Kitabı oku: «Karl Marx - neu gelesen», sayfa 3

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Der dritte Irrtum, der Marx von den Hinterher-immer-Klügeren bescheinigt wird, ist, dass der Zusammenbruch des Kapitalismus, den er vorausgesagt habe, ausgeblieben sei. Man könnte einen Streit darüber vom Zaun brechen, was »Zusammenbruch« heißen solle und ob die Weltkriege so ganz ohne den ökonomischen Faktor zu begreifen seien. Aber räumen wir ein: der Kapitalismus funktioniert, und die Profitraten steigen. Allerdings sind Marxens Untersuchungen zu diesen Fragen so komplex und ausführlich, berücksichtigen sämtliche den »Fall der Profitrate« aufhaltenden Tendenzen so peinlich genau, dass man den Kritiker der politischen Ökonomie eigentlich nicht auf eine eindeutige Vorhersage festlegen kann. Der Analytiker ist dem Prognostiker nicht nur sachlich überlegen, er hat sich auch viel ausführlicher und genauer geäußert. Nochmal: Man muss einen Theoretiker, den man widerlegen will, da packen, wo er stark ist. Als Prophet hat Marx sich vergriffen, vor allem in Bezug auf Zeithorizonte. Aber was macht das schon, wenn man die immer noch schlagende Wahrheit seiner kritischen Analyse dagegenhält?

Statt vom Irrtum, der übrigens auch nur menschlich wäre, scheint es uns passender, von »blinden Flecken« im Werk von Marx zu reden, und von mangelnder Bereitschaft, gewisse den eigenen Lieblingsideen zuwiderlaufende Erscheinungen zur Kenntnis zu nehmen. Wahrscheinlich gehört ein Stück Monomanie zum großen Denker dazu. Ein blinder Fleck in Marx’ Werk ist die heroische Gemeinschaftsidee und die durch sie verdeckte Welt des Politischen. Wir sprachen schon davon, dass Marx kein »Staatsdenker« war – man muss weitergehen und so zuspitzen: er hat ein Existenzrecht des Politischen als eine menschliche Aktionssphäre sui generis nicht anerkannt, er hat sich nicht mit dem Gedanken befassen mögen, ob es am Ende eine überzeitliche Notwendigkeit geben könne, in einer Gesellschaft Konflikte zu regeln und dieser Regelung ein eigenes Austragungsfeld zuzubilligen. Marxens »befreite« Sozietät ist homogen und mit sich im Reinen – doch selbst wenn man unterstellt, dass Klassenkämpfe aufhören, weil das Gemeineigentum den fundamentalen sozialen Gegensatz aufhebt, so dürften doch immer noch unterschiedliche Interessen in einer Gesellschaft übrig bleiben, deren Balance eine öffentliche Bühne braucht. Solche Fragen haben Marx nicht interessiert. Für ihn war die politische Sphäre ein zum Untergang bestimmtes Entfremdungstheater, das die Gesellschaft sich vorspielen muss, solange sie in sich zerrissen ist – ganz wie sie die Religion braucht, solange sie noch nicht begriffen hat, dass die Wurzel für den Menschen der Mensch ist. Verbunden mit der sozialistischen Utopie wurde dann der »blinde Fleck« zum Einfallstor für ideologische Funktionalisierung, die »Revolution« zur »black box« des befreienden Umschwungs, und die Theorie zur Beute legitimationshungriger Diktatoren. Das soll nicht heißen, dass Marx verantwortlich gewesen wäre für den realen Stalinismus, es soll nur erklären, warum er bzw. seine »Lehre« sich für fremde Ziele funktionalisieren ließen. In Marx’ Schriften findet sich nirgendwo der Hauch einer Rechtfertigung für das Walten von Diktatoren, stattdessen die Überzeugung, dass staatliche Politik immer unterdrückerisch sei, dass politische Organe in die Gesellschaft »zurückgenommen« werden müssten und dass das von selbst geschehen werde, sobald eine Gesellschaft ökonomisch dafür reif sei. Diese Idee ist so verwegen und wirklichkeitsfremd, dass sich mit ihr sogar eine Diktatur (Stichwort: »Übergang«) rechtfertigen ließ. Marx war von der Historizität politischen Handelns überzeugt. Das einzig reelle, zukunftsträchtige, lebendige Objekt seiner Neugier war für den Materialisten die »bürgerliche Gesellschaft«, d. h. das Gewimmel der vorderhand noch privat wirtschaftenden Individuen. Ihnen widmete er sein Lebenswerk.

Kritiker mit Röntgenblick

»Liest man »Das Kapital« vor dem Hintergrund der im 19. Jahrhundert noch vielfach fortschrittsfeindlichen und romantischen Stimmung unter den Gesellschaftskritikern«, schreibt Professor Y in seiner Einleitung, »so erschrickt man fast angesichts der Rücksichtslosigkeit, mit der Karl Marx seine Analyse durchführt. Was er liefern wolle, sei, sagt er selbst, die »Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft« und in der Tat hat dieser Mann ein Messer als Verstand. Die kapitalistische Marktökonomie, so weist er nach, tendiert nicht, wie viele seiner Fachkollegen vorrechnen zu können glaubten, zum Gleichgewichtszustand auf den Märkten, sondern sie ist im Gegenteil instabil, indem sie periodisch charakteristische Zyklen mit Phasen der allmählichen Erhitzung, des Umschlags, der Stockung und Depression durchläuft, wobei am Ende sowohl ein Teil des Kapitals entwertet auf der Strecke bleibt als auch ein Teil der Arbeitenden »freigesetzt« wird. Nach einer solchen »Reinigungskrise«, welche die Faktorpreise nach unten korrigiert, kann ein neuer Zyklus anheben. Gewinner sind die großen Kapitalisten, während der Mittelstand und die Arbeiter die Zeche bezahlen. So kommt es zu einer Konzentration von Kapitalien, und zu einer Vergrößerung der Kluft zwischen Arm und Reich. Ferner wies Marx nach, dass der kapitalistischen Wirtschaft ein Zwang zum Wachstum innewohnt, dass das Kapital nur fort existieren kann, wenn es sich beständig auf größerer Stufenleiter reproduziert. Man findet viele der uns noch heute am wirtschaftlichen Leben irritierenden und ängstigenden Phänomene triftig beschrieben und begründet und fragt sich auch, ob spätere Ungleichgewichtstheoretiker wie z.B. J.M. Keynes, nicht doch von dem vergessenen Gelehrten etwas gewusst haben müssen.«

Soweit Prof. Y aus Massachusetts.

Wir sagten schon, dass wir ihm beipflichten, wir erwähnen noch die Schuldenkrise und das ökologische Desaster, die beide nicht zu trennen sind von der privaten Verfügung über die Produktionsmittel, und bemerken zusätzlich, dass Marx das potenzielle Auftreten solcher Krisen nicht nur »vorhergesehen«, sondern begründet hat. Es mag ja sein, dass es keinen anderen Weg gibt als den kapitalistischen, dass wir die Makel und Bedrohlichkeiten dieses Weges wenn nicht hinzunehmen, dann doch im Auge zu behalten und zu korrigieren haben, so gut es eben geht, und uns ansonsten der mannigfachen Chancen, welche die Marktökonomie für viele eben doch bereithält, erfreuen sollen. Es mag ja sein, dass die große Alternative, an die Marx dachte, nicht existiert, dass wir uns mit Flickwerk am real existierenden Kapitalismus begnügen müssen. Warum aber können wir dann nicht trotzdem zugeben, dass Marx die Entwicklungs- und Zerstörungspotentiale, die Chancen und Gefahren, die ökonomischen Tendenzen und sozialen Folgen der kapitalistischen Produktionsweise so klar analytisch herauspräpariert, kritisch-polemisch in Worte gebracht und ebenso wohl logisch bewiesen als historisch belegt hat wie niemand vor und niemand nach ihm? Auch Marx hat ein »Modell« vorgelegt, er hat abstrahiert und zugespitzt, weshalb vieles nicht wörtlich zu nehmen ist und manches erst in die Sprache der Empirie zurückübersetzt werden muss. Die Grundlinien seiner ökonomischen Analyse aber sind bis heute richtig und ersichtlich.

Jetzt, wo kein SED-Funktionär sich mehr über unverdienten Beifall von der falschen Seite freut, dürften »wir«, d.h. die westlichen Gesellschaften, ihre Intelligenzia, ihre Wirtschaftsführer, eingestehen, was wir an Marx haben: einen genialen Kritiker, der mit seinem Röntgenblick nicht nur die Lügen, Winkelzüge und kleinen Gemeinheiten der zu seiner Zeit herrschenden politischen Kaste aufgedeckt hat, sondern – und das ist seine unvergleichlich viel stärkere Leistung – die strukturellen Instabilitäten, Schieflagen und Sollbruchstellen der kapitalistischen Produktionsweise in einer wahrlich dreidimensionalen Prägnanz von der Wirklichkeit und ihrem verborgenen Zusammenhang auf sein Manuskriptpapier durchgepaust und uns überlassen hat – zu Nutz, Frommen, Ärger und Bewunderung.

Wir haben hinten keine Augen

Marx wird manchmal vorgeworfen, er habe »die Wirtschaft« oder ökonomische Motive überschätzt und »dem Bewusstsein« oder sonstigen höheren Regungen der Menschen zu wenig zugetraut. Das ist ein Missverständnis, von dem jeder aufmerksame Marx-Leser spätestens dann geheilt ist, wenn er den Kontext der Marx’schen »Umkehrung« begriffen hat: »Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, es ist ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.« Marx wendet sich hier polemisch gegen die linken Hegelianer, die, ganz wie (s. o.) der Mann, der von der »Illusion der Schwere« besessen war, unsre leidende Welt mittels des puren Gedankens von ihren Gebresten heilen wollten. Marx’ materialistische Wendung zur »wirklichen Bewegung«, zum Proletariat, zur Empirie dürfte sich ihrem Sinn und ihrer Substanz nach den Beifall unsres jetzt endgültig nach Art der Naturwissenschaften aufgeklärten 20. Jahrhunderts längst verdient haben. Wenn man in diesem Punkt etwas an ihm aussetzen will, dann höchstens, dass die »Umkehrung« nicht radikal genug ausgefallen ist. Mit dem Tableau der befreiten Gesellschaft blieb ein metaphysischer Rest.

Andererseits aber trug Marxens materialistisch-analytische Anstrengung, seine Kritik der politischen Ökonomie, Früchte weit über die Grenzen der Fachökonomie hinaus. Und da, in Literatur, Philosophie und sozialkritischer Chronik des 20. Jahrhunderts, hat sie vielleicht am meisten ausgerichtet – was zugleich beweist, wie wenig Marx den Vorwurf verdient, das denkende, empfindende, sprechende, Kunst produzierende und betrachtende, kurz: das ästhetische und moralische Individuum zugunsten des fressenden vernachlässigt zu haben. Schon Marxens Sprachkunst entkräftet diesen Vorhalt. Wenn er den Stil nicht seinem Bedürfnis nach Genauigkeit opfert und ihn zwischen Zitaten, Wiederholungen, Formeln und umständlichen Begriffskombinationen wie »in Gemeinschaft produzierende Individuen« versacken lässt, wenn er sich essayistisch freimacht, haben wir es mit einem Schriftsteller von stupendem Wortschatz, hartem Rhythmus, einer für seine Zeit untypischen Dichte und Knappheit der Darlegung und einem ebenfalls sehr modernen bissigen Humor zu tun. Der Polemiker Marx ist als Stilist weithin anerkannt, doch auch die erzählenden Passagen, in denen er seine Theorie mit Beispielen und Historien veranschaulicht, sind mehr als das: starke Prosa.

Marx’ sprachliche Disziplin und seine epischen Ausschweifungen sind nicht nur ein schönes Extra, sie zeigen, dass er von seiner ökonomischen Theorie mehr erwartet hat als Aufschluss über Produktionsverhältnisse im materiellen Sinn. Tatsächlich hat er mehr geliefert. Seine Kritik der kapitalistischen Warenproduktion greift weit aus und erfasst die Kultur mit. Brecht, Benjamin, Bloch, die Frankfurter Schule, sie alle kommen von Marx her, und zwar weniger von dem Marx des Formelwerkes aus den drei Bänden des »Kapital« und der »Theorien über den Mehrwert« als von dem Kulturkritiker Marx, der in dem Kritiker der politischen Ökonomie drinsteckt. »Die Menschen machen ihre Geschichte selbst, aber... nicht aus freien Stücken«, sie bleiben abhängig von ihren eigenen Hervorbringungen: Staat und Kapital, sie stellen ihren gesellschaftlichen Zusammenhang nicht im bewussten Akt her, sondern blind und als dessen Opfer. Ihr gesellschaftlicher Zusammenhang verselbständigt sich gegen sie: als Geld klingelt er in ihren Taschen, und als Kapital degradiert er sie zu Knechten. Sachlich, vermittelt bloß über das äußerliche ökonomische Band, verhalten sich die Personen zueinander, während die Sachen, die Waren, das gesellschaftliche Verhältnis usurpieren. Die Welt ist verkehrt, die Menschen sind einander und sich selbst entfremdet. Während der Markt sie in ein allseitiges, aber sachliches und kaltes Verhältnis setzt, raubt er ihnen nach und nach ihre letzten Refugien persönlicher Verbundenheit, unterwirft er alle gesellschaftlichen Sphären seinem Gesetz: die Künste, die Wissenschaften, die Hauswirtschaft... Alles wird marktförmig, vermittelt nur über die »fühllose bare Zahlung«. Wie soll eine solche Welt nicht frösteln machen, wie die Literaten, Philosophen und Zeitkritiker nicht ans Werk setzen, damit sie die Übermacht des Marktes anklagen und womöglich aufhalten? Die marxistische Kulturkritik, die eine Expansion von Marktnormen bis in die verborgenen Höhlen der Psyche, in die Träume und Triebe, ausmacht und nachzeichnet, ist immer noch am Werk. Sie kann die von Marx einst angefangene Reihe fortsetzen: nach den Künsten ist es heute eine so beliebte kulturelle Errungenschaft wie der Sport, der zu einem gigantischen, den Sinn des edlen Wettstreits verhöhnenden Geschäft geworden ist; aber auch die Sexualität wäre zu nennen, deren Surrogate gehandelt werden wie Semmeln, und selbst die Konfessionen sind zu Anbietern von Seelentrost und Glaubensgewissheiten geworden, die um ihre Nachfrager mit professioneller Reklame werben.

Obwohl sie ja im Recht ist, hat die linke Kulturkritik schon länger einen hohlen Klang – vielleicht weil sie zu sehr im Recht ist und weil sie es nicht gelernt hat, ihren Gegenstand neu zu fassen, nachdem die große Alternative ( = Revolution und Sozialismus) abgedankt hat, und zwar sowohl als ideelle Voraussetzung,vor der das »Falsche« als solches erscheint, wie auch als materielles Ziel, für das der Kampf sich lohnt. Jetzt müsste die Kulturkritik sich an die Gehlen’sche Frage herantrauen, ob nicht die »Entfremdung« ihre befreiende Seite habe, ob wir nicht dadurch gewinnen, dass wir uns als gesellschaftliche Individuen vorab sachlich aufeinander beziehen und selbst entscheiden müssen, mit wem wir’s persönlich halten. Jedenfalls hat der Kapitalismus mit der Marktdominanz zugleich die »Individualisierung« hervorgebracht, d. h. einen enormen Zuwachs an Optionen (und Unsicherheiten) für die einzelnen. – dass der gesellschaftliche Zusammenhang sich am Ende immer ein Stück weit »hinter dem Rücken der Individuen« herstellen wird, das ist vielleicht weniger ein Fall für die Chaos-Forschung als eine Herausforderung an die menschliche Selbstbescheidung: wir können uns schwer damit abfinden, dass wir hinten keine Augen haben. Marx wollte alles wissen und kontrollieren, und er hat geglaubt, dass das möglich sei. Wir desillusionierten, bescheideneren Heutigen dürfen den Gedanken zulassen, ob wir uns nicht mit einer unvollkommenen, annähernden Kontrolle unseres »gesellschaftlichen Zusammenhangs« begnügen und versuchen müssen, diese zu optimieren. Eine solche reformistisch-pragmatische Variante von Gesellschafts- und Kulturkritik »widerlegt« Marx nicht, denn sie baut auf ihm auf. Sie spricht nur aus, dass zwischen Marx und uns mehr als 100 Jahre und einige ernüchternde Erfahrungen mit Kriegen, Revolutionen und Großtheorien liegen.

Was bleibt?

Marx hat im Grunde etwas sehr Einfaches gesagt: dass es nicht angeht, wenn in einer Gesellschaft die einen immer mehr raffen und haben und die anderen immer mehr schaffen und es zu nichts bringen. Ihm genügte natürlich eine solche Feststellung nicht. Er wollte beweisen, dass die kapitalistische Ökonomie instabil, deshalb zum Untergang verdammt, dabei aber fähig sei, eine neue Ökonomie und Gesellschaft aus sich hervorzubringen. Die naturalistische Metapher vom Geburtsakt ist hier sein Lieblingsbild. Als Assistent der Geschichte ist das Proletariat – eine Klasse, deren »besondere« Interessen zugleich die der Gesellschaft sind, die also wirkliche Allgemeinheit ist, weil sie das tiefste soziale Fundament repräsentiert: die Arbeit – berechtigt oder gar verpflichtet, revolutionär nachzuhelfen.

Was ist von dieser moralischen Geschichtsvision geblieben?

Einmal der Ausgangspunkt: dass es nicht angeht, wenn... Marx war nicht der erste und nicht der letzte, der eine solche schlichte ethische Wahrheit ausgesprochen hat, aber er tat es mit der nachhaltigsten Wirkung, weil er sie mit einer gewaltigen Drohung gepaart hat: der Revolution. Jetzt, wo die grandiose Perspektive eines Umsturzes zur schlichten Systemreform heruntergekürzt worden ist, scheint Marx nicht mehr zuständig. Es ist aber nur das 19. Jahrhundert in seiner theatralischen Gebärdensprache, das in und an Marx nicht mehr gilt. Der kühle Analytiker, der er überwiegend war, ist aktuell geblieben. Das erwähnte Skandalon ist nicht aus der Welt und so auch nicht die Marx’sche Diagnose. Wir leben in einer ungerechten Gesellschaft mit einer instabilen Ökonomie, die immer wieder korrigierende Eingriffe braucht. Als heroischer Dialektiker hat Marx von flickschusternder Systemverbesserung nichts wissen wollen – als Chronist des Klein-Klein der englischen Sozialgesetzgebung jedoch wirksame Schutzbestimmungen für die »labouring poor« durchaus begrüßt. Der sozialpolitische Reformer an ihm ist heute noch vorbildlich, der Revolutionsverkünder war gefangen in den Prätentionen seiner Zeit.

Die Unbeirrbarkeit, mit der Marx an der Arbeit als der notwendigen Basis – von Gesellschaft, Kapital, Philosophie, Individualität und Freiheit – festgehalten hat, seine Anthropologie vom tätigen Menschen und sein Theorem vom Arbeitswert sind weitere »bleibende Elemente« seiner Vision. Natürlich kann kein Betriebswirt eine Kostenrechnung auf Basis des Arbeitswerts durchführen, darum geht es auch nicht. Dem Betriebswirt genügen die Preise. Das Selbstverständnis, das Ethos, die moralische Konstitution der kapitalistischen Gesellschaft, die nie einheitlich sein wird und zu sein braucht, formuliert Werte, und das dürfen ruhig »Arbeitswerte« sein. Marxisten und Marx-Schüler, die an ihrem Meister die systematische Genauigkeit und die logische Stringenz besonders hoch schätzen, wehren sich dagegen, dem unbestechlichen Wissenschaftler Marx allzu starke moralische Impulse bei der Abfassung seiner Theorie zu unterstellen. Es ist indessen sehr schwer, den Empörer Marx von dem kühlen Kopf zu scheiden, und es soll hier der Vorschlag gemacht werden, darauf zu verzichten und, weitergehend, den moralischen Impuls vom Verdacht der notwendigen Tatsachenblindheit freizusprechen. Marx wird auch in Zukunft zu Debatten über Wahrheitsanspruch und Parteilichkeit Anstoß geben, er wird wissenschaftliche Zünfte darüber streiten lassen, ob man nicht sehr wohl nachdenken könne, während man vor Wut schnaubt, und ob nicht die Ataraxie vorwiegend zu Tautologien inspiriert. – Für die Gesellschaft insgesamt, für die Auseinandersetzungen um die Frage: Was ist gut? Was ist gerecht? Wieviel Ungleichheit ertragen wir? – zur Abwägung dieser Fragen legt die Marx’sche Tradition: das Bestehen darauf, dass es die Arbeit ist, die alles hervorbringt, vom Butterbrot bis zum Großkonzern, vom Pflasterstein bis zum Elfenbeinturm, vom Schweißtropfen bis zum Selbstbewusstsein, ein schweres, umstrittenes, unverzichtbares Gewicht in die Waagschale. Es ist heutzutage nicht schick, von Arbeiterklasse, Lohnkämpfen und Privateigentum an den Produktionsmitteln zu reden. Unsere Gesellschaft tut gern so, als habe sie vorm Eintritt in das dritte Jahrtausend mit ihrer famosen sozialen Marktwirtschaft diesen ganzen Müll entsorgt. Hat sie nicht. Die Vokabeln und Schlagworte mögen wechseln, die Sache bleibt die alte. Unsere kapitalistische Gesellschaft, je reicher, pluraler und subkulturell ausdifferenzierter sie auch wird, braucht, behaupten wir, ein Bewusstsein von der »fundamentalen« Bedeutung der Arbeit – als »working class« und als individuelles Erfahrungsfeld – und von der Notwendigkeit des Respekts vor ihr. Sie, die Gesellschaft, hat diesen Respekt in den letzten hundert Jahren durchaus aufgebracht und erwiesen. Man muss ihn ihr aber immer wieder neu abringen, vor allem, was materielle Konsequenzen betrifft.

Folgendes Zitat finden wir in der Einleitung Prof. Y’s zur Neuherausgabe des Marx’schen »Kapital«:

»Bauernaufstand im Norden Portugals: Berittene Polizisten prügeln auf die Dorfbewohner von Valpaços ein, die immer wieder versuchen, Eukalyptussprößlinge aus dem Boden zu reißen. In Quinta do Ermeiro marschiert Polizei auf, weil Bergbauern die schweren Planierraupen aufzuhalten suchen, mit denen Korkeichen und Olivenhaine für den Eukalyptusanbau terrassiert werden sollen.

So wehrt sich im Trás-os-Montes die Landbevölkerung gegen die Segnungen einer europäischen Strukturpolitik, die den armen Regionen der Gemeinschaft Fortschritt und Wohlstand bringen soll. Tatsächlich aber bedroht die von der EG geförderte Monokultur des schnellwachsenden Eukalyptus die kärgliche Existenz der Bergbauern und füllt die Kassen von Waldbesitzem und Fabrikanten.«

Prof. Y kommentiert: »Diese Notiz über einen Konflikt im Norden Portugals hätte, was die Diktion und die Pointe betrifft, genauso, Wort für Wort, eine der vielen journalistischen Arbeiten einleiten können, die Karl Marx nebenbei und um des Broterwerbs willen geschrieben hat. Daran, dass von der Europäischen Gemeinschaft und von Planierraupen die Rede ist, erkennen wir, dass wir es mit einem zeitgenössischen Text zu tun haben. Er stand im Hamburger SPIEGEL Nr. 16/1990 und ist nur eine von unzähligen Meldungen ähnlichen Inhalts, wie unsere westliche Presse sie täglich verbreitet. Der Kapitalismus ist akzeptiert, aber die Kritik an ihm ebenso. Die Kritik, die zu Marx’ Zeit der ökonomischen Wirklichkeit und den »Fabrikherren« feindlich gegenüberstand, ist inzwischen in das System hineingewachsen. Es ist doch seltsam, dass wir alle ganz offensichtlich die Schüler eines Lehrers sind, von dem wir gar nichts wissen.«

Wir möchten Prof. Y so ergänzen: während der Kapitalismus von alleine weiterwuchert, braucht die Kritik an ihm einen Anstoß. Das ist immer noch so. Zwar ist sie nicht mehr verboten, sie wird sogar ermutigt, aber sie soll möglichst wenig kosten. Und sie darf die »Grundordnung« nicht antasten. Das will sie meist nicht mal. Im Einzelfall ist es aber nicht immer leicht zu sagen, wo erlaubte Kritik aufhört und das »Antasten« beginnt.

Auch was die »Grundordnung« ist, versteht sich nicht von selbst. Konservative schieben gern »die Demokratie« vor, gegen die im Ernst niemand was hat. Ein anderes Konstituens der »Grundordnung«, genauso elementar wie die Volksherrschaft, aber von weniger fabelhaftem Ruf, macht mehr Sorgen, und das ist das Privateigentum. Es ist nicht das Reihenhaus gemeint, sondern die Fabrik, wobei auch die Frage, wie und wo der Fabrikbesitzer und wie und wo sein Arbeiter wohnt, eine durchaus politische Angelegenheit ist. Privateigentum wird immer noch ungern zum Thema gemacht, es überwintert, was die öffentliche Rede von ihm betrifft, in einer Tabuzone – obwohl es keine organisierte Macht mehr gibt, die es abschaffen will. Aber es sind inzwischen Formen des Eingriffs in die private Verfügung gefunden worden, die, während sie den juristischen Besitztitel bestehen lassen, doch einzelne Funktionen des Eigentums heraustrennen und Befugnisse abspalten, die Nutznießung einschränken und die soziale Verpflichtung hervorheben, und diese Eingriffe sind für die Kapitalistenklasse schmerzhaft genug. Wenn sie angedroht oder durchgeführt werden, schlägt die herumkurierende oder nur kosmetische Systemverbesserung in eine echte Reform um – und hier steht immer noch, wie zu Marx’ Zeiten, Privatinteresse gegen Gemeininteresse und das Interesse der kleinen Leute gegen das der großen Tiere.

Es ist so: Ein Stück Sozialismus wurde in das kapitalistische System eingelassen, die feindlichen Prinzipien existieren nebeneinander und halten einander in Schach. Der Sozialismus wurde nicht aus dem Kapitalismus geboren, sondern in ihn hineinoperiert – und er macht dort, genau wie ein Organtransplantat im menschlichen Körper, Schwierigkeiten. Der Kapitalismus reagiert mit Abstoßungstendenzen. Der Arzt – die soziale Politik – muss immer wieder nachhelfen, festnähen und aufbauende Medikamente verabreichen. Das Faszinierende ist, dass Marxens Einsichten in die »Natur« des Kapitalismus, in dessen angeborene soziale Rücksichtslosigkeit, sich täglich neu bestätigen, dass er, Marx, zwar praktisch die Reformierbarkeit des Kapitalismus unterschätzt, theoretisch aber die Systemunverträglichkeit weitgehender sozialer Reformen zutreffend dargelegt hat. Im Grunde will das Kapital immer noch in Ruhe seinen »Werwolfsheißhunger nach Mehrarbeit« stillen und sich dabei nicht von sozialen Gefühlsduseleien stören lassen. Es darf aber nicht mehr. Es muss Sozialabgaben ertragen, Gewerkschaftsmacht hinnehmen und Partizipation der Lohnabhängigen an allen kulturellen Errungenschaften der bürgerlichen Kultur. Es muss den Dauerstreit aushalten, den solche Umverteilungen innerhalb der Gesellschaft auslösen. Diesen Konsens hat die »Partei der Arbeit« in über hundertjähriger mühseliger Kleinarbeit und in verlustreichen Kämpfen durchgesetzt. Wie tragfähig, wie ausbaubar, wie verbindlich jener Solidarität zu nennende Konsens wirklich ist, wird das kommende Jahrzehnt zeigen. Es wird daran erinnern, dass die Marx’sche Idee vom Individuum, das »unmittelbar zugleich« Gemeinwesen ist, d. h. seine Privatinteressen nicht mehr (nur) im Gegensatz zu den allgemeinen Interessen und zu denen seiner Mitmenschen setzt, doch keine bloße Chimäre ist. Die Armen aus dem Osten, aus der ehemaligen DDR, aus Polen, Russland, Albanien und Rumänien, sie bringen wenig mehr mit als ihre Arbeitskraft, große Hoffnungen und Heimweh. Ihre Integration in unsere saturierte, mürrische, aber auch flexible und tolerante Gesellschaft wird zur Bewährungsprobe werden für die Überlebenskraft eines reformierten Kapitalismus, der seinen eigenen ökonomischen Funktionsmechanismus nach den schöpferischen und den zerstörerischen Konsequenzen hin auseinander zu sortieren und die einen zu ermutigen, die anderen zu unterdrücken gelernt hat. Diese heiklen und mühsamen Korrekturen sind Daueraufgaben für eine Reformpolitik, wie sie Marx für unmöglich hielt. Insofern hat er »geirrt«. Was er aber über den ökonomischen Funktionsmechanismus zu sagen hat, ist damals wie heute die Wahrheit. Ohne Kenntnis dieser Wahrheit könnten wir die Solidarität nicht durchhalten, denn das bloß moralische »Prinzip Verantwortung« ginge ins Leere. Der Appell allein genügt nicht. Wir brauchen den Zwang des Gesetzes. Nur wenn wir wissen, wie der Kapitalismus funktioniert, können wir ihn reformieren. Und nur dann können wir ihn retten. Auch die Konservativen stehen »auf den Schultern von Marx«. Und so gibt es keine politische Couleur, die einen interessierten Zeitgenossen daran hindern dürfte, Marx neu zu lesen.

Erläuterungen zur Textauswahl

Eine Auswahl mit Marx-Texten von etwa 140 Seiten zu besorgen, ist für jeden Menschen, der Marx ausgiebig und mit Neugier, Bewunderung und Gewinn gelesen hat, eine Qual. Zu vieles muss draußen bleiben, was doch hineingehörte und was zum Verständnis von Marx, auch im Sinn eines »ersten Eindrucks«, nötig scheint. Aber so ist das nun mal, Auswählen heißt weglassen, und was schließlich übrig bleibt, darüber entscheiden allen Einteilungs- und Gliederungsgesichtspunkten zum Trotz meist ganz subjektive Vorlieben.

Zu den Einteilungs- und Gliederungsgesichtspunkten trotzdem ein paar Worte: Marx wird landläufig in den Philosophen, Historiker, Soziologen, Ökonomen und Zeitgeschichtler zerlegt. Diese Aufspaltung missachtet die »Interdisziplinarität« seines Zugriffs. Unsere Einteilung folgt den großen kritischen Linien des Werks: Marx hat, erstens, versucht, der bürgerlichen Welt Geschichte beizubringen und sie von dem Wahn zu heilen, ihre Ordnung sei von Natur und ewig. Er hat, zweitens, auf Historizität nicht nur des bürgerlichen Staates, sondern der Politik überhaupt bestanden und darauf gebaut, dass der »vergesellschaftete Mensch« einen Weg finde, nicht nur objektiv und ideell, sondern von sich aus und wirklich »Gemeinwesen« zu werden, sich sein »Gattungswesen« anzueignen. Er hat, drittens, das Proletariat nicht nur zum Geschichtshelden stilisiert, sondern danach gefragt, wie es wirklich lebt. Er hat, viertens, den größten Teil seines Lebens damit verbracht, die »Anatomie« der bürgerlichen Gesellschaft zu besorgen, d.h. das Kapital als Produktionsverhältnis theoretisch darzustellen. Er hat, fünftens, über die internationale Entwicklung des Kapitalismus Aussagen gemacht, die immer noch aktuell sind.

Diese fünf Gesichtspunkte, denen unsere Kapiteleinteilung folgt, sind nicht nur eine Nachzeichnung Marx’scher Kritiklinien, sie sind genauso gut Fragen, die wir heute noch an Marx stellen können, bzw. sie betreffen Einsichten, die wir Marx verdanken. Er ist nicht der erste Historiker, aber einer der wenigen, die konsequent versucht haben, die eigene Epoche zu historisieren. Er war ein hervorragender Schilderer: was vor hundert Jahren die Arbeiter durchzustehen hatten, kann man am besten bei dem Mann (und seinem Freund Friedrich Engels) nachlesen, der, alles in allem, viel dazu beigetragen hat, dass es heute anders aussieht. Und wenn man wissen will, warum es so schwierig und notwendig zugleich ist, den Kapitalismus zu reformieren, kann man auch viele Antworten bei Marx finden. Das 5. Kapitel ist vor allem deshalb eingerichtet worden, weil die mit dem Kapitalismus verbundenen Probleme sich inzwischen internationalisiert haben und heute den Nord-Süd-Konflikt krisenhafter und bedrohlicher erscheinen lassen als die Klassenfrage. Außerdem fügen sich in so einem Zusammenhang die Entwürfe zum Brief am Vera Sassulitsch, in denen Marx sich – der Anachronismus sei erlaubt – als Anti-Leninist erweist, gut ein.

Jedes Kapitel beginnt mit einem Auszug aus dem »Kapital« (eine Ausnahme macht das zweite, für das sich in den »Grundrissen« etwas passenderes fand). Es soll hierdurch dem Vorurteil entgegengewirkt werden, das Marx’sche Hauptwerk sei »zu fachlich«. Die folgenden Auszüge sind umgekehrt-chronologisch angeordnet: man liest, falls man nicht hinten anfängt, zuerst den älteren Marx, zum Schluss den jüngeren. Nur beim vierten Kapitel ließ sich diese Anordnung nicht durchhalten, da es hier wichtiger war, dass die Texte inhaltlich aneinander anschlossen.

Am Ende eines jeden Kapitels steht ein Brief. Auch die Briefe fallen aus der umgekehrten Chronologie heraus. Es ließ sich ferner nicht immer ein inhaltlicher Zusammenhang zum Kapitel herstellen. So passt z.B. der Brief an Jenny Marx in keines der fünf Kapitel hinein, ist aber doch zu schön, als dass er fehlen dürfte. Wir hoffen, dass diese Durchbrechung der Kapiteleinheitlichkeit entschuldbar ist.

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