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Lévinas im Profil

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Lévinas’ Ethik und die abendländische Tradition1

Die Ethik Lévinas’ ist ein Denken vom Anderen her. Damit hat sie einen anderen Ursprung als traditionelle ethische Konzepte, die von der Identität, vom Denken des Selben ausgehen. Doch Lévinas’ Philosophie entstand nicht unabhängig von der abendländischen Tradition, sondern gerade in der kritischen Auseinandersetzung mit ihr. Er schätzt diese Philosophie, die auch sein Denken geschult hat, doch er schätzt sie nicht kritiklos. Denn mit dem Streben des ontologischen Denkens nach Weisheit als vollem Selbstbesitz des bewussten Ich gehe immer auch eine Gefahr einher: die der Totalität allen Denkens, der Rückführbarkeit alles einzeln Seienden auf das Allgemeine. Auf diese Weise gingen nach Lévinas die Wertschätzung von Andersheit und eine echte Transzendenz verloren.

Kritik der Ontologie

Lévinas kritisiert die ontologische Tradition, die das Denken des Abendlandes geprägt und dominiert hat.

Exkurs

Ontologie

Ontologie ist die »›Seinslehre‹, d.h. Lehre vom Seienden, sofern es ist.« (Halder 2008, 233) Damit ist ein Begriff gemeint, der in der philosophischen Tradition erst im 17. Jahrhundert aufkam, vom Prinzip her jedoch bereits auf das aristotelische Denken zurückgeht. In diesem interessiert nicht das einzelne Seiende in seiner Singularität, sondern das in ihm aufleuchtende allgemeine Sein. »Ontologie ist reine, sich selbst genügende theoria, ›Theorie‹ im ausgezeichneten Sinn. Die ontologische Frage ist sowohl die leerste, weil allgemeinste, als auch die umfassendste, weil auf die unbeschränkte Totalität gehend.« (ebd.)

Im ontologischen Denken stehen sich zwei Grundordnungen gegenüber: auf der einen Seite die reale, sinnlich wahrnehmbare, aber vergängliche Welt, die Heimat aller einzelnen Seienden; auf der anderen Seite die geistige Wirklichkeit der Ideen, die alle allgemeinen Prinzipien beheimatet. Sie ist gleichsam die vorgegebene und übergeordnete Ordnung für alles sinnlich Seiende. Der Mensch lebt in beiden Ordnungen: Körperlich ist er in die sinnlich erfahrbare Welt eingebunden, an der geistigen Welt kann er teilhaben, da er mit Geist ausgestattet ist. Weil der Mensch vernunftbegabt ist, kann er die Welt der sinnlichen Einzelwesen transzendieren und an den geistigen Erkenntnissen teilhaben (vgl. Müller / Halder, 219f.).

In diesem ontologischen Denken gilt der Primat des Geistes, der die Grundsätze des allgemeinen Seins erkennen, sich an den allgemeinen Prinzipien orientieren kann. Alle sinnlich wahrnehmbaren Einzelphänomene werden den geistigen Prinzipien untergeordnet und auf ihren allgemeinen Seinsgrund zurückgeführt. Auf diese Weise entsteht jedoch nach Lévinas Totalität, da jede Andersheit und sogar ihr Gegenteil letztlich auf das eine Prinzip bezogen werden kann. In unserer intellektuellen Tradition sind Sein und Erkenntnis des Seins in ihrer Identität der eigentliche Schauplatz des Geistes, sagt Lévinas (vgl. WGD, 153f.).

Ontologie ist das Denken, das von dem einen Ursprung ausgeht und zu dem einen Ziel zurückkehrt. Durch den Geist kann der Mensch teilhaben an diesem Ursprung und an diesem Ziel. Der Geist verfolgt so gleichsam das Ziel der Rückkehr zu sich selbst.

»Der Weg der Philosophie bleibt der des Odysseus, dessen Abenteuer in der Welt nichts anderes als die Rückkehr zu seiner Geburtsinsel war – ein Sich-Gefallen im Selben, ein Verkennen des Anderen.« (HaM, 33)

Lévinas stellt dieses Denken in Frage. Sollte alles, was ist, letztlich rückführbar sein auf denselben Ursprung, denselben Ausgangspunkt? Sollte die Vielfalt aller Einzelphänomene, die Variationsbreite der Erscheinungsweisen des Seins doch nur eine Ausfaltung des Einen und Allgemeinen sein?

Lévinas sucht einen Weg, der der Andersheit und der Mannigfaltigkeit der Einzelphänomene gerecht wird. Es ist ein Weg, der nicht von den allgemeinen Prinzipien ausgeht, sondern von der Singularität des einzelnen Seienden, vom Reichtum der Andersheit, von echter Pluralität.

Fehlende Wertschätzung von Andersheit

Die ontologische Reflexion des Seins ist nach Lévinas einseitig (zur Darstellung seiner Kritik an der abendländischen Tradition vgl. Staudigl, 28ff.). Wo bleibt das Andere, wenn alles auf das Selbe, das Allgemeine, das Prinzipielle zurückgeführt wird? Das einzelne Seiende, das Individuum in seiner Originalität bedeutet und zählt nicht – oder nur, insofern es einer Allgemeinheit angehört. Alles, was als sinnlich Einzelseiendes erscheint, wird in dieser Tradition auf einen ersten nicht-sinnlichen Grund und ein letztes nicht-sinnliches Ziel bezogen.

»Wenn im philosophischen Leben […] ein diesem Leben Fremdes auftaucht, etwas anderes – die Erde, die uns trägt, der Himmel, der uns erhebt und uns nicht kennt, die Kräfte der Natur, die uns vernichten und uns beistehen, die Dinge, die uns hinderlich sind und uns nützen, die Menschen, die uns lieben und uns knechten – so ist es ein Hindernis. Man muss es überwinden und in dieses Leben integrieren. Und die Wahrheit ist eben dieser Sieg und diese Integration.« (SpA, 188)

Doch ist es wirklich ein Sieg, wenn das Fremde überwunden wird? Nach Lévinas kommt es einem Gewaltakt gleich, das Andere nicht in seiner Eigenart zu schätzen. Gilt das Primat des Selben, wird das Andere nicht gewürdigt. Die Besonderheit des Anderen gilt dann nicht als Auszeichnung, sondern als Störung, als Hindernis, als Abweichung vom Eigentlichen. Andersheit hat dann nicht eine eigene irreduzible Qualität, sondern steht unter der Optik des Fremden, des Vorläufigen, des Nochnicht-Selben.

In der ontologischen Tradition ging die Philosophie den Weg der Angleichung des Anderen an das Selbe, des Be-greifens von Andersheit, der Identifizierung – und damit der Vereinnahmung des Anderen. Unsere abendländische Geschichte ist voll von identifizierenden Übergriffen: Zwangsmissionierung Angehöriger anderer Religionen; kulturelle Überformung Eingeborener während des Kolonialismus; »Umerziehung« ethnischer Minderheiten oder von Menschen mit anderen Lebensentwürfen. Und sie kennt Kapitel der gewaltsamen Vernichtung der Andersheit, weil die Identifizierung, die Angleichung nicht gelungen ist. Man denke an die dunklen Kapitel der Hexenverfolgungen oder Judenprogrome durch die Jahrhunderte hindurch.

»Die Eroberung des Seins durch den Menschen im Laufe der Geschichte – das ist die Formel, in der sich die Freiheit, die Autonomie, die Reduktion des Anderen auf das Selbe zusammenfassen lassen. In dieser Reduktion des Anderen auf das Selbe stellt sich nicht irgendein abstraktes Schema dar, sondern das menschliche Ich. Die Existenz eines Ich verläuft als Verselbigung des Verschiedenen. « (SpA, 186)

Lévinas sucht einen ethischen Weg, der bei der Andersheit beginnt, in ihr nicht die Abweichung vom Selben sieht, sondern ihm eine ganz andere Weise zu sein zugesteht. Ihm ist es dabei gerade nicht um das Erkennen oder Verstehen einer Andersheit zu tun, sondern um Begegnung und Beziehung. Denn nur die Begegnung mit etwas, das wirklich anders ist als das eigene Ich, erlaubt ein Über-sich-selbst-Hinaus, erlaubt eine wirkliche Transzendenz.

Fehlen einer echten Transzendenz

Für Lévinas hat die ontologische Tradition mit einer einseitigen Vernunftbetonung und einem Identitätsdenken diese Transzendenz eingebüßt.

Exkurs

Transzendenz

Vom Ursprung des lateinischen Wortes (vgl. transcendere = überschreiten) kann Transzendenz als eine Bewegung über die Grenzen des eigenen Selbst hinaus gedeutet werden. In der klassischen abendländischen Metaphysik bedeutete Transzendenz das Denken über den Bereich der konkreten sinnlich wahrnehmbaren Einzelphänomene hinaus auf einen jenseits des eigenen Bewusstseins liegenden Ursprung. Im Laufe der abendländischen Denkgeschichte erfuhr dieser Transzendenzbegriff Kritik von verschiedenen Philosophen, u.a. Kant, Marx und Feuerbach, Nietzsche, Heidegger (vgl. Halder 2008, 337f.).

Auch Lévinas gehört zu den Kritikern eines solchen Transzendenzverständnisses. Für ihn ist diese Art der Transzendenz nicht radikal und unendlich, sondern beseelt vom Wunsch, zur Ruhe zu kommen, im Selben anzukommen. Wenn das Bewusstsein alles auf das Allgemeine und Identische zurückführt, wenn alles, was anders und fremd ist, identifiziert wird, dann ist Andersheit und mit ihr Transzendenz genichtet. Für Lévinas ist dies ein gewaltsamer Akt: das Andere, das Fremde begreifen, in den Griff bekommen zu wollen. Was dabei jedoch nicht gelingen kann, ist der Ausstieg aus der Immanenz, die Begegnung mit Transzendenz.

Immanenz und mangelnde Transzendenz führen zu einer Totalität. Wenn Andersheit nicht als Qualität belassen, sondern gleich gemacht wird, wenn es nur noch das Eine gibt, hat die Totalität gesiegt. Für Lévinas ist die abendländische Tradition auch eine Geschichte dieser Totalität.

»Diese Geschichte kann als Versuch einer universellen Synthese interpretiert werden, als Reduzierung aller Erfahrung, alles Sinnvollen auf eine Totalität, in der das Bewusstsein die Welt umfasst, außerhalb seiner Selbst nichts übrig lässt und auf diese Weise absolutes Denken wird. Das Bewusstsein von sich ist zugleich Bewusstsein vom Ganzen. Gegen diese Totalisierung hat es in der Geschichte der Philosophie wenig Proteste gegeben.« (EU, 57)

Lévinas protestiert. Er geht den Weg in eine Ethik, die nicht von den allgemeinen Prinzipien ausgeht und sie auf das Einzelne anwendet. Er beginnt gerade dort, wo die Ontologie ankommen will: bei der Andersheit des einzelnen Seienden.

Auch Heidegger protestierte vor Lévinas gegen die Totalität der menschlichen Erkenntnis.2 Er kritisierte die klassische Ontologie, die die Frage nach dem Sein immer unter dem Blickwinkel der Weltimmanenz betrachtet hat. Durch diese Betrachtungsweise wurde das Sein vergessen, im Zentrum standen nur die Seienden. Heidegger denkt vom konkreten Dasein des Menschen in der Welt aus. Dieses Dasein ist ein Sein zum Tode. Das Individuum muss sich ins Verhältnis dazu setzen. In seinen späteren Schriften verschiebt sich bei Heidegger die Optik weg vom sorgenden Subjekt hin zum Sein. Das Sein wird nicht mehr als Entwurf von Dasein, als zu bewältigende Existenz vor dem Tod verstanden, sondern als unvorwegnehmbares Geschick der Seins- und Wahrheitsgeschichte, die dem Menschen überhaupt erst die Möglichkeit eines Welt- und Selbstverständnisses eröffnet. Diese Seins- und Wahrheitsgeschichte ist jedoch geprägt von Seinsverbergung und Wahrheitsentzug. Weil man sich dieser Geschichte nicht versichern kann, bleibt unser Denken – und Heidegger versteht das seine so – ein vorläufiges (vgl. Halder 2008, 137f.).

Lévinas kritisiert wohl den totalitären Anspruch einer ontologischen Tradition, die alles identifiziert und ver-ein-nahmt (im wörtlichen Sinne: eins macht). Doch sieht er bei Heidegger eine andere Totalität: die des Seins, die den Menschen zur Exekutive des Seins macht. Das Sein befiehlt dem Menschen die Existenz. Die Beziehung zwischen den Menschen ist für Heidegger nicht interessant, nur die Beziehung zum Sein (vgl. SpA, 194). »Anonym, neutral, befiehlt das ›Sein‹ das Existieren als ethisch indifferentes und als heroische Freiheit, der alle Schuld vor dem Anderen fremd ist.« (SpA, 194)

Das Zwischenmenschliche, die Ethik, die Begegnung von Mensch zu Mensch spielen bei Heidegger keine Rolle – und sind bei Lévinas der Beginn der Ethik.

»Die erste Beziehung des Menschen zum Sein verläuft über seine Beziehung zum Menschen.« (SF, 35)

Abschied vom Monolog des Selben

Sollte es keine andere Weise geben, im Sein zu sein als eine monologische? Sollte es dem Menschen nicht möglich sein, Anderem zu begegnen, das mehr ist als eine Variation des Selben?

Die Tradition hat den Zugang zum anderen Menschen über die Erkenntnis gesucht, über das Allgemeine, alle Verbindende. Dabei wurde immer die Bedeutung des eigenen Bewusstseins bedacht, nicht aber die des Menschseins mit anderen. Welchen Stellenwert haben Begegnung und Beziehung in dieser Tradition? »Wird nicht alles, was im menschlichen Seelenleben auftritt, alles, was dort geschieht, am Ende gewusst? Das Geheimnis und das Unbewusste, verdrängt oder verfremdet, werden gemessen am oder geheilt durch das Bewusstsein, das sie verloren haben oder das sie verloren hat.« (ZU, 55)

Beziehung wird nicht durch Erkenntnis konstituiert, sondern durch Begegnung von Angesicht zu Angesicht. Damit negiert Lévinas nicht die Bedeutung von Vernunft und Erkenntnis für das menschliche Dasein. Doch er hält sie für ergänzungsbedürftig durch eine Ordnung, die dieser ontologischen sogar vorausgeht: durch die sinnliche.

»Der Mensch lässt sich wohl als Gegenstand der Erkenntnis behandeln und zeigt sich dem Wissen im Wahren der Wahrnehmung und im Licht der Sozialwissenschaften. Aber ausschließlich als Objekt betrachtet, ist der Mensch missachtet und verkannt. Nicht, dass die Wahrheit verletzend oder seiner unwürdig wäre. […] Doch wir sind Menschen, bevor wir Wissenschaftler sind, und bleiben es, auch nachdem wir eine Menge vergessen haben.« (AS, 9)

Mit der Abkehr von einem monologischen Denken steht Lévinas nicht allein in der Tradition, sondern stellt sich selbst bewusst in die Nähe der sog. dialogischen Philosophie.

Exkurs

Dialogische Philosophie

Martin Buber, Ferdinand Ebner und Franz Rosenzweig sind die großen Gestalten der dialogischen Philosophie. Allen dreien gemeinsam ist der jüdische Sozialisationshintergund. Ebner entschied sich für die Konversion zum christlichen Glauben, Rosenzweig plante den Übertritt zum Protestantismus, blieb jedoch aufgrund einer prägenden Erkenntnis Jude und gründete in den Jahren vor seinem Tod ein Freies Jüdisches Lehrhaus. Buber schließlich war überzeugter Jude, der sich um die Erneuerung des assimilierten Judentums ebenso bemühte wie um die Verständigung zwischen Juden und Arabern in Palästina (vgl. Coreth / Ehlen / Haeffner / Ricken, 40ff.).

Die dialogische Philosophie entfaltete sich nicht unabhängig von der klassischen Tradition. Auch die dialogischen Denker waren von der Fragestellung geleitet, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Reaktion auf den Idealismus, der das Subjekt als das Absolute postuliert hatte, auftat: der Frage nach dem Sein. Die Antwort, die sie auf diese Frage zu geben versuchten: »Sein wird nicht mehr nur verstanden als der absolute Binnenraum des sich selbst hellen Geistes. Sondern es zeigt sich als das sich je neu im Zwischen Ereignende, das in der je neu sich ereignenden Sprache zwischen Menschen hell wird und zum Ausdruck kommt.« (Casper 1984, 354)

Lévinas weiß sich beeinflusst vom dialogischen Denken. Er spricht voll Wärme von Franz Rosenzweig, den er − da er bereits 1929 im Alter von 43 Jahren verstarb − persönlich nicht kennenlernte, dessen Lehre er aber sehr verbunden war. »Man erkennt in Rosenzweig trotz den schrecklichen Erfahrungen, die uns von seiner Zeit trennen, trotz den deutschen Landschaften, in denen sich dieses Leben abspielt, einen Zeitgenossen und einen Bruder.« (SF, 132)

Rosenzweig hat bereits 1919 in seinem Werk Der Stern der Erlösung auf die Grenzen der abendländischen Philosophie hingewiesen. Ein Habilitationsangebot nach einer exzellenten Promotion an der Universität Freiburg lehnte er ab mit der Begründung der mangelnden Freiheit im universitären Denken. Dieses Denken lasse sich zwar nicht die Antworten vorschreiben, wohl aber die Fragen (zitiert nach Casper 2002, VI). Rosenzweig stellte wie nach ihm Heidegger und Lévinas die Voraussetzungen des überlieferten philosophischen Denkens in Frage. Dieses habe wohl den sicheren Besitz des vielen Wissens erreicht. Aber erreicht es auch die ursprüngliche Wirklichkeit und die für den Menschen wesentlichsten Fragen? (ebd., VII)

»Was Rosenzweig selbst interessiert, ist die Entdeckung des Seins als Leben, des Seins als Leben in Beziehung. Die Entdeckung eines Denkens, das das Lieben dieses Seins selbst ist. Die Person fließt nicht mehr in das System ein, das sie denkt, […], um darin zu erstarren und auf seine Singularität zu verzichten. Die Singularität ist für die Ausübung dieses Denkens und dieses Lebens als unersetzlicher Singularität notwendig, der einzigen, die der Liebe fähig ist, der einzigen, die geliebt werden kann, die zu lieben vermag, die eine religiöse Gemeinschaft bilden kann.« (SF, 143)

Die Singularität des Individuums, die Bedeutung des Lebens als Beziehung sind Themen, die Lévinas auch bei Martin Buber hoch schätzt, der das von Rosenzweig im Jahr 1920 begründete jüdische Lehrhaus in Frankfurt nach dessen frühem Tod noch bis ins Jahr 1938 geführt hat. Mit seiner These »Am Anfang war Beziehung« (vgl. Buber, 15) habe er wie niemand vor ihm dargestellt, dass die dialogische Beziehung zum anderen Menschen einer autonomen und vom Bewusstsein unabhängigen Sinnordnung unterliegt (vgl. Lévinas, AS, 39). Er habe die personale Beziehung von der Intentionaliät des Bewusstseins getrennt und gezeigt, dass es unmöglich ist, die Begegnung mit dem Anderen ins reflektierende Denken einzuholen.

»Die Dimension der Gemeinschaft ist eine durchgehend sinnvolle Ordnung ethischer Beziehungen, die Beziehung mit der nie assimilierbaren und somit im eigentlichen Sinne un-be-greif-baren, mit Zugriff und Besitz unvereinbaren Andersheit des Nächsten. Die Entdeckung dieser Ordnung in ihrer ganzen Eigentümlichkeit, das Durchdenken ihrer Konsequenzen […] bleiben mit dem Namen Buber verbunden.« (AS, 39)

Lévinas schätzt Buber und seine ethische Korrektur des abendländischen Denkens, mit der er die Absolutheit des Bewusstseins zurücknimmt, hoch. Auch wenn er selbst weiter und über Buber hinausgeht, auch wenn er das Verhältnis unter Gleichen durch ein asymmetrisches Verantwortungsverhältnis ersetzt: Die geistige Verbundenheit mit Rosenzweig und Buber, zwischenmenschliche Beziehungen nicht an Erkenntnis rückzubinden, bleibt bestehen.

»Die irreduzible und letztendliche Erfahrung der Beziehung scheint mir in der Tat woanders zu liegen: nicht in der Synthese, sondern im Von-Angesicht-zu-Angesicht der Menschen, in der Sozialität im moralischen Sinn. Aber man muss verstehen, dass die Moral nicht wie eine zweite Schicht oberhalb einer abstrakten Reflexion über die Totalität und ihre Gefahren ist; die Moral hat eine unabhängige und vorrangige Tragweite. Die Erste Philosophie ist eine Ethik.« (EU, 59)

Literatur

Lévinas, Emmanuel: Die Philosophie und die Idee des Unendlichen, in: SpA, 185-208

Krewani, Wolfgang: Einleitung: Endlichkeit und Verantwortung, in: SpA, 9-51

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Ethik als Erste Philosophie

Ethik ist die Lehre vom rechten Handeln. Da die Vorstellung dessen, was rechtes Handeln ist, jedoch aufs Engste verknüpft ist mit der Vorstellung vom Wesen des Menschen, ist sie letztlich rückführbar auf die Ontologie, die Lehre vom Seienden. Die klassische Zuordnung geht von der Ontologie als Lehre vom Seienden aus und leitet von hier aus ethische Prinzipien ab. Lévinas geht einen anderen Weg. Die ethische Ordnung sei nicht aus der Ontologie ableitbar, sondern eine Ordnung sui generis. Zu ihr führt die Sinnlichkeit, während zur Ontologie das Bewusstsein führt. Doch beide können nicht voneinander abgeleitet werden, sondern sind unabhängige Ordnungen, auch wenn sie in der menschlichen Existenz zusammenkommen.

Exkurs

Ethik

Man kann die Ethik als Lehre vom rechten Handeln unterschiedlich klassifizieren: hinsichtlich Ziel, Ursprung der Verpflichtung, Bezugsgröße, Gültigkeitscharakter, Bewusstseinshaltung oder wissenschaftlichem Handlungsgebiet.

Ethikformen in Abhängigkeit vom Ziel des Handeln sind z. B. Glücks-Ethik (Eudaimonismus), Lust-Ethik (Hedonismus) oder Nutzen-Ethik (Utilitarismus). Hinsichtlich des Ursprungs der Verpflichtung unterscheidet man autonome, selbstbestimmte, sowie heteronome, fremdgesetzliche Ethik. Steht die soziale Bezugsgröße im Mittelpunkt, differenziert man zwischen Individualethik und Sozialethik. Gilt eine Ethik nur für sich wandelnde Situationen, spricht man von Situationsethik im Gegensatz zu einer Wesensethik, bei der es um allgemeine und überdauernde Gebote geht. Fokussiert man die Bewusstseinshaltung, unterscheidet man die sog. deontologische Ethik oder auch Pflichtethik (z.B. der kategorische Imperativ Kants) von einer Erfolgsethik (z.B. Darwinismus: »survival of the fittest«) oder Verantwortungsethik (z.B. die Ethik Hans Jonas’). Eine Differenzierung hinsichtlich wissenschaftlicher Handlungsgebiete erlaubt die Einordnung in Bereichsethiken, z.B. ökologische, politische, medizinische Ethik oder Wirtschaftsethik (vgl. Halder 2008, 94f.).

Im abendländischen Denken gilt Ontologie als die Erste Philosophie, von der aus die Maxime für das ethische Handeln abgeleitet werden. Lévinas kehrt die Zuordnung zwischen Ethik und Ontologie um: Die Ethik ist keine abgeleitete Ordnung der Ontologie, sondern die erste und alles fundierende Philosophie. Doch die Ontologie kann auch nicht aus der Ethik abgeleitet werden, denn die Ethik ist keine Logik im Sinne einer Lehre vom Denken, sondern eine Optik, eine Sichtweise auf den Menschen.

Ethik als Optik

Lévinas stellt in diesem Zusammenhang in Frage, dass der Lehre vom rechten Handeln ein theoretischer Entwurf vom Menschen vorausgehen muss. Nach Lévinas ist Ethik genau dem umgekehrten Weg verpflichtet: nicht der Universalität, nicht dem Selben, sondern der Singularität und dem Anderen, dem »Unmittelbaren einer namenlosen Vereinzelung, die man nur mit dem Finger bezeichnen kann und deren Qualität in eben dieser Andersheit und Unterschiedenheit besteht« (vgl. WGD, 155). Dies ist der Qualitätsmaßstab der Ethik, die eben nicht mit der Erkenntnis Maß nimmt an einer zugrundeliegenden Ontologie.

»Hat das Denken nur Sinn durch die Erkenntnis der Welt? […] Sollte das Denken nur Denken dessen sein, das ihm gleichkommt und das sich auf sein Maß begibt? […] Liegt das Bedeuten des Denkens allein in der Thematisierung und so in der Versammlung der zeitlichen Verschiedenheit und Verstreutheit? Ist das Denken von vornherein ausgerichtet auf die Adäquation der Wahrheit, auf die Erfassung des Gegebenen in seiner idealen Identität des ›etwas überhaupt‹? Sollte das Denken nur sinnvoll und vernünftig sein angesichts der reinen, der vollendeten Gegenwart, die folglich in der Ewigkeit der Idealität ›nicht mehr vergeht‹? Ist alle Anderheit nur eine qualitative, nur Verschiedenheit, die sich einsammeln lässt in die Gattungen und die Formen, und die dazu angelegt ist, inmitten des Selben zu erscheinen?« (WGD, 207f.)

Ethik ist für Lévinas wesentlich eine Optik. Eine Optik jedoch, die erscheinen lässt, die sich gerade kein Bild vom Anderen macht, sondern einem bildlosen Sehen gleicht und bewusst auf die Möglichkeit einer Objektivierung verzichtet (vgl. TU, 23).

Diese Optik muss den Anderen in seiner Andersheit erscheinen lassen. Es gilt gerade nicht, im Anderen die Bilder wiederzuerkennen, die man selbst in sich trägt, ihn den eigenen Vorstellungen anzugleichen. Es gilt, den Anderen in seiner irreduziblen Andersheit zu sehen, ihn wahrzunehmen, ihm zu begegnen – und nicht ihn zu erkennen.

Der Mensch zwischen zwei Ordnungen: Ethik und Ontologie

Lévinas sieht Ethik nicht als praktische Anwendung einer vorangehenden Ontologie, sondern als Ordnung sui generis. Ethik ist eine Ordnung des Sinnes, eine Ordnung, in der das Zwischenmenschliche und das Menschsein vor dem Erkennen etwas bedeuten, in der es nicht um das Sein für sich geht, sondern um eine Existenz mit dem Anderen.

»Eine Ordnung über der Erkenntnis. Eine Ordnung, die mit dem Ertönen eines Rufes das Menschliche in dessen noch von der Allgemeinheit des Genus festgehaltenen, aber schon zur Einzigkeit des Ich erwachten Individualität erreicht und berührt. Erwacht zu einer Einzigkeit, die logisch nicht auszumachen; durch die Verantwortung für den anderen Menschen, die als Erwählung unabweisbar ist. […] Von Einzigkeit zu Einzigkeit, vom Einen zum Anderen. […] Ertönen eines Rufes über aller Logik, wie sie die einzelnen noch immer mittels der Zwänge der Gattung und der Art kommandiert, und Aufruf zu einer Wachsamkeit des Denkens.« (AS, 9f.)

Lévinas lokalisiert den Stellenwert der Ethik höher als den der Erkenntnis, auch über aller Logik – und er sieht die Sinnlichkeit als den Wegbereiter der Ethik. Wir sind Menschen, bevor wir denken und erkennen – und wir bleiben es, auch nachdem wir wieder eine Menge vergessen oder einen Teil unserer Erkenntnisfähigkeit eingebüßt haben (vgl. AS, 9). Säuglinge brauchen menschliche Beziehungen, Nähe, Sprache, Hautkontakt, um zu überleben, um überhaupt erkenntnisfähig zu werden. Demenzkranke Menschen, die einen Teil ihrer Erkenntnisfähigkeit eingebüßt haben, sind für Begegnung, für Nähe und Berührung zugänglich. Sollte wirklich die Erkenntnisfähigkeit, die in der Entwicklung von Kindern erst nach der Bedeutung von Beziehungen auftritt und die man auch wieder einbüßen kann, das kardinale Datum des Menschseins sein?

»Man fragt nicht nach diesem Seienden, sondern richtet Fragen an dieses Seiende. Es ist immer gegenüber. Wenn die Ontologie – das Verstehen, das Umgreifen des Seins – unmöglich ist, so nicht darum, weil jede Definition des Seins schon die Erkenntnis des Seins voraussetzt […] die Ontologie ist vielmehr darum unmöglich, weil das Verstehen des Seins überhaupt nicht die Beziehung zum Anderen zu beherrschen vermag. Ich kann mich aus der Gemeinschaft mit dem Anderen nicht losreißen, selbst wenn ich das Sein des Seienden betrachte, das er ist. […] Diese Beziehung mit dem Anderen als Gesprächspartner, diese Beziehung mit einem Seienden geht aller Ontologie voraus.« (TU, 58)

Nach Lévinas lebt der Mensch im Schnittpunkt zweier Ordnungen: der Ethik und der Ontologie. Der Weg zur Ontologie führt über die Erkenntnis, über die Geisttätigkeit, der Weg zur Ethik über Sinnlichkeit und Nähe. Diese beiden Ordnungen schließen sich nicht aus, sondern finden im Menschen ihren Schnittpunkt. Nach Lévinas bedingen sie einander aber nicht und es gilt, die Ethik als die primordiale im Blick zu haben.

Die Ontologie definiert unter Rückgriff auf die formale Erkenntnis das Allgemeine und Wesentliche; die Ethik sieht das Subjekt als zwischenmenschliches und vom Anderen her angesprochen, immer schon auf den Anderen als Gesprächspartner verwiesen. »Beide Bewegungen überlagern einander und bedingen sich gegenseitig, so dass es im konkreten Vollzug des Menschseins und Subjektseins ständig zu Interferenzen und Wechselwirkungen beider Ordnungen kommt. […] Ihre Unterscheidung liegt nie klar vor Augen, sondern die Ordnungen von Ethik und Ontologie müssen in ihrer Eigengestalt sichtbar gemacht werden, indem man sie aus dem komplexen Geschehen abstrahiert.« (Wenzler 1991, 117f.) Wichtig dabei ist zu sehen, dass keine der beiden Ordnungen die jeweils andere begründen kann. Die Erkenntnis, so Lévinas, ist ihrem Wesen nach eine Beziehung zu dem, dem man gleicht und das man umschließt, dessen Andersheit man aufhebt, das immanent wird, weil es dem eigenen Maßstab entspricht. Auf diese Weise ist Erkenntnis jedoch immer eine Entsprechung zwischen Denken und Gedachtem. Die Gemeinschaft mit dem Anderen kann deshalb nie die gleiche Struktur haben wie die Erkenntnis, da sie eine Begegnung mit einem Anderen ist, dessen Andersheit so anders ist, dass man sie nie begreifen, sie nicht benennen, sondern nur mit dem Finger darauf deuten kann (vgl. EU, 46).

So kann also weder die Ethik aus der Ontologie noch die Ontologie aus der Ethik abgeleitet werden, obwohl beide Ordnungen in der konkreten menschlichen Existenz letztlich nie voneinander zu trennen sind. In der Ethik Lévinas’ begegnet diese Spannung zwischen ontologischem Ich, das sich in seiner Identität behauptet, und ethischem Sich, das vom Anderen angerufen und zur Verantwortung gerufen ist. Diese Position ist eine Position zwischen ontologischem Nominativ und ethischem Akkusativ. Es ist eine Spannung, die nicht aufgehoben werden kann, denn sie ist gründend für die ethische Beziehung, für die Begegnung mit dem Anderen, die eine Beunruhigung der Identität, eine Infragestellung des autonomen Subjekts darstellt (vgl. Reiter, 366).

Ethik als Metaphysik

Lévinas kritisiert die abendländische Tradition, insofern sie Identitätsdenken ist, das alles auf dieselben allgemeinen Prinzipien zurückführt und damit immer auch einem Totalitätsdenken verpflichtet ist. Durch diese Kritik will Lévinas jedoch nicht die Metaphysik in Frage stellen, sondern ganz im Gegenteil ihre eigentliche Bedeutung retten. Denn sie ist der Garant für den Menschen als Wesen der Transzendenz.

Exkurs

Metaphysik

Der Begriff der Metaphysik geht zurück auf die aristotelische Konzeption unserer Denkgeschichte. Aristoteles suchte eine erste Philosophie, die sich nicht nur auf ein konkretes Einzelding richtete und auch nicht nur das Wesen als solches im Blick hatte, sondern das »Seiende als solches«, jenes, das der Grund für alles mögliche und wirkliche Seiende in der Welt und die Möglichkeit des Denkens desselben ist (vgl. Halder 2008, 207f.). Ein solchermaßen gedachtes allumfassendes erstes Sein wird auf verschiedene Weise gedacht und ausgesagt: als Ontologie, insofern das Seiende in seinem Sein gedacht wird; als philosophische Theologie, insofern es als Endliches über sich hinaus auf ein Höchstes und Göttliches verweist; als philosophische Kosmologie, insofern es im Kontext einer Wesensordnung der Welt steht; und als philosophische Psychologie, insofern es sich auf die menschliche geistige Seele bezieht.

Metaphysik generell meint das Denken in der Differenz von sinnlich Einzelseienden und den allgemeinen Ideen, von erscheinender und wesenhafter Wirklichkeit, von Werden und Sein, Vergänglichkeit und Dauer, Sinnlichkeit und Geistigkeit (vgl. Müller / Halder, 219f. und Halder 2008, 207f.).

Allerdings versteht Lévinas Metaphysik nicht im Sinne der Bedeutung, die diese seit Aristoteles in der abendländischen Tradition angenommen hat und die sich letztlich in der Ontologie manifestiert. Denn neben dieser Engführung gebe es auch, so Lévinas, eine andere Auslegung der Metaphysik:

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