Kitabı oku: «Lieber Liebe», sayfa 4
Jo nun wieder in der Wohnung, und es läutete immer mal das Telefon. Gerade wieder einmal. Harald ist's nicht!, sagte sie sich und ging doch, damit - wer auch immer - nicht auf Jo zu lange warten musste. Doch dieses Mal war die Vorkehrung gegen Enttäuschung unnötig. Wo steckst du denn?, hörte sie sehr bekannte Stimme. Ich habe ein paarmal angerufen. Aber du warst nie da! Angriff die beste Verteidigung. Hatte es raus, ihr Herr Harald. Belustigte sie, dass sie einen Vorwurf bekam und sich alles drehte, als sei sie diejenige, die man zu Hause nicht erreichte. Und tat er gleichzeitig so, als sei er vorvorgestern weggefahren und sie hätte nicht den mindesten Grund gehabt, sich aufzuregen, ließ sich zu gern seine kleine Strapaze wegen Ungewissheit einreden. Heute Abend! Oder hast du was vor?
Als sie in seine Straße kam, klopfte das Herz aus reiner Freude so verrückt den Hals herauf, hatte keine Angst mehr, er würde sie verstoßen. Aber wie sie ihn stehen sah in hellem Hemd, heller Hose vor Bücherregal bis zur Decke hinauf, seine Haut nicht mehr honigfarben, sondern wie aus dunklem, poliertem Holz, und das Scharffaltige aus seinem Gesicht weg, jung war es, da wurde ihr doch angst. Du siehst sehr gut aus, sagte sie und dachte: zu gut. Sie hatte sich von zu gut aussehenden Männern immer ferngehalten. Die hatte man nie allein. Die konnte man nicht halten. Zu trinken davor, dabei, danach? Bei unnötiger Frage überzog Lachen das ganze Gesicht, konnte er ja so gut und war auch darin unwiderstehlich, dass er sich in andere Gesichter hineinlachte. Dann musste sie hinschauen, immer nur schauen auf seine Leibeslandschaft und was da aus seiner Mitte wunderbarerweise ohne Umschweife wie Tropengewächs emporwuchs, mit fett-zwiespältigem Blütenblatt bekrönt. Konnte nicht glauben, dass ein Mann sich eigens für sie so zu schmücken imstande war. Wollte immer weiter schauen, zugleich Zuschauerin sein und Spielerin, wenn denn das ein Spiel war. Doch war ihr das verwehrt, denn die Augenlider wurden ihr heruntergezogen, als wäre sie mit einem Mal tiefschläfern. Für Sekundenbruchteil riss sie Blickvorhang auf, um ein Bild zu erhaschen. Was sie sagte, hörte sie ebenso wenig wie das, was er sagte. Heiß war ihr, einheizte ihr der Hexenmeister die kleine Hölle, bis er endlich mit gestrecktem Arm auf die Liege klopfte. War das ausgemachte Zeichen, hatte sie aus dem Judosport her, den sie als Neunzehnjährige nach mehreren Überfällen (immer gerade so entkommen) für Monate betrieben hatte. Genug!, sagte ihr Herr Harald, traute offenbar Zeichen allein nicht. Ziege, bist du satt? - Ich bin satt, ich mag kein Blatt. - Und später sagst du: Ich hab gefressen kein Blättelein! Ich kenn dich, Ziege! - Nie werde ich das behaupten. Ich schwöre es. Das Märchen von der lügnerischen Ziege, um derentwillen ein Mann seine drei Söhne vertrieb, hatte das vom kleinen Häwelmann abgelöst. Sprach Harald von Hexen und Häwelmännern wie einer aus der Zunft der Grafiker, Maler oder Dichter, wo Fantasie Berufsvoraussetzung war. Hatte sie so ein Glück mit dem Mann. Wäre aber Harald ohne Fantasie eben nicht der gewesen, der er war. Harald servierte auf kleinem Tisch Eis mit Früchten und ein Mixgetränk, dessen Zusammensetzung er ihr wieder genau aufzählte, damit sie seine Kunst auch würdigte. Nur bei dir lebe ich, sagte sie. Am liebsten würde ich aufwachen, wenn du rufst, und sonst wie scheintot schlafen. Das andere ist so mühselig. - Du bist also nur auf dein Vergnügen aus, eine Genusswurzel!, sagte er, lachte. - Und du bist ein Genusswurzeler, antwortete sie in Erinnerung daran, dass er manchmal davon sprach, er wurzele sich ein. War allerdings eine sehr, sehr flüchtige Wurzel, die sie zu spüren bekam. Ich liebe ihn so sehr, dachte sie. Könntest du mich klein zaubern, mich in deine Jackentasche stecken und überallhin mitnehmen? - Von Emanzipation hast du noch nichts gehört? (Wofür Emanzipation doch alles gut war!) - Du warst so lange fort. Und hast nicht angerufen. - Ich rufe niemanden an. Am liebsten wäre ich den ganzen Sommer oben. In früheren Zeiten wäre ich ganz sicher Eremit geworden. Er liebt die Menschen nicht, dachte sie. Er verzaubert sie, aber er liebt sie nicht. Fragte: Ganz ohne Frauen? - Ja. Wie du weißt, bin ich lange ohne das ausgekommen. - Warum hast du dann geheiratet? Daraufhin erklärte ihr der Geliebte, er hätte schon gewusst, dass er sich keiner Frau zumuten könne, habe aber doch wie alle eine Familie gründen wollen. Ich war jung und dumm, sagte er. Trotzdem hatte ich ein Gespür und fand die richtige Frau für mich. Er soll nur alles sagen, dachte sie. Das ist besser. Sie ertrug, der medusenhäuptigen Wahrheit ins Gesicht zu schauen. Die Erstarrung danach eher mildtätige Zutat und nur vorübergehend. Erzählte der Geliebte weiter, seine Frau habe die ersten zehn Jahre sehr gelitten, sich manches anders vorgestellt, zum Beispiel habe er von Anfang an auf getrennten Betten bestanden. (Die Vorstellung gefiel ihr, der bloß Geliebten, außerordentlich.) Sie hat sich schließlich auf mich eingestellt, schloss er Ehebericht. Heute lebt jeder sein eigenes Leben. Ja, er hatte gut erzählt, und sie wollte ihm gern glauben, er sei eigentlich ein freier Mann. Du würdest mir die Hölle heiß machen, solltest du so mit mir leben!, setzte er nach. Antwortete sie kleinlaut: Ich wollte nur, dass du im Nebenzimmer wärst. Ich wäre ganz still. Du würdest mich gar nicht hören. - Durch jede Wand würde ich dich spüren und zu dir gelaufen kommen, ob du willst oder nicht, erwiderte er, gerührt von ihrer Demut. Sie konnte ihre Hände nicht bei sich lassen, war eben immer ein Begreifenwollen, aber mehr nicht, wenn er ruhig blieb. Doch war sie die lügnerische Ziege, so war er der Ziegenbock Nimmersatt. Schließlich räumte er aus einer Truhe Bettzeug für sich heraus. Sah sie - im Schein der Straßenbeleuchtung, das sie immer für Mondlicht nahm -, dass gleiches darin war, wie er herausnahm. Wie unterschieden die Eheleute, welches wem gehörte? Sie bekam eine Wolldecke über, lag innen an Regalwand, er außen. Hatte es als große Gunst zu nehmen, dass er bei ihr blieb, wenn er doch Ehebett immer gemieden hatte. Wollte ihm beweisen, dass sie die Gunst schätzte. War die Nacht wohl die Probe, ob er sie je wieder dabehalten würde, wollte die auf jeden Fall bestehen. So bewegte sie sich möglichst überhaupt nicht, wozu sie im Übrigen auch keinen Platz hatte. Wachte auf, wenn ihre Knochen zu sehr schmerzten. Träumte, sie läge gefesselt, manchmal zwischen Schienen auf einem Güterbahnhof, so dass Gefahr bestand, überrollt zu werden. Sagte er ihr beim ersten Aufwachen in Morgendämmerung zu ihrer großen Freude: Ich habe dich gar nicht gemerkt. Der schamlos Hübsche stieß sie an. War die gefährliche Zeit, in der jede Frau ihn überraschen und ihn sich zur Freude nehmen konnte, wie er manchmal schon mitgeteilt hatte. Sonst solle sie seiner sicher sein. Könnten die schönsten Frauen dahergelaufen kommen, hätte sie ja alle schon ausprobiert. Also fingen sie am Morgen damit an, womit sie in der Nacht aufgehört hatten. Schliefen beide wieder ein, sie hatte genug Platz. War die Nacht der Bewährung vorüber, und sie bekam ein überreichliches Frühstück vorgesetzt auf besonderem Geschirr, von Keramikerin eigens für die Familie gefertigt. Ei zu Ei!, sagte er über die Menge Rührei mit Schinken und Schnittlauch drin, war ein Spruch seiner Mutter, einer Proletarierfrau. Da er ein gutes Frühstück zu bereiten verstand, fragte sie ihn, wie er es sonst mit dem Essen hielt, und bekam zur Antwort, er versorge sich seit Jahren selbst, sei ein guter Koch, sein Sohn allerdings ein noch besserer, und am besten koche seine Frau. War also ein ganz von der Frau unabhängiger Mann, was ihr noch mehr Respekt einflößte, wenn ihr Respekt überhaupt noch zu steigern war.
Mit kurzem Gruß lief sie an Jo vorbei und einem so sehr schlechten Gewissen, als ob sie sich immer noch verantworten müsse. (Würde das nie aufhören!) Jos Blick glitt über sie hinweg wie über etwas sehr Nebensächliches. Die Verstimmung - nach dem Urlaub plötzlich über ihn gekommen - hielt an, so sehr sie sich in kleinen Gesten, höflichen Worten um ihn mühte. Die tierhafte Gleichmütigkeit in seinem Gesicht machte einer völligen Gleichgültigkeit Platz. Seine wie toten Augen, sein regloses Gesicht begegneten ihr überall in der Wohnung, brauchte er dazu gar nicht selbst anwesend zu sein. Immerhin ließ er zu, dass sie ihn weiter versorgte.
Offenbar hatte sie größte Schuld auf sich geladen mit letzter Nacht, denn bei gemeinsamem Mittagessen sah sie Fürchterliches in seinen sonst so unbetrübten Augen. Wenn Blicke töten könnten!, entfuhr es ihr. - Ja, wenn sie das könnten!, wiederholte er beifällig. Sein Gesicht wie in Drachenblut gebadet, und nirgendwo ein Lindenblatt hingefallen, dass sie seinen Panzer durchstoßen könnte. Er wusste, wie er sie leiden ließ, dass sie Unfrieden nicht länger als eine Stunde ertragen konnte. Und wie lange hatte sie nun schon Streit auszuhalten! Sie konnte eine schnelle, große Wut haben. Aber wenn sie vorüber war, blieb nichts davon zurück. Ein Blick zuckte, kaum gesehen, vom Himmel auf die Erde hernieder. Wenigstens blieb mal eine verkohlte Eiche oder ein brennendes Haus zurück, ansonsten hinterließ ihre Wut keine Spur. Hass kannte sie nicht. Sie hatte sich dafür verachtet, gemeint, das sei Schwäche, ein Mensch müsse lieben und hassen können!
Jo lehrte sie Hass. Denn er setzte fort, sie mit Schweigen zu strafen, mit toten Augen oder mordlüsternen Blicken. Blieb eine Wut in ihrer Seele Stunden um Stunden, verging nicht mehr wie sonst wegen zu großem Verständnis. War ganz entschieden zu viel Bestrafung. Sie schlief ein, wachte auf, dachte nicht mehr daran, aber wenn sie Jo ansah und er sie nicht, kam die Wut zurück. Und so hasste sie denn, wenn auch gerade vorläufig und auf Besserung ihrer nächsten Umgebung hoffend. Ein Bild verfolgte sie: das eines gespaltenen Jo-Schädels. Das blink-blanke, scharfe Beil war durch sein ewig gleich totes Gesicht gefahren, so dass es auseinandergefallen war. Sie lachte auf, sowie sie das Bild sah. Blut war keines geflossen, weil es ja bloß ein Holzkopf war. Blut hätte sie auch nicht sehen können oder etwa herausquellende Hirnwindungen oder so was.
Hatte sich mit Harald am Alex verabredet. Fand er gar keine Möglichkeit, sie in der Woche zu sehen, bestellte er sie zu irgendeinem Treffpunkt. Sie begleitete ihn zur Redaktion oder wo er sonst einen Termin ausgemacht hatte. Das waren dann ihre Spaziergänge und die einzige Gelegenheit, die eine oder andere Information unterzubringen, da er Telefonate in der Regel kurz hielt. Trafen sie sich in seiner Wohnung, gehörte ihr Zusammensein von erster Umarmung an der Liebe, und nur darüber sprachen sie miteinander. Andere Worte hatten da nichts zu suchen. Jetzt nicht, es ist so schön!, hatte er sie unterbrochen, als sie anfangs die Pausen, in denen sie ruhig nebeneinanderlagen, für kleine Mitteilungen nutzen wollte. Ja, sollte die Liebe allen Raum haben, war ja das Besondere an ihm, dass er sich völlig dieser Situation hingab. Sie suchte mit den Augen die S-Bahn-Züge ab, bis sie ihn in einem Waggon entdeckte. Konnte sie Harald mal zwischen vielen Menschen sehen, wie er sich da machte. (Immer gut, erschrak regelmäßig bei seinem Anblick.) Rannte ihm entgegen und beinahe Leute um. (Wie alt war sie eigentlich?) Durfte sich in seinen Arm hängen und ihm jetzt sagen, was sie noch auf dem Herzen hatte, die meisten Mitteilungen hatten sich von selbst erledigt. Manchmal hasse ich Jo, sagte sie. Ich kriege ganz schlimme Vorstellungen. Ich wollte, Jo wäre tot. Harald nahm den Satz, als sei es ganz natürlich, einem Menschen den Tod zu wünschen. Für alles hatte er Verständnis, war ein so wunderbarer Mann und Mensch. In einzigem Punkt würde vielleicht mal gegenseitige Toleranz geprüft: Er sprach von Zone und ließ gar nichts Gutes an Deutschdemokratischer, während sie den Glauben hatte, dass Vernunft im Lande obsiegen würde über alle Ideologie, sah Anzeichen dafür und wollte auch nicht, dass man die Fortschritte alle außer Acht ließ und war ja auch das Land, in dem sie aufgewachsen war und lebte.
Nächtens lagen sie ein wenig erschöpft nebeneinander, als er in ein Erzählen hineingeriet von Kindheit und Jugend und ganz erster Liebe. Sein Erzählen von der Sorte, dass Bilder entstanden vor ihren Augen. Beschrieb, was die jungen Helferinnen in Lagern der Jungen Pioniere angestellt hatten, ihn zu bekommen. So wunderschöne Mädchen dabei, aber er hielt es als Lagerleiter und somit vorgesetzte Persönlichkeit für seine Pflicht, ihnen zu widerstehen. Sie folgerte aus seiner Stellung, dass er eventuell in seiner Jugend doch einmal der Sache des Sozialismus ergeben gewesen war. Er berichtete von Frauen, von beiderseits beabsichtigten kaum befriedigenden Taten, wie er sich ja schon früher als eher untüchtig dargestellt hatte, malte einen Sprung aus dem Fenster aus, vor allzu wissbegieriger, heißer Dame, die Tür verschlossen hatte. Sie konnte sich also auserwählt fühlen vor sicher viel schöneren Frauen. Waren nun beide am Ende ihrer Wünsche angekommen nach mehr oder weniger langen Irrwegen, lag eine solche Zufriedenheit über seinem Erzählen wie ihrem Zuhören. So bereitwillig gab er von sich her, dass sie nun alles von ihm wissen wollte möglichst vom ersten Tage seines Daseins an. Kann ich Fotos von ganz früher sehen?, fragte sie. Durch vieles Erinnern in Vergangenheit befangen, bekam er wohl selbst Lust, so dass er den hölzernen Rollladen herunterließ, um Licht einschalten zu können. Brachte dann einen Karton an und noch einen und noch einen. Ihn auf Klassenfotos herauszuerkennen, erwartete er schon ihrer angeblichen übersinnlichen Fähigkeiten wegen. Als sie ihn als Siebzehn-, Achtzehnjährigen sah, erschrak sie. Hätte sich als unerfahrenes Mädchen so rettungs- und aussichtslos verliebt, dass sie darüber vielleicht zugrunde gegangen wäre. Weiter kramten sie in abfotografiertem Leben. Da plötzlich auf einem großformatigen Foto seine Frau neben ihm. Die Gesichter ganz nah. Das Foto im Winter aufgenommen bei kalter Sonne vor kahlem Feld. Beide trugen Lammfellmäntel, lächelten dasselbe Lächeln, sahen aus wie Geschwister. Die Haare der Frau sehr kurz, schwarz, dichte Augenbrauen, die Augen stark geschminkt. Sie sieht gut aus und ist gar nicht viel älter, sagte das, als beträfe die Frau sie nicht. Und war so getroffen. Nur dass sie den Schmerz in erster Sekunde nicht spürte. Vielleicht wie beim Todesschuss, bei dem man sich auch erst nur wunderte. (Hatte viele solche Filme gesehen.) Fünf Jahre!, sagte Harald über den Altersunterschied. Ja, Angst hatte sie gehabt vor der Frau und nie vergessen, dass er sie ihretwegen jederzeit verlassen würde. War dennoch ein Phantom geblieben. Jetzt bekam die Frau Gesicht, Gestalt. Schien so überlegen neben ihm, für immer an seine Seite gebannt, dass keine andere Platz hatte. Das ist sie also, sagte sie ganz tapfer weiteren Satz. Sollte er nicht bereuen, dass er ihr Fotos gezeigt und sie hatte teilnehmen lassen an seinem früheren Leben, war ja längst nicht immer so freigiebig mit sich. Ja, das ist sie. Er nahm ihr das Foto aus der Hand. War sie nun nicht grad erschossen worden, hatte sie nur sehr unerwünschter Eifersuchtspfeil tief getroffen, und war der Pfeil ganz sicher mit Gift versehen, so dass die Wunde nie heilen würde. Waren alle früheren Geschosse dagegen harmlos. Hatte wohl schon stechenden Schmerz gespürt, wenn andere bevorzugt wurden, aber - im Verzicht schon früh geübt - sich Techniken ausgedacht, um damit fertig zu werden: Wer mich nicht beachtet, den beachtete ich auch nicht. Wer mich nicht liebt, den liebe ich auch nicht. Wer statt ihrer geliebt wurde, den schmückte sie aus mit so überragenden Eigenschaften, dass auch sie denjenigen/diejenige lieben konnte. Doch bei Haralds Frau versagte die Fähigkeit. Die konnte sie nicht lieben. Höchstens aus der Nähe, dass sie entdecken konnte, was ihr die Frau angenehm machte. Die Frau jedoch außer Reichweite. Aber nun mit einem Gesicht, das sie furchtbar ängstigte. War die Frau namens Thea so übermächtig, konnte jederzeit Harald von ihr wegrufen. Sie sieht gut aus, wiederholte sie. Sie betrifft dich nicht, sagte er. Wir sind gute Freunde. Sie hat begriffen, ich brauche meine Freiheit, wiederholte er von einem anderen Mal. - Liebst du sie? - Wir achten uns. Unser Verhältnis beruht auf Achtung, auf gegenseitigem Respekt. Ja, das hörte sich vernünftig an.
Nach einer Verbandsversammlung fanden sich zu ihr und Freundin Irene weitere Kollegen zum Kneipengang. Beim Bier wurden sie nach Besprechen der Weltlage und allgemein als trist-grau beschriebenem Zustand Deutschdemokratischer (keine große Helligkeit, keine ganz bedrohliche Finsternis drin, obwohl Vasall vom »Reich des Bösen«, wie räterepublikanisches Großbruderland ganz westwärts definiert wurde) fröhlicher und noch fröhlicher. Trotz alledem oder grade deswegen, weil: Lebten sie alle ja nur dieses eine Leben. Vertrauerte nur der, dessen Gemütslage partout dazu neigte. Sie ein Frohmensch doch. Und letztendlich, sollte es nach Voraussagen eines Verfinsterten doch zu Schlimmstem kommen, was sie nicht glauben wollte, aber konnte dennoch sein: Man hatte auf der Titanic auch gefeiert. Wären Gebete wohl besser gewesen? Einer unter ihnen allen gab zu fortgeschrittener Zeit an, Lebenslinien deuten zu können. Neugierige und sowieso abergläubische Maler- und Grafikergesellen wie -gesellinnen reichten ihm die Hände. Wollte der große Handerforscher von ihr die Rechte haben, in der sich das Leben eingegraben hätte. (Die linke nur tauglich, um nach kreativen Anlagen, Lebenslänge, Kindern zu sehen.) Kriegte sie nun was zu hören, woran sie festhalten wollte in allergrößter Bedrängnis, Zukunfts-Mutlosigkeit. In der Mitte des Lebens triffst du auf die große Liebe. Ihr werdet lange nebeneinander leben. Aber dann kommt ihr doch zusammen. So kündete der Weise und zeigte auf nebeneinander laufende Linien, die an Handwurzel zusammenwuchsen. Sie nickte viele Male freudeglänzenden Auges, denn fast halb so alt wie siebzig war sie, und hatte die große Liebe gefunden. Stimmte nachweisbar der erste Teil der Aussage, würde der andere sich auch noch bewahrheiten.
Wohnten jetzt tag- oder nachtweise zu dritt in Jos Wohnung, so dass sie sich vor Betreten ein bestimmtes Klingelzeichen angewöhnte. Klopfte zudem vor Eintritt in großes Durchgangszimmer an jeweilige Türen, ließ Zeit für eventuelle ordnende Handgriffe. War Jos Freundin in der Wohnung, hörte sie auf Bewegungen im Gang, versuchte, Begegnungen in beiderseitigem Interesse zu begrenzen. Ging aus ihren beiden Kammern mit Lächeln gewappnet für die andere Frau. Gewöhnte sich daran, dass Jo sie überwiegend wie lästiges Ungeziefer behandelte: Konnte man es schon nicht abschaffen, übersah man es. Eines Tages jedoch hatte Jo die Eingebung, sie bemerken zu wollen. Vielleicht hatte er ihre Demutshaltung satt oder was sonst? Er richtete das Wort an sie. Übrigens wäre es ganz schön, wenn du dich mit deinem Auszug etwas beeilen würdest, sagte er in höflichem Ton. - Das hängt nicht von mir ab, erwiderte sie ebenso höflich und lief an ihm vorbei, um weitere Ansprache zu vermeiden. Doch Jo redete in ihren Rücken hinein, nun keinen höflichen Satz. Kriech bei deinem Liebhaber unter!, sagte er. Sie wandte sich um. Jo hatte nicht nötig, etwas in seinem Gesicht auszudrücken. Seine Worte trafen auch so. Wünschte sich sofortigen Blitz oder blink-blankes Beil herbei, um Jos Schädel mittendurch zu spalten. Und er - sie wusste es - hatte Vergnügen an wütender Frau. Du weißt genau, dass das nicht geht!, sagte sie noch den einen Satz, rannte aus der Wohnung. Die Beine liefen irgendwohin, ach, einfach nur laufen! Fand sich dann auf einer Bank des nahen Friedhofs wieder. Saß da und sah auf deutsche Gräberlandschaft und nicht ganz kahle Bäume, denn Tropfen hingen an den Zweigen. Nässe durchfeuchtete langsam lange Haare, Kleidung. Spürte aber gar nichts. Nahm an, sie könne von nun an auf der Bank sitzen bleiben, langsam zur Bankheiligen erstarren. War aber denn doch ein Irrtum. Was an Frieren über Stunden ausgeblieben war, holte sie jetzt durch ein ganz auswegloses Gefühl von Kälte ein, dass sie sich um ihre Unterbringung für die Nacht Gedanken machte. Alsbald fiel ihr Irene ein, wenn die bloß da wäre. Mit schweren Beinen machte sie sich auf, das zu erkunden. Bekam nach fünf langen Treppen ein erfreulich erschrockenes Gesicht zu sehen. Aber klar doch, sagte Freundin, nahm sie auf für die Nacht und welche sie noch wollte. Stand ja unten am Briefkasten noch ein Name, nämlich ihrer, und im Hausbuch und im Personalausweis diese Adresse. Beschloss Irene, dass zunächst dem Dauerfrieren Einhalt geboten werden müsse, gab ihr Grog zu trinken und stieg die fünf Treppen und noch eine zum Keller hinunter wegen Kohlen für den Badeofen und wieder hinauf. Aber selbst im heißen Wasser wollte das Frieren nicht aufhören, so dass sie weiteren Grog in sich hineinschüttete, wurde eine reichliche Dosierung. Daraufhin geriet sie in freundliche Beschwipstheit und mit ihr Irene, denn die Höflichkeit verlangte, dass die der Freundin im Trinken beistand. Gemeinsam wunderten sie sich über die Welt, was ihnen alles an der Wiege nicht gesungen worden war und tappten ja immer weiter im Nebel, kaum, dass man die Hand vor Augen sah. Die Zukunft am Abend so viel ungewisser, als es tagsüber den Anschein hatte. Wurde sie im Hofzimmer gebettet wie ein Kind und verbrachte so die erste Nacht in der Wohnung, die mal ihre werden sollte. Am Morgen gab ihr Irene die Schlüssel. Für den Fall, dass ich nicht da bin, sagte sie. Offiziell wohnst du sowieso hier. Sie nahm sich vor, das Angebot so selten wie möglich zu nutzen.
Übliches Klingelzeichen an Jos Wohnungstür, so dass im Falle der Anwesenheit Hausherr mitkriegte, da kam Lena. Der Hausherr konnte sich vorbereiten. Angewidert fand sie ihn stierend in seinem Lehnsessel, saurer Geruch im Raum. Dann sagte sie sich, ihm sei vielleicht eingekommen, dass er die Gefährtin mancher Jahre durch zwei unnötige Sätze aus der Wohnung vertrieben hatte und es sei ihm dann vielleicht doch nicht so recht gewesen. Hatte ihn mit ihrem Wegbleiben ja auch bestrafen wollen. Wo warst du denn? Mühsam reihte sich Wort zum nächsten. Auf ihre Antwort hin nickte der Betrunkene schwer. Fanden sich noch weitere Worte für sie, musste sich nur ein bisschen Zeit fürs Zuhören nehmen. Du sollst hier nicht ausziehen. Dann bin ich ganz allein. - Aber du hast doch eine Freundin!, redete sie dagegen, dreimal so schnell wie er. Keineswegs erleichterte sie sein Geständnis, überraschte sie aber auch nicht. Hätte er die richtige Frau gefunden, brauchte er nicht mehr gegen eine andere zu wüten. Ach die! Jo schleuderte die beiden Worte wie große Beschimpfungen heraus. Da geh ich mal auf Abstand. War also Zeit des boshaften Schweigens vorüber. Hatte es eine Auseinandersetzung zwischen ihnen gegeben und die auch was gebracht.
Festspiele die Begegnungen mit dem Geliebten. Kniend sah sie auf ihn herab, auf seinen ganzen Leib. So was Schönes ist mir in meinem ganzen Leben nicht begegnet! Sieh nur, schau hin! Der Geliebte gehorchte ihren Worten, sah, wie der Allerherrlichste sich erhoben hatte zu ganzer Pracht. Aber sie ist auch schön!, sagte er, wollte Lob nicht auf sich sitzen lassen und hatte sowieso immer Worte parat: Von außen klein zart, ganz unschuldig. Man ahnt nicht, wie wild sie ist. Ein Vulkan. - Ein Männerherz fiel ihr ein, wie sie das Sanfte, Schmiegsame in der Mitte seines Körpers liegen sah, aus dem der Herrliche kam. Wetteiferte sie mit ihm, Worte für ihre große Freude zu finden. Wirklich war die Form einem Herzen sehr verwandt, eng und fest, eine kleinere, eine größere Hälfte, lag an seinem Leib, gefältelt, wohlgeformt. Euer Empfindlichstes liegt so ganz bloß, so ganz ungeschützt, sagte sie, mit einem Mal erfüllt von Mitleid und Angst um den Mann. (Wie Fußballer bei Elfmeterschießen die Hände an auffälliger Stelle übereinanderlegten zum Schutz wie zum Gebet, fiel ihr ein.) Vielleicht seid ihr deshalb so darauf aus, euch gegen uns Frauen abzugrenzen, weil ihr wisst, wie verletzbar und bloß ihr in Wirklichkeit seid. Vielleicht bleibt ihr deshalb wie Kinder, habt immer Angst, philosophierte sie, ohne Widerspruch zu erhalten, obwohl er der Nachdenker von ihnen beiden war. Andächtig und voller Rührung umschloss sie das von ihr als Männerherz Benannte mit ihren Händen, damit es wenigstens für Augenblicke eine Bedeckung hätte. Du bringst mir Augenlust bei, sagte er. - Ja, das will ich!, antwortete sie. Du kannst sehen genau wie ich. Wir sind in allem gleich. Wir haben die gleiche Lust auf alles. - Dass wir uns getroffen haben, sagte er. Dass ein Mann wie ich auf eine Frau wie du trifft. Das kann kein Zufall sein. Er da oben wollte es. Von Gott sprach er. Verwunderte sie bei einem gebürtigen Atheisten nur einen Augenblick. Gott für ihn Poesie. - Er wollte es!, sagte sie, ging erfreut auf die Idee vom Schöpfer aller lebenden wie toten Materie ein. Er hat dich warten lassen, bis ich erwachsen war. Und er hat uns beide warten lassen, damit ich begreife, es ist nicht selbstverständlich, dass ich einen Mann wie dich bekomme. - Ich reagiere nur auf dich, sagte er. Du bist es. - Du bist es genauso. Wir sind es beide. Nahe, ganz bei ihr war er in den Stunden der Liebe, ob sie redeten oder schwiegen. Ihre Seelen redeten immer, zwitscherten wie Vöglein gerade in Zeiten der Ruhe, der Stille. Mal würde er schon sagen, sie könne über Nacht bleiben. Fragte nicht danach, warum heute nicht. (Die Frau wurde nicht erwartet.) Er sollte keine Ausreden gebrauchen oder noch schlimmer: die Wahrheit sagen. Sie fragte nicht einmal sich selbst. Er war ein freier Mann, ein freiheitsliebender. Ruf an!, sagte er beim Abschied. Ich warte, bis du angerufen hast! Dieses eine Mal wurde sie geradezu aufgefordert, ihn anzurufen. Lag so eine Fürsorge in seiner Aufforderung, als ob sie nicht immer heil nach Hause käme. Er verbot sich auch zu schlafen, ehe nicht sie zum Schlafen kam. Hatte so eine zarte Seele. Nur wie sie später in seine Wohnung hinein schellte, hatte er schon wieder ordentlich Gestrüpp drumgelegt. Jaja, gut!, knurrte er. (Erstaunlich seine Stimme, reichte von knarrendem Bass bis aufjauchzendem Tenor.) Da musste man erst mal mit fertig werden, dass man ganz anderen Mann verlassen hatte, als man jetzt antraf! Letzteren hätte sie glatt wegschmeißen können.
Hatte immer Jos Eifersucht als was Dummes, Lächerliches abgetan. Jetzt war sie selbst übel geplagt. Dachte sie an Harald, tauchte plötzlich das Foto mit dieser dunkeläugigen, kurzhaarigen Frau auf, an der Seite des Mannes im Bewusstsein lächelnd, keine andere könne ihr ihn streitig machen. Heiß vor Schrecken wurde ihr. Nützte wenig, dass sie sagte, sie sei jünger, nur mit ihr hätte Harald das herrliche Herein- Heraus-Spiel, bei dem man alle anderen Spiele und überhaupt alles sonst auf der Welt vergaß. Bedeutete ihm das wirklich so viel, wenn er doch der Frau wegen die Geliebte jederzeit aufgeben würde! Wog das, was ihn mit seiner Frau verband, also viel mehr. Die plötzliche Hitze beim Gedanken an die Frau lange nicht gehabt. Kindheitserinnerung schoss in ihr auf. Das Heißwerden von da bekannt noch und noch. Das Heißwerden immer mit Bloßstellung verbunden. Sie vor Scham erglühend, blutrot im Gesicht. Sich zu schämen, war damals geradezu ihre Haupteigenschaft gewesen. War Eifersucht vielleicht Angst, bloßgestellt zu werden. Fühlte sie sich in ihrer Selbstachtung bedroht? Ein Mann verließ sie schwuppdiwupp und lachte sich krank über armes, dummes Herz, das sich nach ihm verzehrte. Ja doch, immer lächerlich die Gehörnten, die Verlassenen. Das Mitleid Teil der Lächerlichkeit.
Während liebender Vater und sorgender Gatte in kleiner Familie auf dem Lande die Festtage beging, wollte sie nicht sitzen und - Idyll sich in Farben ausmalend - darauf warten, dass man sie eventuell mit einem Gruß von draußen bedachte. Begab sich lieber ganz aus Eventualität ins Thüringische und wies Jo den schwereren Teil zu. Musste der eben einmal seine Mutter erdulden. Wenigstens hatte er für weitere Verabredungen sein Gott sei Dank doch fortdauerndes Verhältnis. (Aus Rücksicht auf seine Mitbewohnerin ging er inzwischen immer zur Frau.) Jos Klagen gewaltig. Wie er allein die Mutter ertragen solle. Und sie seien die Feiertage doch immer zusammen gewesen. Alles ändert sich, hatte sie gar nicht fröhlich geantwortet und sich aus der Stadt gemacht. Das Fest auf thüringischem Dorf fand in Gängen und Abteilungen statt - Mitternachtsmesse, Bescherung, Mahlzeiten wichtige Bestandteile - inmitten von Leuten: Geschwisterfamilie, Eltern, Schwiegereltern, verschwägerten Familien. Den Nichtlein, den besonderen Festtagslichtlein, machte sie sich durch Scherze und Spielen beliebt. Zeichnete mit kleiner Mara, las vor, auch aus von ihr selbst illustrierten Büchern. (Standen alle aufgereiht in Glasvitrine der Eltern.) Bekam im Postamt einmal Jo an den Apparat, der zwischen den Feiertagen wieder in der Stadt war. Wie soll's mir schon gehen, sagte er. Aber mach dir keine Sorgen. Lief die Kindheitswege ab, die Wiesen vom Nieselregen vollgesogen, in den Wäldern tropfte es von den Zweigen. Hatte ein Andenken an ihren Geliebten auf ihrer Haut: ein besonderes Parfüm, zum Fest geschenkt. (Für dich und für mich!, hatte er gesagt.) War drin wie in Duftkleid eingehüllt.
Die Ankunft in der Stadt von mächtigem Ärger über Jo begleitet. Konnte der denn nie was wegräumen oder mal eine Tasse unters Wasser halten. In der Wohnung fuhrwerkend, machte sie lauthals ihrem Unmut Luft, stellte Überlegungen an, wie denn das zusammenginge, Filme, in denen Ästhetik eine Rolle spiele, und im Leben ... Ein Mann muss nicht so sein! - Ich bin ein Schwein!, gab Jo unumwunden zu. Das wollte sie nun auch nicht hören. Sie wäre doch in jungen Jahren nicht zu so nachlässigem Mann gezogen! Die Nachlässigkeit hatte sich wohl erst herausgebildet. Mit den Jahren war er so allgemein träge geworden. Keiner verlangte ihm etwas ab und sie eben auch nicht. Das Gesetz der Trägheit, ging ihr das Wort aus der Physik durch den Kopf. Eine Trägheit zog die andere wie magnetisch an.