erleben, das ihrer Kunst einen ganz neuen Impuls geben könnte. Zugleich aber fürchtete sie, dass die Liebe sich als stärker erwiese als ihr Ehrgeiz und ihrer Laufbahn ein Ende machte. Also litt sie in den Armen ihres Geliebten, nicht nur, weil der sexuelle Akt ihr wehtat – »Ich schrie vor Schmerz« –, sondern auch, weil sie ahnte, dass da etwas auf sie wartete, das stärker wäre als die Genugtuung des Applauses im Blendlicht der Scheinwerfer. Sie wehrte dieses unbekannte Glück instinktiv ab, weil sie ja sie selbst bleiben wollte, Isadora Duncan, die Botschafterin einer neuen Tanzkunst. Zugleich aber war es ihr zuwider, unberührt und unwissend zu sein, und sie reckte sich nach der neuen Erfahrung mit all ihrer Kraft. Beregi versicherte ihr, dass der Schmerz vergehe und sie statt seiner ein Lustgefühl erleben werde »wie der Himmel auf Erden«. Er hatte nicht zu viel versprochen. Die beiden gaben einander Zeit und nahmen sich die Zeit, und Oscar Beregi wusste, was er seiner Blume schuldig war. Die kam nach und nach wieder zu sich. »Um Himmels willen, Oscar«, sagte sie, »ich hab heute Abend Vorstellung!« Er erwiderte: »Und ich auch!« Jetzt war keine Zeit mehr zu verlieren. Der Kutscher schlug auf die Gäule ein, um sie in den Galopp zu treiben. »Küss mich noch einmal«, sagte Oscar und bat sie, nach ihrem Auftritt auf ihn zu warten. Isadora tanzte die Iphigenie zur Musik von Christoph Willibald Gluck in einem Zustand der Benommenheit und der Selbstvergessenheit, aber ihr treues Publikum jubelte und klatschte wie sonst auch. ›Bin ich eine andere geworden?‹, befragte sie sich. ›Nein, ich bin ich selbst geblieben. Ich bin sogar noch mehr ich selbst.‹ Und mit ausgestreckten Armen trat Isadora an die Rampe und verbeugte sich tief.
Die Mutter war natürlich sehr durcheinander und voller Sorge um ihre Dorita, sie sah der Tochter ins Gesicht, zuckte die Achseln und dachte sich ihr Teil. Isadora verkroch sich in ihr Hotelzimmer, sie wollte allein sein und herausfinden, was sie fühlte. Das war nicht leicht. Sie las in Nietzsches Also sprach Zarathustra, aber anders als sonst sprach der Philosoph heute nicht zu ihr. Sie versuchte zu schlafen. Sie stand wieder auf, kleidete sich an und lief hinaus in die Nacht und an den Fluss. Es war unüblich zu jener Zeit, dass eine ehrbare Frau nachts allein umherlief, und so musste Isadora mehr als einmal vor besorgten oder zudringlichen Budapestern flüchten. Schließlich kehrte sie ins Hotel zurück – um dort zu erfahren, dass Elizabeth telegrafiert hatte: Sie würde am nächsten Tag eintreffen. Isadora machte vor Freude einen Sprung. Hier war ja doch ihr Herz zu Hause: in der Familie. Sie trank am nächsten Morgen Kaffee mit ihrer Mutter und sagte zu ihr:
»Ich glaube, ich habe das erste Mal in meinem Leben richtig viel Geld verdient.«
»So ist es, meine Kleine. Unser Konto ist gut gefüllt. Wenn das so weitergeht, können wir uns öfter mal eine Mietkutsche leisten.«
»Alexander hat eine Tournee für mich gebucht. Er will mich in lauter fashionablen Bädern herausbringen, Karlsbad, Marienbad und Franzensbad. Ich glaube, das ist eine gute Idee. Das Publikum dort ist nicht nur aufgeschlossen, es hat auch Geld.«
»Und Ansprüche«, sagte die Mutter.
Isadora fuhr auf. »Wie? Meinst du, ich hätte nachgelassen? Gestern Abend –«
»Du warst unkonzentriert, mein Kind. Du hast zwei Einsätze verpatzt. Kein Wunder nach drei Tagen ohne Proben. Die Leute haben es nicht gemerkt, sie lieben dich eben. Aber das geht nicht. Ich weiß, dieser Herr Beregi hat es dir angetan, und ich habe Verständnis. Aber du musst deine Verpflichtungen erfüllen. Deine Kunst darf nicht leiden.«
Isadora sah in ihre Tasse. »Mutter«, flüsterte sie, »steht die Liebe über der Kunst?«

Isadora in der Rolle der Priesterin in »Iphigenie auf Tauris« von Christoph Willibald Gluck, um 1903/04
»Die Kunst ist Liebe. Liebe zur Wahrheit. Zur Schönheit. Und sogar zum Publikum.«
»Das meine ich nicht. Ich meine die Liebe Julias zu Romeo. Oder Eurydikes zu Orpheus. Die Wollust. Die Seligkeit. Kann mich all das wegreißen von der Bühne, von meinem blauen Vorhang? Sag mir, muss ich das fürchten?«
Die arme Mrs Duncan wusste nicht, was sie antworten sollte. Natürlich gab es diese Gefahr. Aber es wäre für sie selbst und für die gesamte Familie eine Katastrophe, wenn Isadora ausfiele. »Du stehst doch erst am Anfang deines Weges«, sagte sie leise, »geh ihn weiter.« In Isadoras Memoiren finden sich diese Sätze: »Mein Leben kannte nur zwei Leitgedanken – die Liebe und die Kunst. Oft zerstörte eine Liebe die Kunst, und oft beendete der herrische Ruf der Kunst tragisch eine Liebe. Die beiden standen in einem ewigen Kampf miteinander.« Damals in Budapest hat der Kampf begonnen.

Elizabeth kam an, die Frauen der Familie waren wiedervereint und wussten alle drei nicht, wie sie es so lange ohne einander ausgehalten hatten. Für Isadora aber gab es jetzt noch ein Magnetfeld außerhalb der Familie, das sie stärker anzog, als sie selbst es wollte; doch wenn sie in Oscar Beregis Armen lag, war ihr alles andere egal. Sie war rettungslos verliebt, er war es ebenso, aber abends mussten sie beide auftreten und durften keine Einsätze verpatzen. Beregi war ein offener Charakter und ein Mann der Tat, er fand es nur richtig und natürlich, dass er und seine amerikanische Julia heiraten sollten.
»Du weißt es, ich habe es dir gesagt – für mich kommt eine Ehe keineswegs in Frage«, sagte Isadora mit fester Stimme.
Er breitete die Arme aus. »Dann lass es eine wilde Ehe sein. Hauptsache, wir sind zusammen.«
»Aber – wie stellst du dir unser Leben vor? Ich werde nächste Woche auf Tournee gehen, und ich denke nicht daran, die Gastspiele abzusagen. Und du … du probst den Marc Anton …«
»Richtig. Und du kannst diese Rolle mit mir üben. Dein Urteil bedeutet mir alles. Was meinst du – wäre denn die Rolle als Frau an meiner Seite für dich so gänzlich unannehmbar? Du sitzt abends in der Loge und sagst mir in der Nacht bei einem Glas Tokajer, was ich noch ändern sollte?«
Und ehe Isadora antworten konnte: ›Wie wär’s, wenn ich des Abends auf der Bühne stünde und du zuschautest‹, hatte Beregi sie um die Taille gefasst und hinausgeleitet, um mit ihr eine Kutschfahrt anzutreten. Es ging zu einem Haus, in dem Oscar eine Wohnung für sich und seine Liebste mieten wollte. »Wie findest du es hier? Für den Anfang würde es genügen. Die Küche ist ganz neu eingerichtet.« Isadora stöhnte. Er küsste sie, und sie sagte:
»Ich möchte jetzt sofort mit dir ins Bett.«
»Einverstanden. Aber nur, wenn du mich heiratest.«
Nach und nach begriff Beregi, dass seine Geliebte es ernst meinte, wenn sie sagte, ihre Kunst stünde für sie an erster Stelle und sie wolle niemals eine Ehe eingehen. Er fand sie auf der Bühne ja auch so überwältigend, dass er ihr diese Einstellung zugestand. Andererseits hielt er sich selbst für die beste Partie der Welt, und deshalb hoffte er immer noch, dass sie es sich überlegen würde. Das hoffte er auch um seiner selbst willen. Denn schließlich: Hatte er jemals eine so leidenschaftliche Geliebte besessen? Die dazu noch unberührt in seinen Armen angekommen war? Eine Frau, die so wundersame Worte zu sagen wusste über seine Haare, seinen Mund, seine Stimme und sogar über seine Füße? Nein, das hatte er nicht. Einstweilen aber war sie unterwegs nach Franzensbad, und Oscar vertiefte sich in den Marc Anton.
Für Isadora war die Tour durch die Bäder eine Qual. Sie war so erfüllt von Sehnsucht nach Oscar und so unglücklich über seine Abwesenheit, dass sie keinen Schlaf fand und der Appetit ihr verging. Trotzdem trat sie auf und tanzte zu Gluck, Chopin und Wagner. Bald sah sie abgezehrt aus und musste ihre Tuniken enger stecken, man hätte sonst ihre schmale Gestalt in den wallenden Gewändern kaum noch wahrgenommen. Schließlich fiel sie krank aufs Lager. Glücklicherweise gab es in Franzensbad gute Ärzte. Die Mutter fütterte ihr Kind mit Rinderbrühe, Elizabeth half der Kranken bei der Wasserkur, aber es wurde nicht besser. Beregi erfuhr von ihrem Zustand und kam kurz entschlossen angereist. Er schlich sich sogar für die Nacht in ihr Krankenzimmer und sorgte so für eine nachhaltigere Therapie. Die Krankenschwester wurde wütend, als sie ihn entdeckte und warf ihn kurzerhand hinaus. Aber er blieb in der Nähe und besuchte Isadora täglich. Allmählich kam sie wieder auf die Beine. Sie liebte ihren Oscar und er sie, aber er musste wegen der Premiere des Julius Cäsar zurück nach Budapest und sie mit Mutter und Elizabeth weiter nach Karlsbad. Sie bemühten sich beide, dem Pathos der getrennten Liebenden Inspiration für ihre Bühnenpräsenz abzugewinnen, fühlten und wussten aber, dass es so nicht weitergehen konnte und eine Entscheidung anstand. Sie entschieden sich für die Trennung. Aber sie blieben einander gewogen und sahen sich später wieder.

Alexander Grosz übte keinerlei Druck auf seine Tänzerin aus, ganz im Gegenteil, er tröstete und besänftigte sie, wenn sie weinte, weil sie sich zu krank fühlte, um aufzutreten.
Er sagte: »Ich verstehe Sie gut, Isadora. Oscar Beregi ist ein großartiger Schauspieler und ein umwerfend schöner Mann. Wer könnte ihm widerstehen? Wäre ich eine Frau …«
Isadora putzte sich die Nase. »Schon gut, Alexander. Ich danke Ihnen für Ihre Sympathie. Aber was soll ich tun? Ich bin hin- und hergerissen. Oscar, die Bühne, der Mann, die Kunst –«
»Natürlich, das ist ein Konflikt. Aber ich denke, verzeihen Sie, auch ans Geschäft. Wir können uns noch fünf, sechs Tage ohne Auftritt leisten, dann wird es finanziell eng. Was halten Sie von München? Ich hätte da Verbindungen.« Isadora maß in Gedanken den Abstand von Budapest nach München und nickte traurig.
Ihren Trennungsschmerz verwandelte sie in Kunst. Sie ersann eine Variante der Geschichte von Iphigenie, einen Tanz, der den Abschied vom Leben am Altar des Todes darstellt. Für eine endgültige Genesung begab sie sich mit Elizabeth ins mondäne Seebad Abbazia (Opatija) auf der Halbinsel Istrien, den ersten Kurort an der österreichischen Adriaküste. Die beiden Frauen fuhren die schmale Küstenstraße auf der Suche nach einer Unterkunft rauf und runter und erregten so die Aufmerksamkeit der Leute in dem kleinen Ort, auch die des Erzherzogs Ludwig Viktor, des jüngsten Bruders vom österreichischen Kaiser. Ludwig Viktor, ein bekennender Uranier, lud die beiden kurzerhand in seine Villa im Garten des Hotels Stephanie ein, dort konnten sie wohnen. Das wiederum löste eine nicht geringe Irritation in den aristokratischen Kreisen des Kurortes aus, die sich neugierig an die Tänzerinnen wandten – doch nicht etwa aus Interesse an der Kunst, nein, die meisten wollten herausfinden, in welchem Verhältnis die Frauen zu Ludwig Viktor standen. Die Schwestern ließen es sich gut gehen, speisten ausgiebig und gingen schwimmen, natürlich nicht in dieser Reihenfolge. »Damals führte ich ein Badekostüm ein, das bald sehr beliebt wurde, eine leichte blaue Tunika aus hauchfeinem Crêpe de Chine, mit tiefem Nackenausschnitt, dünnen Trägern, einem Rock, der eben die Knie bedeckte, die Beine nackt. Es war noch üblich, vollständig in Schwarz gekleidet mit knöchellangen Hosen und Schuhen ins Wasser zu gehen. Man kann sich vorstellen, was für ein Aufsehen ich erregte. Der Erzherzog wandelte stets mit einem Opernglas bewehrt die Promenade entlang und beobachtete uns. Gut hörbar murmelte er: ›Ach, wie schön ist diese Duncan. Ach, wie wunderschön! Diese Frühlingszeit ist nicht so schön wie sie.‹«
Jener paradiesische Flecken Erde inspirierte Isadora Duncan zu einer wiederkehrenden Stilfigur ihrer Kunst. Denn hier in dem gemäßigten Klima wuchsen Palmen direkt vor ihrem Fenster, sie konnte sie oft beobachten.
»Ich bemerkte, wie die Palmblätter sich in der Morgenbrise wiegten und kreierte ähnliche Bewegungen für meinen Tanz, etwa das Flattern der Arme, Hände und Finger. Viele meiner Nachahmerinnen haben das zu kopieren versucht, ohne dass sie überzeugen konnten. Denn sie wussten nichts von der Quelle dieser Bewegungen, dem kontemplativen Zittern der Palme, und konnten sie daher nicht innerlich empfangen, bevor sie äußerlich Gestalt annahmen.«
Grosz kabelte, er habe da eine Anfrage: »Münchner Künstlerhaus. Stop. Was meinen Sie?« Von diesem Etablissement hatte Isadora gehört, es war erst vor wenigen Jahren unter dem Motto Das Haus soll allen Künstlern Münchens ein Sammelplatz sein für Frohsinn, Rat und ernste Tat eröffnet worden – ein opulent ausgestatteter Neorenaissance-Bau, der wegen seiner ungewöhnlichen Fassade ins Auge fiel. »Dort traf sich täglich ein Kreis von Künstlern um die Meister Kaulbach, Lenbach und von Stuck, um das gute Münchner Bier zu trinken und über Philosophie und Kunst zu debattieren.« Die Duncans und Grosz fuhren im November 1902 nach München, und Isadora trat im Künstlerhaus auf. Aber das war nicht selbstverständlich, es gab im Vorfeld Widerstände gegen den Auftritt einer Tänzerin, insbesondere von Franz von Stuck. Der Jugendstilmaler fand eine leicht bekleidete, barfuß tanzende Frau unpassend in diesem Tempel der Kunst. Dabei hatte sich der Mann über Jahre mit dem Thema Tanz in Paar- und Reigentänzen sowie einzeln tanzender Frauen intensiv beschäftigt. Also glaubte er kompetent zu sein und fürchtete, Isadora würde ihn enttäuschen oder, schlimmer noch, den Kunsttempel mit vulgärem Exhibitionismus entweihen. Wenn Isadora solchen Vorbehalten begegnete, trat sie meist einen Schritt auf die Menschen zu. Eines Morgens besuchte sie also den Künstler in seiner von ihm selbst errichteten großartigen Villa in der Prinzregentenstraße, zog sich um, tanzte für ihn in ihrer Tunika und setzte ihm anschließend über Stunden »die Heiligkeit meiner Mission – die Wiedergeburt der Religion mit den Mitteln des Tanzes« auseinander. »Später erzählte von Stuck, wie er mir anvertraute, seinen Freunden gern, dass er selten in seinem Leben so überrascht gewesen sei. Es habe sich für ihn angefühlt, als sei eine Waldnymphe vom Olymp herab in sein Atelier gestiegen. Natürlich gab er seine Zustimmung.«
Isadora hatte einen Riecher für die richtigen Orte ihrer Auftritte. So tanzte sie auch im Kaim-Saal in der Maxvorstadt, wo Arthur Schnitzlers Reigen uraufgeführt wurde und die weltweit erste Eurythmie-Vorführung stattfand. Und sie sorgte auch hier für eine Sensation. »Der Erfolg war unglaublich. Besonders die Studenten gebärdeten sich wie verrückt. Nacht für Nacht spannten sie die Pferde meines Wagens aus und zogen mich durch die Straßen. Dazu schmetterten sie ihre Studentenlieder und liefen mit Fackeln neben meiner Kutsche her. Oft standen ganze Gruppen stundenlang vor meinem Hotelfenster und sangen, bis ich ihnen Blumen und Taschentücher zuwarf, um die sie sich dann balgten, weil sie sie auf ihre Kappen heften wollten.«
Isadora ließ sich von diesem Enthusiasmus anstecken, in einem Studentencafé tanzte sie tatsächlich auf den Tischen, was in der Satire-ZeitschriftSimplicissimus Erwähnung fand. Sie schrieb in ihren Memoiren: »Die jungen Leute tanzten die ganze Nacht, ein wiederkehrender Refrain war ›Isadora, Isadora, ach, wie schön das Leben ist‹. Obgleich einige nüchterne Bürger der Stadt schockiert reagierten, blieb es doch ein unschuldiger Spaß – auch wenn mir Kleid und Schal regelrecht zerrissen wurden.«
Eines Abends entdeckte Isadora bei einem Auftritt im Künstlerhaus in der ersten Reihe das Profil eines Mannes, das ihr bekannt vorkam. Diese markante Nase, die hohe Stirn und die auffälligen Augenbrauen hatte sie schon irgendwo gesehen. Es war der seinem Vater sehr ähnliche Siegfried Wagner, der da begeistert applaudierte. Isadora war begierig zu hören, was der Sohn des hochverehrten Komponisten zu erzählen hatte. Siegfried Wagner war bei Engelbert Humperdinck in die Lehre gegangen, der bald in Berlin ein wichtiger Unterstützer Isadoras werden sollte. Jetzt kam Wagner mit einem Liliengebinde zu ihr in die Garderobe und sagte:
»Miss Duncan, was Sie auf der Bühne machen, davon könnten wir auch in Bayreuth eine Menge lernen. Wären Sie bereit, für unsere Festspiele zu arbeiten?«
Isadora lächelte erst einmal nur, wie sie es meistens tat, wenn sie Zeit brauchte, um einen Entschluss zu fassen. Dann sagte sie:
»Es wäre mir eine große Ehre, bei Ihnen im Festspielhaus aufzutreten. Aber – ich kann leider nicht singen.« Beide lachten, sie verlegen, er höflich. Dann sagte er:
»Sie wissen, dass Tanzeinlagen in den Opern meines Vaters eine wichtige Funktion erfüllen?«
»Tanzeinlagen –« wiederholte Isadora gedehnt, »Das eben biete ich nicht.« Und sie erklärte Siegfried Wagner das Niveau und den Anspruch ihrer Kunst, so gut es in der Eile ging.
»Ich verstehe«, sagte Wagner, »und pflichte Ihnen bei. Es geht um mehr als um Einlagen. Beziehungsweise: Es geht um etwas ganz anderes. Um einen Appell an die Gottheit. Um eine Anrufung. Um Erhabenheit. Darum geht es uns auf dem Grünen Hügel auch. Ich bin sicher, wir werden uns einig. Ich werde meine Mutter bitten, sich an Sie zu wenden.«

Als Isadora an diesem Abend ins Hotel zurückkam, sah sie so abgekämpft aus, dass die Mutter fürchtete, ihre Kleine könne zu viel an Budapest und an die Liebe denken, und sich spontan eine attraktive Ablenkung überlegte:
»Hör mir zu, Dorita. Alexander spricht von Berlin. Er könnte da für dich die großen Soloabende organisieren, in der Kroll-Oper, verstehst du, fünftausend Plätze, und er wird es schaffen. Noch sind wir im Süden. Von hier aus ist es nicht weit nach Florenz. Was meinst du? Elizabeth wollte schon lange dorthin.« Isadora war einverstanden, und so brachen die drei Frauen ins schöne Italien auf. Für La Duncan war die Begegnung mit Florenz von besonderer Bedeutung, denn sie ging schnurstracks in die Uffizien und verliebte sich dort in ein Gemälde von Sandro Botticelli, sein Werk Primavera (= Frühling), das ihren Tänzen ein neues Leitmotiv vorgeben sollte. »Tagelang saß ich am Boden vor dem Bild; ein freundlicher alter Aufseher brachte mir schließlich einen Stuhl. Ich blieb so lange dort sitzen, bis ich die Blumen wachsen und die zarten Körper im Tanz sich wiegen sah, und in mir erwachte die freudige Gewissheit, dass ich dieses Bild tanzen und meinem Publikum die Botschaft der Liebe und des Frühlings mitteilen wollte.« Später, 1903 in Berlin, war Isadora immer noch im Banne Botticellis, und unter den Kunstfreunden in ihrem Publikum, die das berühmte Bild natürlich kannten, gab es nicht wenige, die ihr attestierten, wie eine Botticelli-Venus auf der Bühne zu schweben.
»Was Sie da sagen«, antwortete Isadora, »befriedigt mich tief. Denn Sie müssen wissen, dass ich in einem früheren Leben für Botticelli Modell gestanden habe.«
»Wie war er als Mensch denn so«, fragte ein vorwitziger Kunststudent, »der große Meister Botticelli?«
»Oh«, replizierte Isadora schlagfertig, »er erlaubte mir nach jeder Sitzung so viele der gemalten Orangen zu pflücken und zu essen, wie ich wollte, und davon habe ich heute noch meine gesunde Haut.«

Es war Frühling in Berlin, als Isadora in der Kroll-Oper, unweit des Brandenburger Tores, ihre Soli tanzte, diesmal mit großem Orchester. Sie sah nun die Stadt in einem anderen, freundlicheren Licht als bei ihrem ersten Besuch mit der Fuller-Company, vor allem, weil jetzt der Applaus ungeteilt ihr galt. Die jungen Leute im Publikum waren ähnlich enthusiastisch wie die Münchner Studenten, auch sie spannten nach den Vorstellungen die Pferde vor Isadoras Kutsche aus und zogen ihr Idol mit eigener Kraft heim ins Hotel Bristol – wo man ihr das vor Jahr und Tag eingelagerte Gepäck mit vielen Verbeugungen und Pardon-Beteuerungen zurückgab. Die Stadt sprach von ihr, man feierte sie und nannte sie in der Presse und auf den Programmzetteln »die Göttliche«. Eines Abends meldete sich der Berliner Journalist Erwin Rosen bei Isadora und lud sie zum Essen ein. Er wollte einen Artikel über sie schreiben. Noch hatte er sie nicht auf der Bühne gesehen und war voller Erwartung. Viele seiner Kollegen schwärmten von ihr – besonders von der subtilen Ausdruckskraft ihrer Arme und Hände. Rosen notierte: »Ich hatte in Münchener Zeitungen gelesen, dass ihre Tänze unter den Münchener Künstlern richtige Stürme der Begeisterung entfesselt hätten. So begab ich mich schleunigst zu ihr ins Hotel. Überschrift meines Artikels sollte sein: ›Die neue Tanzkunst‹. Ich verarbeitete da natürlich fast nur das, was die gute Duncan mir zu erzählen beliebte, aber ich gab aus Eigenem hinzu, welche Eindrücke ich empfing, als ich sie beim Essen ihres Hühnchens beobachtete. Dabei ging mir nämlich ein Licht auf. Wer so wunderschöne Hände hat und die Bewegungen dieser Hände und Arme so zu beherrschen versteht, dass das Zerlegen eines Hühnchens mit Messer und Gabel für den erstaunten Beobachter ein ästhetischer Genuss wird – der hat auch Rhythmus im Leibe und Grazie; es müsste also etwas dran sein an der neuen Tanzkunst!«
Nicht alle Kritiker und Kunstsachverständigen waren von Isadora angetan. Das Völkchen der Ballettomanen etwa verzieh der Avantgardistin ihre Schmähungen des Spitzentanzes nimmermehr und würdigte sie guten Gewissens herab. Insbesondere die Berliner waren nicht allzu galant. Schon bei Erwin Rosen spürt man einen leichten Spott, noch deutlicher machte sich der wortgewandte Kritiker Max von Boehn über die Botschafterin der neuen Tanzkunst lustig: Er nannte sie »die tanzende Gouvernante«. Und weiter: »Sie hopste auf der Bühne herum mit Arm- und Handbewegungen, als finge sie Fliegen, aber mochte zehnmal jede Nuance einer alten Vase abgesehen sein, es war zusammen doch kein Ganzes, nichts, was ein innerer Zwang beseelt hätte.« Immerhin erkannte er an: »Was sie als Tänzerin schuldig blieb, hat sie als Anregerin gut gemacht. Miss Duncan hat den Tanz wieder in seine Rechte als individuelle Kunst eingesetzt, sie hat die Bahn freigemacht für den neuen Tanzstil, der sich an der schematischen Akrobatik des Balletts nicht mehr genügen lässt.«
Wie alle Menschen, die etwas Neues bieten, hatte Isadora gelernt, Kritik achselzuckend hinzunehmen, zu ignorieren oder abzuwehren. »Mein Tanz wurde Gegenstand hitziger Debatten. Ganze Kolumnen erschienen ständig in den Zeitungen, die mich entweder als Genius einer neu entdeckten Kunstform feierten oder als Zerstörerin des klassischen Balletts beschimpften.« Es gab einen Bewunderer, der sogar eigens begründete, warum es unmöglich oder jedenfalls nicht richtig sei, Duncan zu kritisieren, und mit diesem Schriftsteller namens Karl Federn freundete Isadora sich an. Er schrieb: »Was das Ausdrucksvollste an ihr ist, ob ihre Hände, ihr Antlitz oder der vollkommene Fuß – wir wissen es nicht. Zur Kritik ihrer Tänze ist meiner Ansicht nach noch nicht die Zeit. Ihr Weg ist noch zu neu. Und das Wesentliche ihrer Tat, die Rückkehr zur individuellen Inspiration, lässt sich überhaupt nicht kritisieren.« Der Dichter, Anarchist und Vagant Peter Hille feierte Isadora so: »Ihre Kunst ist so einfach, Intuition, nicht Regeltanz; da bedarf es weiter keines Rezepts: nichts Künstliches, keine blutig getrippelten Zehen, nichts Vergewaltigtes, keine wirbelnden, lebendigen Kreisel – einfach Leben, das sich erlauscht und das Erlauschte tanzt. Deshalb wird diese Kunst auch so inbrünstig gehasst von allen Tanzmeistern und Kritikern der Welt, wie sie gelobt wird von freischöpferischen Geistern der Künstler.«
›Das Beste ist‹, dachte Isadora, ›ich stelle selbst ein für alle Mal klar, worum es mir geht.‹ Vor dem inneren Auge Botticellis Primavera mit den drei Grazien und im Kopf, in dessen cérébralen Regionen, die Ideen und Ideale ihrer Kunst, beschloss sie, alles zu Papier zu bringen, was sie an Erfahrungen, Vorstellungen und Zielen in sich hatte und mit sich trug. Dem Manuskript, das sie verfertigte und auf Einladung des Berliner Pressevereins dort zum Vortrag brachte, gab sie den Titel Der Tanz der Zukunft. Es wurde 1903 von dem renommierten Verleger Eugen Diederich in Leipzig als Buch herausgebracht, zweisprachig, auf Englisch und Deutsch.
»Der wahre Tanz sollte nun nichts anderes sein als eine natürliche Gravitation des Willens im Individuum, nicht mehr und nicht weniger als eine Übertragung der Gravitation des Weltalls in das menschliche Individuum.
Und du, o Pan, der du mitleidig und freundlich warst gegen die arme Psyche auf ihren Wanderungen, denke doch gütiger von meinen kleinen Versuchen, in deinen waldigen Lichtungen zu tanzen.
Und du, o Terpsichore, sende du mir ein wenig Trost und Stärke, dass ich deine Macht auf Erden verkünden möge mein ganzes Leben hindurch. Und nachher im schattenhaften Hades soll mein sehnsüchtiger Geist noch tanzen — bessere Tänze zu deinen Ehren.«
Übersetzt hatte den Text Karl Federn. Er schrieb dies im Vorwort: »Was Nietzsche ahnte und in künstlerisch-poetischer Erkenntnis schaute, das hat Isadora Duncan zur Tat gemacht. Wenn er sagte: ›Nur im Tanze weiß ich der höchsten Dinge Gleichnis zu reden‹ – versuchen ihre Tänze, Gleichnisse der höchsten Dinge zu sein.«
Isadora hörte oft, dass sie etwas mache, was noch nie da gewesen sei, und so war es auch. Aber es gilt zu bedenken, dass sie mit ihrer Programmatik zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts keineswegs allein stand. Ihre Vision lag vielmehr im Zug der Zeit, die sich zunehmend für Freikörperkultur, Wandern, Turnen, Nacktbaden, Naturheilmethoden und gesunde Speisen, lose Kleider aus handgewebtem Stoff, Erziehungsprinzipien nach Art des verehrten Jean-Jacques Rousseau und seiner Devise »Zurück zur Natur« begeisterte. Man sprach von Lebensreform. Die Industrialisierung hatte die Städte verschandelt und die Luft verschlechtert – die Menschen wollten raus auf waldige Höhen und frei atmen. Aber nicht nur die äußere Natur war ihnen abhandengekommen, auch die innere. Ein seelisches Gleichgewicht verstand sich nicht mehr von selbst, und kaum noch jemand verspürte sie noch, die Gravitation des Weltalls im eigenen Solarplexus. All das musste zurückgewonnen werden – wobei es nicht recht klar war, ob es je vorhanden gewesen war. Wie oft in Umbruchzeiten verklärte man die Vergangenheit und sah sie als eine Ära, in der die Menschen besser mit der Natur gelebt, sich in ihrer Haut wohler und Gott näher gefühlt hätten. Und man beschwor ihre Wiederkehr. Es gab Gurus wie in Berlin den Maler Fidus, die ein neues frisches Lebensgefühl versprachen, wenn nur die Häuser so gebaut würden, dass in alle Zimmer einmal am Tag die Sonne schiene und wenn die Menschen täglich Gymnastik machten, sich fleischlos ernährten und barfuß liefen. So also war der Boden bereitet für eine Priesterin des natürlichen Ausdrucks im Tanz, und Isadora Duncan beschritt ihn sehr selbstbewusst und äußerst anmutig. Sie zweifelte nie an ihrer Mission und dachte immer öfter daran, dass es ihr vom Schicksal auferlegt sei, eine Schule zu gründen. Sie wollte die Kinder der Welt tanzen lehren, und zwar nicht nur ein paar auserwählte, sondern die gesamte junge Generation. Unter denen, die ihr auf der Bühne so frenetisch applaudierten, müssten doch mäzenatisch gesonnene, wohlhabende Persönlichkeiten zu finden sein, die nur darauf warteten, etwas Sinnvolles mit ihrem Vermögen anzufangen. Diesen großherzigen und einsichtigen Menschen würde sie es nahelegen, ihre Schule zu sponsern. In Berlin überzeugte sie tatsächlich mehrere Damen des Adels und einige Bankiersgattinnen, dass es unter den guten Werken, die die Zeit erfordere, nur wenige gebe, die so unverzichtbar seien wie ihre Schule.