Kitabı oku: «Karl Marx - neu gelesen», sayfa 2

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Marxens politische Vorstellungen, die, wenn nicht ohnehin der reinen Tagesaktualität verpflichtet, kursorisch und interpretationsfähig, häufig mehrdeutig und schwärmerisch geblieben sind, bedürfen der historisierenden Einordnung besonders nötig, da eine Herauslösung aus dem Kontext sie leer und vage und auch aufgrund ihres Pathos für beliebige Deutungen geeignet macht. Seine vielzitierten Sätze über die Pariser Kommune, »die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollzieht«, konnten nur deshalb als Legitimation für eine Einparteiendiktatur Missbraucht werden, weil die Redlichkeit der historischen Zuordnung von Lenin und Nachfolgern suspendiert worden war. Die verfängliche Formulierung von der »Diktatur des Proletariats« sollte eine Spielart demokratischer Mehrheitsregierung bezeichnen, die sich über das Interesse der Minderheit hinwegsetzt – ganz so wie es nach Marx’ Meinung zu seiner Zeit etliche »Diktaturen der Bourgeoisie« mit dem Interesse der Mehrheit gemacht hatten. Seine »Diktatur« ist gerade keine nicht-legitimierte Regierung, sondern das Produkt einer innerhalb der demokratischen Verfassung möglichen legalen Umwälzung.

Als politischer Denker findet sich Marx trotz allem zeitweiligen Liebäugeln mit dem Regelverstoß, der Sektiererei und der revolutionären Gewalt immer auf der Seite der radikalen Demokratie. Außerhalb von Massenbewegungen, die wirklich die Sympathie und Unterstützung breiter Mehrheiten auf ihrer Seite wissen, gibt es in seinem Denken weder Revolution noch Volkssouveränität – und beides konnte zu seiner Zeit füreinander einstehen.

Unter »Partei« verstand Marx die proletarische Klassenbewegung in ihrer Perspektive – nachdem sie zur Mehrheit angewachsen sein würde. Die Bemühungen der KPdSU und der SED, die »Partei Marx«, welche nichts anderes war als eine Strömung innerhalb des Spektrums wenig Einflussreicher radikaler Gruppierungen im nachmaligen linken Lager Europas, zu ihrem unmittelbaren Vorläufer zu stilisieren, waren so dreist wie dumm. Marx hasste die Stammtischpolitik kleiner proletarischer Napoleons und hätte einen Putsch auch zum Zwecke der Durchsetzung seines eigenen Programms nie akzeptiert. Denn die historischen Kräfte, auf die er baute und für die er arbeitete, sollten als wirkliche Menschen vorhanden und als Mehrheit mit legitimer Macht versehen sein. Schließlich bezweckte sein Programm nichts weniger als die »Verwirklichung der Philosophie«.

Der Riss im Fundament

Während der Studentenbewegung der 60er Jahre wurde wiederholt Klage darüber geführt, dass Marx es versäumt habe, eine »Staatstheorie« auszuarbeiten; was man schließlich dafür nahm, eine Kompilation von zu ganz verschiedenen Anlässen getanen Äußerungen und Untersuchungen, litt unter jener Deutungselastizität, die bei den meisten politischen Schriften von Marx die Rücksicht auf den Kontext unabdingbar macht. Wer eine Staatstheorie bei Marx vermisst, hat nicht verstanden, worauf es ihm ankam. Zwar taucht das Thema »Staat« in seinen Arbeitsplänen auf, aber dass es zu einer Ausarbeitung nicht kam, ist kein Zufall. Marx hat als »Staatstheoretiker« das avancierte liberale und sogar einiges anarchistische Erbe in sich aufgenommen; ihm ging es darum, dass der »wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt«, dass die Gesellschaft ihre Verdoppelung in Gesellschaft und Staat überwindet und das einzelne Individuum unmittelbar zugleich »Gemeinwesen« wird. Für einen Staat, für jede Art von Herrschaftsausübung gäbe es in einer solchen »Assoziation freier Individuen« weder Bedarf noch Platz.

Dieser der Form nach Hegel’sche und dem Inhalt nach Rousseau’sche Gedanke ist Marx’ Ausgangspunkt, auf ihn kommt er immer wieder zurück. So wie er Feuerbachs Religionskritik für sich fortsetzt, indem er danach fragt, warum der Mensch sich ein »selbständiges Reich in den Wolken fixiert« und zur Antwort gibt: weil das irdische Reich in sich zerrissen, weil der Mensch mit sich uneins ist, so stellt er sich gegen Hegel, indem er den Weltgeist als Motor der historischen Entwicklung zugunsten der arbeitenden Menschen entthront. Auch die List der Vernunft kann den Zwiespalt zwischen dem egoistischen Privatier und dem Citoyen in seiner »politischen Löwenhaut« nicht aufheben – aber das Proletariat ist dazu in der Lage. Es verkörpert die allgemeinen Interessen, indem es keine besonderen mehr geltend macht, und ist auf diese Weise befähigt, »die Philosophie aufzuheben«, indem es sie verwirklicht, das heißt: die Versprechungen einlöst, welche die Philosophie nur vindiziert.

Was immer man von diesem Chiliasmus halten mag – er ist, zu Recht, als weltliche Erlösungsidee eingestuft worden –, eins zeigt er sehr gut: dass Marx kein Staatstheoretiker sein konnte, dass für ihn das politische ebenso wie das religiöse Leben keine eigenen Wurzeln hatte und sich in Dunst auflösen müsste, nachdem die Gesellschaft reif dafür geworden wäre, die Bedürfnisse, welche die Kirchen gestillt, und die Funktionen, welche der Staat erfüllt hätte, selbst, unmittelbar und ohne Verblödung der Schäfchen und ohne Unterdrückung der Untertanen, zu befriedigen und wahrzunehmen. Die anarchistische Idee von einem staatsfreien Zusammenleben lag Marx nahe, und die liberale Polemik gegen den »Schmarotzerauswuchs« Staat, der sich am Leib der Nation vergeht, hat er oft und gern wiederholt. Ebensowenig wie man sich Marx als in der Religionskritik aufgehend vorstellen mag, da er dieses Kapitel im Buch der menschlichen Verirrungen für abgeschlossen hielt, sollte man aus ihm einen Staatsdenker machen wollen: die »Maschine der Klassenherrschaft« – in der Hand welcher Klasse auch immer – sah er am liebsten »im Museum der Altertümer, neben dem Spinnrad und der bronzenen Axt« (Friedrich Engels).

Was Marx interessierte, war das Fundament all der spirituellen Gewalten, an denen sich die Philosophen seiner Zeit abgearbeitet hatten: des absoluten Geistes, der Religion, des Staates. Er entdeckte dieses Fundament in der »bürgerlichen Gesellschaft« und fand in dieser den Grund für das Eigenleben von Geist, Religion und Staat. Die Gesellschaft selbst war zerrissen und brauchte deshalb transzendente Instanzen, die den Riß zu heilen, über ihn hinwegzutrösten oder ihn zu verwalten hatten. Erlöst werden könne das in sich gespaltene Fundament, der sich selbst durch das Produkt seiner eigenen Arbeit »entfremdete« Mensch, nur durch eine Revolutionierung der Gesellschaft: durch eine endliche Einlösung des Gleichheitsversprechens mittels Aufhebung des Klassenwiderstreits.

Eine Religionskritik also, die das irdische Elend bestehen ließe und nur von den Elenden verlangte, dass sie sich ihre Jenseitsgrillen aus dem Kopfe schlügen, hielt Marx für genauso fruchtlos wie eine Propaganda gegen die Staatlichkeit ohne Revolutionierung des gesellschaftlichen Fundaments, auf dem der Staat ruhe und von dem er zehre, d. h. ohne die Errichtung von Zuständen, die keinen Staat mehr nötig hätten. Als Rückführer der ideal-, religions- und staatsphilosophischen Kontroversen seiner Zeit auf das »Fundament« Gesellschaft, auf die wirklichen Menschen und die »unter unseren Augen« sich abspielenden sozialen Kämpfe, war Marx ein konsequenter Anti-Metaphysiker und ein von den »positiven« Erfahrungswissenschaften geleiteter materialistischer Geschichtsphilosoph. Gefangen aber von den spekulativen Verführungen eben der Philosophien, mit denen er sich kritisch herumschlug, wurde und blieb er auch ein messianischer Idealist. Seine Geschichtsvorstellung endete in dem Tableau der staatsfreien klassenlosen Gesellschaft, die sozialen Kämpfe sollten für immer ein Ende finden und das Proletariat als weltlicher Heiland den Rettungsakt vollziehen. Dieses Bild ist allzu paradiesisch, als dass es seine religiöse Herkunft nicht verriete. Dennoch ist die Frage der diesseitigen Machteroberung aufgeworfen, und so gibt es kein gesichertes Zurück mehr in die »Nebelregion der religiösen Welt«. Die menschliche Subjektivität ist, als kollektive, vor eine Aufgabe gestellt: zu handeln nach Maßgabe ihrer vernünftigen Einsicht.

Prof. Y formuliert es folgendermaßen: »Der Gedanke, dass es die arbeitenden Menschen seien, die die Geschichte machen, war zu Zeiten von Karl Marx nicht ohne eine gewisse Kühnheit. Zu übermächtig erschienen die weltlichen Gewalten, zu fest verankert die religiösen Überzeugungen und zu mächtig die Gegenbeweise in Gestalt niedergeschlagener Revolutionen. Wenn auch die Marx’sche Geschichtstheorie weit in Vergangenheit und Zukunft ausgreift und dem in der Gegenwart z. B. des Jahres 1867 lebenden Baumwollspinner nicht zusichern kann, dass er den Morgen der Freiheit erleben werde, so schließt sie doch ein solches Versprechen auch nicht aus. Marx verweilt lauge und eindringlich bei den »Vorgefundenen Bedingungen« unter denen die Menschen ihre Geschichte machen: sie sind Produkte ihrer Vergangenheit. Zugleich aber sind sie die Schmiede ihrer Zukunft. Der Aufruf zum Eingriff, zur Tat, zur Praxis, der gleichwohl die Bedingtheit alles Handelns nicht verkennt und die Bedingungen selbst möglichst genau zu untersuchen strebt – der macht Marx zu einem verführerischen Agitator. Wäre er ein guter Redner gewesen oder wäre sein Werk nicht so vollständig in Vergessenheit geraten – wer weiß, wozu es sich hätte missbrauchen lassen. Als deutscher Philosoph teilt Marx die Tendenz zur Totalität und zur Pedanterie. Aber er ist niemals trocken und stubengelehrt. Er ist ein Einheizer. Sein ganzes umfangreiches theoretisches Werk ist der Tat gewidmet.«

Amerikaner neigen dazu, in den europäischen Geist, insbesondere den deutschen, alles mögliche hineinzugeheimnissen. Bevor wir Prof. Y noch einmal in Begeisterung geraten lassen, versuchen wir Marx nüchtern in den Grenzen von 1883 zu sehen.

Die Unerbittlichkeit des Gesetzes

Er ist als spekulativer Denker in Kategorien von Erlösung, bzw.: »Zurücknahme« (der religiösen, der politischen Sphäre in die Gesellschaft) altmodisch und praktisch widerlegt, als Modelltheoretiker und prognosefähiger Empiriker seiner Zeit voraus. Dies würdigt Claude Levi-Strauss, indem er Marx das Verdienst zuschreibt, die moderne theoretische Modellkonstruktion erfunden zu haben: »Ein Werk wie »Das Kapital« mit seinem Reichtum und seinen Komplikationen ist letztlich die Laborkonstruktion eines Modells der kapitalistischen Gesellschaft. Marx hat das Modell funktionstüchtig gemacht und die Beobachtungen, die er an ihm anstellen konnte, mit der empirischen Wirklichkeit verglichen.« Zugleich aber färbt die noch virulente Idee des Absoluten auf Marx’ empirisch gestützte Theorie ab und gibt sogar seinen tagesjournalistischen Einlassungen bisweilen einen missionarischen Oberton. Es findet sich manches in seinem Werk, was nicht recht ineinanderpasst. So zeigt uns die Lektüre immer wieder einen Gelehrten, der die Spekulation verachtet und dem hieb- und stichfesten Beweis einen fast schon irritierenden Rang in der Hierarchie wissenschaftlicher Mittel zumisst – dabei dann aber seine eigene Zukunftsvision mit einem Beweis verwechselt. Er hätte gern eine »Logik« geschrieben – das und nicht eine Staatstheorie sieht er selbst als Loch in seinem Lebenswerk. Die Analogien zur Naturgesetzlichkeit sind in seinen Schriften Legion – von der Biene, die hinter dem menschlichen Baumeister zurückbleibe, weil sie ihre Wabe gleich in Wachs baue statt zuvor im Geiste, bis zu dem Chemiker, dem es bis heute nicht gelungen sei, den Tauschwert in einer Perle zu entdecken. Marx wollte sein »Kapital« Charles Darwin widmen, weil er in dessen Arbeiten Analogien zu seinen eigenen vorfand – aber der Kollege hatte keine Lust, sich der »Partei Marx« zuordnen zu lassen. Der Gesetzesbegriff, den Marx verwendet, ist naturwissenschaftlich beeinflusst und soll die Unentrinnbarkeit betonen, mit der gesellschaftliche Zwänge sich vollziehen: dass z.B. die durchschnittlich notwendige Arbeitszeit letztlich die Austauschverhältnisse der Waren regele, das, so Marx, verdanke sich einem Gesetz, welches mit derselben Unerbittlichkeit walte »wie das Gesetz der Schwere, wenn einem das Haus über dem Kopf zusammenpurzelt«. Mit dem »Gesetz« fuchtelt Marx immer dann herum, wenn er sich gegen vage, weiche, halbe Weisheiten insbesondere aus der Ökonomen-Zunft absetzen und wenn er politische Schwärmer und Systemerfinder von ihren Flausen heilen will. Alle Veränderungen, auch die revolutionären, können nur aus dem Bestehenden hervorgehen, sie haben sich also um die Gesetzmäßigkeiten zu kümmern, nach denen die »wirkliche Bewegung« (der Geschichte, der Klassen, des Kapitals) funktioniert – sonst bleiben sie ein leerer Wahn. Wer die Gegenwart ändern will, muss wissen, was in ihr vorgeht, muss das Gesetz kennen, unter dem sie angetreten ist – nur dann kann er eingreifen. Marx hat mit seinem »Kapital« eine solche mittelbare Handlungsanweisung geben wollen: hier habt ihr die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft, das Resultat einer dreißig Jahre langen Arbeit. Und jetzt setzt das Skalpell an der richtigen Stelle an!

Obwohl Marxens Gesetzes-Vorstellung die Naturanalogie vorwiegend zur Veranschaulichung benutzt und seine ökonomischen Gesetze, anders als die Gravitationskraft, durchaus und vor allem historisch verstanden wissen wollte, bleibt doch ein fataler Rest von Determinismus an den Ergebnissen seiner Analyse haften, sofern sie zu »Gesetzen« kristallisieren: so trauten seine politischen Erben dem »tendenziellen Fall der Profitrate«, der ja mit der eisernen Konsequenz eines Gesetzes wirken sollte, zu, den Zusammenbruch des Kapitalismus ganz alleine zu besorgen – ohne Umsturz oder geduldigere politische Prozesse. Es gibt genügend Belege dafür, dass Marx von revolutionärer Entschlossenheit, d.h. von dem Mut, einzugreifen und die Geschichte anzuschieben, viel gehalten hat – es musste aber auch wirklich die Geschichte bzw. die wirkliche Geschichte sein, die da zum Sprung gezwungen wurde. Seine Abneigung gegen großmannssüchtige Hinterzimmer-Konspirationen und seine Sorge darum, dass Wagnis und Kampf verfrüht, verfehlt, umsonst sein könnten, ließen ihn der »objektiven Tendenz«, dem historischen Wind im Rücken der Revolution, eben den »Gesetzmäßigkeiten«, nach denen eine Gesellschaftsformation, eine Produktionsweise oder eine Klasse sich entwickele, diese große Bedeutung beimessen. Marx wollte die Politik des vierten Standes so unwiderleglich begründen und vorzeichnen, dass aus dessen Siegesgewißheit ein zusätzlicher Motor der erwarteten Revolution entstünde und zugleich die vergeblichen Taktiken weniger »wissenschaftlich« aufgeklärter Schwarmgeister wie Proudhon, Lassalle oder Bakunin chancenlos zusammenbrächen. Er wollte es richtig machen, gründlich und ein für allemal.

Dabei half ihm der naturwissenschaftliche Gesetzesbegriff, der keinen Einwand zuließ. Aber es wäre zu einfach, Marx als Deterministen an seiner Gesetzes-Treue aufzuknüpfen – das haben seine Gegner zur Genüge versucht. Man muss sich ein weiteres Mal das geistige Klima seiner Zeit vergegenwärtigen. Die modernen Naturwissenschaften entpuppten sich eben erst als die großen Entzauberer, welche die Geheimnisse aller Lebensfunktionen endgültig der Zuständigkeit von Magie und Glauben zu entreißen versprachen. Als Aufklärer verbündeten sich Biologie, Physik, Chemie mit der modernen Technik, die ihrerseits als zentrale Produktivkraft in das Ensemble der kapitalistischen Fortschrittskräfte eintrat. Darwin, Liebig und die Vorläufer Edisons bewunderte Marx weit mehr als Proudhon, Lassalle und Bakunin. Glasklare Aussagen zu machen über die Verhältnisse von Arten, Elementen und Naturkräften, ihre Reaktionen mittels Gesetzen zu beschreiben und vorherzusehen – was war das für eine nützliche und fruchtbringende Tätigkeit im Vergleich zu der luxuriösen Prätention, vom Schreibtisch oder Versammlungslokal aus die Welt verbessern zu wollen. Marx hat sich nie damit abfinden können, dass ihm im Grunde viel mehr auch nicht zu tun übrig blieb. Er wollte weitergehen und den archimedischen Punkt finden, von dem aus die Welt aus den Angeln zu heben wäre – und zwar mit ähnlich mathematisch-gewissen Methoden, wie sie ihn an der naturwissenschaftlichen Forschung faszinierten. Diese modern-szientifische Auffassung von Gesellschaftsanalyse setzt ihn in scharfen Gegensatz zu den nachmaligen Marxisten – seine Eschatologie andererseits, das Tableau von der befreiten Gesellschaft, das der Bezug für alle seine analytischen Anstrengungen blieb, sowie seine Parteilichkeit – beides trennt ihn dann wieder von der empirisch-positivistischen Soziologie, wie sie heute vorherrscht. Sein historisch erklärbarer Glaube an das soziologische »Gesetz« weist ihn als Denker des 19. Jahrhunderts aus, seine analytische Gründlichkeit und seine modelltheoretische Genialität ließen ihn Einsichten zutage fördern, die seiner Zeit vorgriffen. Man kann ihn nicht auf einen Nenner bringen. Er ist, wie große Geister wohl meist, in mehreren Jahrhunderten zuhause.

Wahrheitsanspruch und Parteilichkeit

Es war eben schon von ihr die Rede – von Karl Marx’ Parteilichkeit, die ihn den Soziologieprofessoren, politikwissenschaftlichen Forschern und Wirtschaftstheoretikern unseres Jahrhunderts suspekt gemacht hat. Wie kann man die Wahrheit finden, wenn man sich so entschieden auf eine Seite stellt? Marx hätte geantwortet: man kann sie nur so finden. Für ihn war jeder Standpunkt unter, über oder neben den Klassen ein apologetischer; nur aus der Position der modernen, eben sich formierenden unterdrückten Klasse, des Proletariats, war für Marx mit der »Kritik alles Bestehenden« zugleich auch die Umrisszeichnung des Neuen zu leisten. So fallen Wahrheitsanspruch und Parteilichkeit für ihn in eins – während eine über die realen Zwistigkeiten erhabene Objektivität immer die vorfindliche Machtverteilung abstützen müsse, insofern selbst vom »interessierten Vorurteil« missgeleitet, wenn nicht gar bestochen wäre durch Prämien, welche Herrschaft ihren Lobrednern zuteilt. Qua Wissenschaftler sah sich Marx als Parteigänger geschichtlicher Tendenzen; dass er sich als gerecht denkender Zeitgenosse von der Lage der labouring poor berühren und von empörenden sozialen Zuständen insbesondere in Ländern mit starken absolutistischen »Resten« wie Preußen und Russland aufregen ließ – das verstand sich, sollte aber sein Werk nicht affizieren. Marx hat als sozusagen historischer Schattenkabinettspolitiker gemeinsam mit seinem Freund Engels ganze Serien blutiger Kriege und wüster Feldzüge am grünen Tisch und in den Zeitungsspalten geführt – alles um die Arbeiterklasse vom Joch des Kapitals und Europa vom Einfluss des Zarismus zu befreien; er war kein Träumer und hat gewusst, dass der geschichtliche Fortschritt, in dessen Tradition er sich sah, Opfer forderte, auch Menschenopfer, auch massenhafte. Er hat das konstatiert – und keineswegs einkalkuliert, wie das die Kritik von rechts, die ihm den Stalinismus in die Schuhe schieben will, behauptet. Seine Theorie sollte sogar einen unmittelbar lebensrettenden Gebrauchswert für kommende Generationen haben, insofern sie geeignet schien, die »Geburtswehen« der neuen Gesellschaft, mit der die alte schwanger ginge, »abzukürzen«.

Parteilichkeit für die Geschichte – diese Akzentuierung gibt Marxens Theorie ein dynamisches Element bei: sie will, indem sie sagt, was ist, zugleich sagen, was sein könnte, will, indem sie kritisiert, die Keimform des Kommenden anzeigen. Alle seine Kategorien sind zugleich kritisch-verwerfende und utopisch-vorwegnehmende, sind Prozesskategorien, die in ein und demselben Zugriff eine Bestandsaufnahme, eine kritische Bewertung und ein Zukunftsprojekt enthalten. Diese gleichsam in drei Dimensionen hineinzielende theoretische Bewegung, welche die Objektivität des Analytikers mit der Subjektivität des Kritikers und der Hellsicht des Prognostikers vereint, macht die suggestive Faszination der Marx’schen Theorie aus. Wer wirklich in sie eindringt, kann ihr nur schwer widerstehen, und darin liegt auch ein Einwand. Aber einer, der seine Schärfe verliert, wenn man die Sache historisch sieht. Zu Marx’ Zeiten gab es sie noch, die »absolute Wahrheit«. Zwar bereiteten insbesondere die exakten Naturwissenschaften ihre Attacken auf sie vor – die Idee jedoch, die heute das wissenschaftliche Leben und den theoretischen Eifer beherrscht und zügelt: dass nur in der Konkurrenz der Entwürfe, in Dialog und Kritik eine Annäherung an ein angemessenes Verständnis der Wirklichkeit zu finden sei, dieser Relativismus lag dem 19. Jahrhundert fern. Wer zu Marxens Zeiten als Philosoph und Gelehrter auftrat, legte ein »System« vor und sagte, wie es war, punktum. Wenn er recht hatte, konnte eine andere Schule, die das Gegenteil behauptete, nicht auf ihre Weise auch recht haben. Der Totalitarismus des Wahrheitsanspruchs erschwerte es, Details und Aspekte an wissenschaftlichen Aussagen zu »retten«, die man insgesamt nicht akzeptieren mochte, und umgekehrt in die Zustimmung Zweifel einzusenken. Eklektizismus galt als Armutszeugnis und gehörte sich nicht. Im Grunde musste der Philosoph die Welt am Schreibtisch noch einmal erschaffen, alles, was darunter blieb, galt als unzureichend. Marx hat kein »System« vorlegen, sondern die Wirklichkeit untersuchen und solche Schlußfolgerungen aus seinen Resultaten ziehen wollen, die der Praxis im Sinne des geschichtlichen Fortschritts nützen könnten – aber er kam doch vom Ideal der totalen Theorie, die auf jede Frage eine Antwort weiß, nicht los.

Wir heute sind sehr viel bescheidener geworden – und anspruchsloser. Wir trennen die Analyse von der Kritik und die Kritik von der Prognose und fühlen uns in dieser Arbeitsteilung vor den Versuchungen der Weltverbesserungsattitüde und den Gefahren der Parteilichkeit sicher. In dieser Sicherheit sind wir aber auch kleinformatiger und kraftloser. Marx hat noch alles alleine gemacht und im Britischen Museum handschriftlich und ohne computergestützte Modelle die Welt auseinandergenommen, durchkritisiert und neu aufgebaut, er hatte die Energie dazu. Das war vielleicht sein Unglück. Wir, die Nachgeborenen, scheuen das Risiko einer Großtheorie – nicht nur, weil wir den Mut nicht haben, sondern auch, weil wir wissen, dass wir überfordert wären. Das wissen wir aber (u. a.) dank Marx. Und trotzdem pumpen wir uns auf und räsonnieren darüber, wo seine Stärken, wo seine Schwächen lagen... Aber sei’s drum. Schwach war Marx in der Kurzzeit-Prognose und in der Beurteilung politischer Prozesse, stark war er in der Kritik und in der Analyse – wobei der Druck, unter dem der Alleszugleichmacher stand, auch Analyse und Kritik nicht immer unbeeinträchtigt ließ und wobei das theoretische Genie der Langzeit-Prognose ein großes Stück bis heute aktueller Geltung mitgab.

Irrtümer und blinde Flecken

Dass Marx geirrt habe, ist ein Gemeinplatz – und ein ärgerlicher insoweit, als er die Propheten-Pose ernst nimmt, also den Mann da kritisiert, wo er am schwächsten war. Aber verweilen wir ruhig bei seinen Irrtümern. Er hat nicht vorausgesehen, dass die kapitalistische Gesellschaft, weit davon entfernt, sich in eine schmale Schicht von Kapitalisten und eine große Masse verelendender Lohnsklaven zu spalten und politisch zu polarisieren, eine reiche Vielfalt von Zwischenklassen und Subkulturen erzeugen und dass eine Integration sogar der (inzwischen zahlenmäßig schrumpfenden) Industriearbeiterschaft in das kapitalistische System, ihre Anpassung an die bürgerlichen Normen, gelingen würde. Trotzdem stimmt seine ökonomische Analyse, derzufolge wir es bei entwickelten kapitalistischen Gesellschaften mit einer kleinen Schicht von Aneignern und einer großen Masse von Mehrwerterzeugern zu tun haben. Und wenn man jetzt noch bedenkt, dass die Arbeiter Europas u. a. dank der Politik der sozialdemokratischen Parteien ihren Frieden mit dem Kapitalismus machen konnten, Parteien, deren Programme von Marxens Analyse mitbestimmt waren, so wird das gegen Marx so oft und gern geäußerte Verdikt »Irrtum« bezüglich seiner Sicht der sozialen Tendenzen doppelt fragwürdig. Resultate von Entwicklungen, die auf seinen Einfluss mit zurückgehen, gegen ihn selbst ins Feld führen – das ist schon logisch nicht einwandfrei. Bedenkt man, dass Marx ein Freiheitskämpfer war, für den die Demokratie noch zur Fürstenwillkür in Opposition stand, für den die Erkämpfung des allgemeinen Wahlrechts noch ein gleichsam revolutionärer Akt war, so lässt sich nicht einmal ausschließen, dass er mit der Strategie der »revisionistischen« Sozialdemokratie am Ende seinen Frieden hätte schließen können. Man überschätzt gerne die doktrinäre Starrheit seiner theoretischen und politischen Positionen und unterschätzt seine Bereitschaft, Meinungen zu überprüfen und zu ändern, die er sehr wohl besessen hat. Dass Marx nicht daran dachte, die Angestelltenkultur der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts theoretisch vorwegzunehmen, ist doch ein lässliches Versäumnis im Vergleich zu seiner großen Leistung: die Charakterisierung künftiger Epochen als solche der Verstädterung, der Technisierung und der Herstellung des Weltmarktes, ausgearbeitet erstmals in der Zeit des Biedermeier, als 75% aller Menschen auf dem Lande lebten und die romantischen Träume von einer Rückkehr aus der Fortschrittsfalle in idyllische Beschaulichkeit noch längst nicht ausgeträumt waren. Ja, selbst über den Bildern, welche englische Sozialisten von der besseren Zukunft malten, lagerte die Atmosphäre friedlicher Bukolik. Marx dagegen hat die Dissonanzen seiner Epoche und die der Zukunft akkurat vernommen: die Ungleichzeitigkeit von ökonomischem, technischem, wissenschaftlichem Fortschritt und zurückbleibenden Produktionsweisen, Herrschaftsformen, Mentalitäten, den »cultural and political lag« in einer Zeit des Umbruchs. Er wollte durch die Entbindung einer sozialistischen Demokratie aus dem revolutionären Akt Übereinstimmungen, Deckungen, Gleichzeitigkeiten erzeugen, und zwar für alle Zukunft. Dass Brüche, Unsicherheiten, Asynchronizität und krasse Ungleichheit weiterbestehen und sich über die Welt fortpflanzen und dass für ihre Balance die regulative Funktion von Wahlen, Parteienstreit, Tarifauseinandersetzungen, kurz: die politischen Diskurse unabdingbar sein würden – diese Vorstellung lag ihm fern. Um sie überhaupt zuzulassen, fehlte es ihm an Pragmatismus.

Zweiter Irrtum: dass der Mensch, dieser geborene Raffer und Neider, seine Ichsucht jemals zügeln und sich mit altruistischem Dienst am Gemeineigentum begnügen könnte. Enteignung des Produktivvermögens, Beschränkung des Erbrechts, Vergesellschaftung der Banken und Fabriken – diese Marx’sche Strategie gilt als auch praktisch durch den Zusammenbruch des realen Sozialismus widerlegt. Der Mensch brauche den Anreiz, für sich ganz individuell etwas anzuschaffen, und der innovative Unternehmer, von Marx meist höhnisch als Parasit abgefertigt, sei eben doch auf seine Art eine schöpferische Persönlichkeit. In der Tat. Der Privatkapitalismus steht als Wirtschaftsverfassung, die Wachstum und relativen Wohlstand mit pluralistischer Demokratie verbindet, konkurrenzlos da. Auch die verstocktesten Sozialisten kommen nicht an der Tatsache vorbei, dass die verstaatlichte Ökonomie gescheitert ist und ein nichtstaatlich-unbürokratisches Konzept für Gemeinwirtschaft fehlt. Es sei dennoch erlaubt, darauf hinzuweisen, dass Marx’ Ideen auf die letztgenannte Variante hinausliefen und dass ein Staatskapitalismus nach Art des (ehemaligen) Ostblocks seinen utopischen Vorstellungen entgegengesetzt weit. Man mag es ihm ankreiden, man mag es ihm zugutehalten: er hat sich in Bezug auf seine Utopie nicht wirklich erklärt, er hat nur Andeutungen gemacht, nichts im Detail ausgeführt. »Das Fertigwerden für alle Zeiten« sollte seine Sache nicht sein, das Ausfantasieren von Idealzuständen war ihm ein Greuel. »Wenn wir nicht in der Gesellschaft, wie sie ist, die materiellen Produktionsbedingungen für eine klassenlose Gesellschaft verhüllt vorfänden, wären alle Sprengversuche Donquichoterie.« Reden wollte er nur über Greifbares, über Entwicklungen, die sich bereits abzeichneten, Tendenzen, die sich schon regten. Die kommunistische Zukunft, von der er dann doch gesprochen hat, glaubte er bereits wahrzunehmen: verpuppt in der gemeinschaftlichen Produktion der großen Industrie und in den Koalitionen der Arbeiter, in dem Antagonismus zwischen der gesellschaftlichen Produktivkraft des Kapitals und der beschränkten, privaten Verfügung. Der Mensch, der sich »sein Gattungswesen« angeeignet hat und aus der privat-egoistischen Larve herausgewachsen ist, war das Subjekt seiner Utopie. Eine solche Anthropologie erscheint heute illusionär. Ist sie es wirklich ganz und gar – und für alle Zeit? Vielleicht kommt das nächste Jahrtausend auf sie zurück.

Marx’ bester Gegner aber war weder der bürgerliche Egoismus noch die reaktionäre Autokratie, sondern das kapitalistische Privateigentum als Produktionsverhältnis. Dieses Verhältnis, in seinem Ursprung Stachel der Produktion und des Reichtums, der Technik und der Kooperation, verwandelte sich in eine Fessel der Produktivkräfte, in ein Knechtungsinstrument des Arbeiters und Verderber der menschlichen Natur. Niemand hat so präzise, so konsequent und so gallig dargelegt wie Marx, was das kapitalistische Privateigentum anrichtet: von der Handelskrise über den Börsenkrach bis zur Ausplünderung der eh schon Besitzlosen und zur inneren Verrohung aller. Was einmal Sporn gewesen war, wurde jetzt Fessel der Produktivkräfte – der materiellen wie der geistigen –, und es erschien Marx legitim, den Fall dieser Fessel zu antizipieren.

Abzüglich einiger zeitbedingter Täuschungen – so war es angesichts des deprimierenden Elends unter der Fabrikarbeiterschaft schwer vorstellbar, dass ihre Lage sich innerhalb des kapitalistischen Systems entscheidend würde bessern können – ist die Marx’sche Begründung einer Kriegserklärung an das Kapital immer noch in Kraft. Nach wie vor erzeugt unsere Ökonomie mit dem Reichtum zugleich die Armut und mit dem Wachstum dessen Krisen, nach wie vor führt der Wahlspruch des einzelnen Kapitalisten: »Apres moi le deluge«, bzw. die mangelnde Sozialverträglichkeit des privaten Produktiveigentums zu Katastrophen, nach wie vor mästet sich das Kapital an wehrlosen »Kolonien«. Zwar sind ihm seine Reißzähne gerichtet worden durch Sozialgesetzgebung und Verstaatlichung nichtmarktgängiger Produktionszweige – aber was ist das anderes als ein spätes Echo auf die Marx’sche Anklage? Wir haben noch keine Alternative, insofern hat Marx geirrt, denn er sah die »freie Assoziation« kommen. An seiner Diagnose aber stimmt der Kern.

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