Kitabı oku: «Wo der Hund begraben liegt», sayfa 2
Melanie war Verwaltungsangestellte bei der Berliner Polizei, und ihre Frage war durchaus berechtigt. Glander stellte fest, wie wichtig es ihm war, dass Melanie keinen falschen Eindruck von Lea Storm bekam.
»Ach, ich weiß nicht, vermutlich nimmt sie irgendwas. Ihr Mann ist vor einem Jahr gestorben, und es war offensichtlich, dass sie nicht drüber hinweg ist. Obwohl Valium nicht zu ihr passt.« Nachdenklich häufte er sich den dritten Löffel Zucker in seinen Espresso.
Seine Schwester sah ihn überrascht an. »Sie gefällt dir, Martin, ich glaub es ja nicht! Die gefällt dir wie keine mehr seit Jessica. Und – was wirst du tun?«
Glander rührte missmutig in seiner Tasse herum.
»Nichts werde ich tun. So ein Quatsch, von wegen gefallen! Die Frau hat ’ne Menge Probleme, außerdem ist sie Zeugin in einem Mordfall, ist ja nicht so, als hätte ich sie in einer Kneipe kennengelernt.«
»Sicher nicht. Wann warst du das letzte Mal in einer Kneipe?«
»Sei doch froh, dass dein Bruder einer der wenigen Kripobeamten ohne ein Alkoholproblem ist. Sag mal, hast du noch den Whisky, den du mal für mich besorgt hast? Ich hab grad richtig Lust auf einen kleinen Schluck davon.«
Melanie holte die Flasche aus dem Wohnzimmerschrank, murmelte etwas von »So geht es los …« und stellte den Whisky vor ihrem Bruder auf den Tisch.
Glander hob ihn hoch und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Sie hat diesen Monsterhund, Schottischer Rindhund oder so was. Und den hat sie nach diesem Whisky benannt, glaubt man das?« Kopfschüttelnd schenkte er sich zwei Zentimeter von dem zehn Jahre alten Talisker ein und dachte an Lea Storms kastanienbraunes Haar, das ihr sicherlich über die Schultern fiel, wenn sie den Zopf öffnete.
Melanie feixte den ganzen Weg nach oben in ihr Schlafzimmer, wo sie sich an ihren schnarchenden Mann kuschelte und sofort einschlief.
In einem Reihenmittelhaus im Dürener Weg, nicht weit von Lea, blickte ein Mann sehr zufrieden auf eine Namensliste und strich den Namen Hantschke aus. Zwei weitere Namen waren bereits durchgestrichen. Es gab noch viel zu tun, aber er hatte Zeit, und gut Ding brauchte nun einmal Weile. Der Mann schob das Papier in seine Schreibtischschublade, nahm einen Schluck Tee und schaute sich den dritten Teil von Berlin – Tag und Nacht vom Vorabend im Internet an.
3
Glander hatte richtig vermutet: Das LKA 1 übernahm den Mordfall Hantschke, und der Streifenwagen, der Lea am folgenden Tag um elf Uhr abholte, brachte sie in die Keithstraße. Sie fand Prinz genauso unangenehm wie bei ihrem kurzen Treffen in der vorangegangenen Nacht, aber überraschenderweise hatte er gar kein großes Interesse an ihrer Aussage und ließ diese von einem Kollegen mit niedrigerem Dienstrang protokollieren. Der Beamte nahm ihr auch Fingerabdrücke ab. Reine Routine. Auf dem Heimweg bat Lea den Fahrer, sie am Thuner Platz abzusetzen, von dort würde sie laufen oder den Bus nehmen. Nachdem sie ausgestiegen war, überquerte sie die kopfsteingepflasterte Straße und ging auf den gegenüberliegenden Parkfriedhof.
Marks Vater, ein britischer Soldat mit einem schweren Alkoholproblem, ließ ihn und die Mutter sitzen, als Mark zehn war. Der Vater kehrte nach England zurück und meldete sich nie wieder. Marks Mutter kam nicht darüber hinweg, und nach ihrem dritten Suizidversuch übertrug das Amt die Vormundschaft für den Sohn der Großmutter. Bei ihr lebte er, wenn er nicht im Internat auf Schwanenwerder war. Der vierte Versuch seiner Mutter, ihrem Leben ein Ende zu setzen, glückte, als Mark sechzehn war. Trotz dieses belastenden familiären Hintergrunds war Mark ein sehr guter Schüler. Nach dem Tod seiner Mutter stürzte er sich in seine Ausbildung, legte ein glattes Einser-Abi hin und zog sein direkt anschließendes Architekturstudium ebenso konsequent durch. Er machte den besten Abschluss seines Jahrgangs und bewarb sich im Büro des britischen Architekten Richard Rogers um einen Job. Als einer der jüngsten Mitarbeiter war er knapp ein Jahr später an den Bauvorhaben am Potsdamer Platz beteiligt.
Marks Großmutter Elisabeth war eine resolute und pragmatische Frau, die die ersten Zeichen ihrer beginnenden Krebserkrankung sofort richtig einschätzte. So überschrieb sie Mark das Haus und richtete ihm sämtliche Vollmachten ein. Sie sprach ausführlich mit ihm über ihre Wünsche und versicherte ihm, dass er sich keine Sorgen um sie zu machen brauchte. Elisabeth war über siebzig, hatte ein erfülltes Leben geführt, von dem sie nur die wenigsten Dinge bereute, und sah dem Tod gelassen entgegen. Als es ihr langsam schlechterging, kündigte Mark seinen Job entgegen allen Warnungen seiner Kollegen und Freunde und pflegte Elisabeth. Zunächst alleine, später mit der Unterstützung zweier Pflegerinnen. Er hielt Elisabeths Hand, als sie starb.
Nach ihrer Beerdigung buchte er einen Flug nach Glasgow, packte seinen Trekkingrucksack und begann eine lange Wanderung durch das Schottische Hochland. Lea begegnete ihm bei Duncansby Heads, vor den Stacks, der spektakulären Felsformation im Norden des Landes. Bereits ein Jahr nach ihrem ersten Treffen kam ihr Sohn Duncan in Berlin zur Welt. In den folgenden Jahren bauten sie das Haus aus, in dem Elisabeth bis zu ihrem Tod gelebt hatte, gestalteten den großen Anbau und legten den Garten ganz neu an.
Mark hatte seinen Tod genauso ordentlich geregelt wie seine Großmutter den ihren. Und Lea hatte ihm versprechen müssen, nicht öfter als einmal im Monat auf den Friedhof zu gehen. Sie sollte nach vorne blicken und ihr Leben neu gestalten. Bislang war ihr das noch nicht gut gelungen.
Mark wurde verbrannt und seine Asche in einem Urnengrab auf dem nächstgelegenen Friedhof beigesetzt. Heute tauschte Lea die Lavendelpflanze in dem Topf vor seinem Grabstein aus und steckte die alte in eine kleine Plastiktüte, die sie aus ihrer Vintage Schultertasche zog. Sie setzte die alten Lavendelpflanzen alle zwei Monate in eine Ecke ihres Gartens, diese würde die siebente sein. Bis jetzt war keine eingegangen, auch die nicht, die sie im Winter in den gefrorenen Boden gepflanzt und mit warmem Wasser gegossen hatte.
Nachdem Lea die alte Pflanze eingepackt hatte, zog sie einen silbernen Flachmann aus ihrer Tasche und hob ihn wie zum Toast in die Höhe. »Rum Cask, unser ewiger Favorit. Ich denke, die Flasche schaffe ich heute. Die zu Hause, du Schaf, nicht den Winzling in meiner Hand! Den mache ich hier alle. Es ist genauso mies wie im letzten Monat, nur kann ich inzwischen so gar nicht mehr schlafen. Letzte Nacht habe ich Hantschke gefunden, tot, auf dem Mauerweg. Mit ’ner toten prossie an seiner Seite. Nee, glaubste nicht, is klar. Die Polizei hat meine Nikes mitgenommen, so ein Scheiß! Hoffentlich laufe ich mir in dem Ersatzpaar keine Blase. Slainte, my heart!” Sie nahm einen zweiten Schluck und fluchte dem unglaublichen Abgang nach. »Holy pirate rum influence!«
Sie hatten beide so gelacht, als sie diese Beschreibung des Whiskybouquets auf einer Website entdeckt hatten. Mark hatte da gerade seine erste Chemo hinter sich gehabt, keine Haare mehr und sich grauenvoll gefühlt. Sie hatten beide im Bett gelegen, es war ein Sonntagmorgen gewesen, Lea hatte den Laptop auf ihren Knien gehabt und ihm die Neuigkeiten auf der Balvenie Website vorgelesen. Durch Zufall war sie danach auf die amerikanische Seite gestoßen. Sie hatte die Flasche geholt und ihn daran riechen lassen, danach hatten beide einen Schluck davon getrunken. Es war der letzte Whisky gewesen, den Mark hatte schmecken können.
Lea steckte den leeren Flachmann zurück in ihre Tasche, als sie Frau Wieland auf sich zukommen sah. Frau Wieland ging seit vierzig Jahren zweimal in der Woche zum Grab ihrer Tochter, die kurz nach ihrem vierten Geburtstag an einer Hirnhautentzündung gestorben war. Tragisch, dachte Lea, und dann im direkten Nachgang: Ja, super, schau dich mal selbst an!
Frau Wieland war noch sehr gut zu Fuß, fiel Lea auf. Sie musste doch schon an die siebzig sein. Sah man ihr jedenfalls nicht an. Die alte Dame stand vor ihr und schaute auf Marks schlicht gehaltene Grabstelle. Die Fläche von einem Quadratmeter war mit dem hellen Sandstein gepflastert, der auch vor ihrem Haus lag. Darauf stand der steinerne Topf, der die Lavendelpflanzen hielt. Der Grabstein war ein kleiner graublauer Findling, der erste, den sie beide vom Mauerweg für ihren Garten mitgenommen hatten. In den Stein war gemeißelt: Mark Storm. 1964 – 2011. Na mo chrìdhe daonnan. Gälisch für »Immer in meinem Herzen«.
»Lavendel. Wunderschön, Frau Storm! Es ist heute ein Jahr her, oder irre ich mich?«
»Nein, Frau Wieland, Sie irren sich nicht. Es ist genau ein Jahr.«
»Ihnen geht es nicht gut, nicht wahr?«
»Nein, gar nicht gut. Ich kann nicht schlafen.«
»So ging es mir auch am Anfang. Es wird besser, meine Liebe, es wird besser. Kommen Sie, lassen Sie uns was essen gehen, heute sollten Sie nicht alleine sein!«
Lea wollte zunächst ablehnen, aber sie war tatsächlich hungrig, und Frau Wieland war ihr sympathisch, auch wenn sie sie nicht so oft traf. Vielleicht mochte sie die alte Dame genau deswegen.
»Gleich um die Ecke ist ein thailändisches Restaurant, das ist neu und richtig gut. Mögen Sie die thailändische Küche, Frau Wieland?«
»Ich habe keine Ahnung, mal sehen. Sie können mir sicher etwas empfehlen.«
Das neueröffnete Restaurant war überraschend gut besucht für einen Donnerstagnachmittag. Aber es hatte sich wohl schnell herumgesprochen, dass das Essen im »Thai by Thai« exzellent war. Sie nahmen einen Tisch im hinteren Bereich des Restaurants, Frau Wieland bestellte sich einen halben Liter Weißen Burgunder, Lea ein Mineralwasser.
»Was mögen Sie denn, Frau Wieland? Huhn, Rind, Schwein oder Ente? Oder sind Sie Vegetarierin?«
Frau Wieland lächelte. »Ach, Ente klingt interessant. Hab ich lange nicht gegessen.«
»Wie scharf darf es denn sein? Es gibt mild, scharf und höllisch.«
»Scharf, aber so, dass ich die Ente noch schmecke, bitte.«
Lea bestellte Frühlingsrollen für sie beide, Ped Pat Kimao – Ente in Austernsauce – für Frau Wieland, das sie für sie ein wenig milder zubereiten ließ, und Chu Chee Pha – kross gebratene Dorade in rotem cremigem Curry mit Chili und Thai-Basilikum – für sich selbst.
»Haben Sie noch die schönen Disteln vor Ihrem Haus, Frau Storm?«
»Sagen sie doch bitte Lea, Frau Wieland. Die Disteln blühen ganz phantastisch dieses Jahr, die lieben es direkt an der Hauswand. Kommen Sie doch einfach mal vorbei! Wenn Sie mögen, gebe ich Ihnen meine Telefonnummer, dann können Sie vorher kurz anrufen, damit ich auch zu Hause bin.«
»Das ist eine nette Einladung, die nehme ich gerne an. Stellen Sie sich vor, der Kretin vor mir hat letzte Woche seinen Hund schon wieder in mein Beet gelassen. Glaubt man das?«
»Sie wohnen doch hinter dem Hantschke.«
»Ja, blau wie nichts war der am frühen Nachmittag, hing halb über dem Gartenzaun, und als ich ihn bat, seinen Hund und dessen Hinterlassenschaft aus meinem Beet zu entfernen, schimpfte er los, dass er sowieso bald viel Geld haben und dann ›diesen Slum‹ verlassen würde, und danach brüllte er noch lauter unflätiges Zeug. Unmöglich, der Mann! Ich bin erst einmal wieder ins Haus gegangen und hab den Dreck später in seinen Garten geschippt. Hoffentlich ist er reingetreten!«
Frau Wieland kicherte und schenkte sich Wein nach. Als sie Leas ernstes Gesicht sah, fragte sie: »Was ist denn los? Sie sind ja richtig blass geworden, Kindchen.«
»Frau Wieland, der Hantschke ist tot. Ich hab ihn gestern Nacht auf dem Mauerweg gefunden.«
Jetzt wurde Frau Wieland ein wenig blass. »O Gott, das ist ja schrecklich, Lea! Einen Toten zu finden. Er starb an einem Herzinfarkt, nehme ich an?«
»Nein, er wurde ermordet.«
»Ermordet? Der Hantschke? Wie grauenvoll!« Frau Wieland schüttelte den Kopf und leerte ihr Weinglas.
»Letzte Nacht, sagen Sie? Ich könnte schwören, dass er gestern Abend noch Besuch hatte, da war noch spät Licht bei ihm, und ich hab Schatten hinter den Gardinen gesehen.« Frau Wieland beugte sich zu Lea vor und senkte ihre Stimme. »Ich glaube, der hatte ’ne Frau da.«
»Vermutlich klingelt die Polizei gerade bei Ihnen, um Sie genau dazu zu befragen. Die sagten mir heute Nacht, sie würden die ganze Nachbarschaft abklappern.«
»Na, dann kommen sie eben noch einmal wieder, oder meinen Sie, ich sollte bei der Polizei anrufen?«
»Das sollten Sie vielleicht tun, Frau Wieland.«
Dann kamen die Hauptgerichte. Lea und Frau Wieland waren einige Minuten still und konzentrierten sich aufs Essen, bis Frau Wieland erneut den Kopf schüttelte und ihr Besteck zur Seite legte. »Das ist ganz phantastisch, Lea, es schmeckt hervorragend! Der Hantschke war ein schlechter Mensch. Sicher hat er es nicht verdient ermordet zu werden, aber traurig über seinen Tod wird bei uns kaum jemand sein, meinen Sie nicht auch?«
Lea schaute sie nachdenklich an. »Ja, da werden Sie recht haben. Aber irgendjemand ist nicht nur nicht sehr betroffen, sondern wohl höchst zufrieden mit sich selbst.«
Nach dem Essen hatte Lea für sich und Frau Wieland ein Taxi rufen lassen und sich erfolgreich gegen die fünf Euro gewehrt, die ihr Frau Wieland unbedingt hatte geben wollen. Lea hatte gerade ihre Haustür hinter sich geschlossen und Talisker begrüßt, als ihr Handy klingelte. Svenja Ritter, eine weitere Nachbarin aus ihrer Straße, rief an.
Svenja und Lea hatten sich angefreundet, nachdem Svenja mit ihrem Mann und der gemeinsamen Tochter vor zehn Jahren in die Siedlung gezogen war. Sie vermuteten beide, dass ihre Kinder später erste einschlägige Erfahrungen miteinander gesammelt hatten, wollten das aber eigentlich gar nicht so genau wissen. Svenjas Ehe lief nicht gut. Ihr Mann war ehrgeizig und achtete sehr auf Äußerlichkeiten. Er arbeitete als Projektleiter bei einem großen, renommierten Anbieter von Unternehmenssoftware und war regelmäßig geschäftlich unterwegs. Svenja hatte ihn im Verdacht fremdzugehen, war aber zu ängstlich – oder zu bequem, Lea wusste es nicht –, ihn zur Rede zu stellen, und so bügelte sie weiter jeden Sonntag sieben Hemden für ihn. René Ritter verdiente sehr gut, so dass Svenja seit Bellas Geburt Teilzeit arbeiten ging und sich ausgiebig sich selbst und ihren Fitnessaktivitäten widmen konnte. Sie sah immer aus wie aus dem Ei gepellt, und in ihrem Haus herrschte penibelste Sauberkeit. Reichlich Zeit hatte sie ja, dachte Lea. Das war zwar gemein, aber doch wahr.
»Svenja, hallo, ich bin eben erst zur Tür rein.«
»Hallo, Lea, ich weiß, ich hab dich kommen sehen. Hast du nachher mal Zeit? Ich würde gern vorbeikommen.«
Große Lust verspürte Lea nicht, schon gar nicht heute, sie hatte ganz andere Pläne. »Eigentlich hab ich schon was vor, Svenja, geht’s nicht auch morgen?«
»Es dauert auch nicht lange. René bringt um sieben zwei Typen von seiner Bürgerinitiative mit, da muss ich noch ein paar Happen vorbereiten.«
»Okay, aber ich muss erst mit Talisker raus. Komm doch um fünf, dann hab ich Zeit.«
»Super, dann bis nachher!«
Lea schaute ihren Hund an, der legte den Kopf schief. »Ich bin gespannt, was René jetzt wieder für ’nen Bock geschossen hat. Nach den Kondomen, die Svenja in seinem Kulturbeutel gefunden hat, kann es eigentlich nicht mehr viel schlimmer kommen. Es sei denn, es stellt sich heraus, dass er irgendwo eine zweite Familie hat, die er während seiner Dienstreisen besucht.«
Lea mochte René Ritter überhaupt nicht. Svenja zuliebe hielt sie sich zurück, aber René wusste genau, dass sie ihn nicht ausstehen konnte. Er war in Leas Augen ein Mann, der Frauen nicht sonderlich schätzte. Er sah sich selbst als den archaischen Ernährer, der einen warmen Platz am Feuer erwartete, wenn er nach Hause kam. Das hätte im 21. Jahrhundert lächerlich wirken müssen, wenn er nicht in Svenja eine Frau gefunden hätte, die sich seinem manipulativen Verhalten nicht entziehen konnte. Aus Gründen, die Lea völlig rätselhaft waren. Dass Svenja überhaupt arbeiten ging, war René ein echter Dorn im Auge, und es gab regelmäßig Streit deswegen, aber hier setzte Svenja sich durch. Sie war Marketingkauffrau und arbeitete zwanzig Stunden die Woche als zweite Teamassistentin in einer mittelständischen Marketingagentur. René machte sich regelmäßig über ihren Job lustig, am liebsten vor Publikum. Sicherlich würde sie keine glanzvolle Karriere machen, aber darum ging es auch gar nicht, nur verstand dieser Holzkopf das nicht. Er war überdies extrem eifersüchtig und machte seiner Frau ständig Szenen, bestand aber gleichzeitig darauf, dass sie, wenn er mit ihr ausging, ihre gute Figur »angemessen zur Geltung brachte«, wie er es nannte. Immer wenn sie an die Ritters dachte, fühlte Lea sich ein wenig erschöpft, ging dann aber sofort mit sich ins Gericht. Es war nicht fair von ihr, sich ein Urteil über die Ehe der beiden zu erlauben. Sie hatte eine so ehrliche Beziehung mit Mark gehabt – was wusste sie denn schon von den Problemen anderer Paare? Svenja war erwachsen, und irgendetwas musste sie an René finden, sonst könnte sie ihn ja auch verlassen. Vermutlich war das alles normal, und sie und Mark hatten nur großes Glück gehabt. Wie auch immer, sie hätte nicht so ein Leben führen können.
Lea gab Talisker ein Zeichen und ging mit ihm hinaus.
4
Glander schaute den unrasierten und übernächtigt wirkenden Mann hinter der Ladentheke so erstaunt an, als habe er sich verhört. »Der kostet wie viel?«
»280 Euro. Das ist eine seltene Abfüllung, dafür muss man schon ein bisschen tiefer in die Tasche greifen.«
»The World of Spirits« beherbergte ein erkleckliches Angebot an Spirituosen und war stadtweit vor allem für seine gute Auswahl an Malt Whiskys bekannt. Bezahlbar seien diese, hieß es, woran Glander gerade zweifelte. Er beschloss, dem Mann sein Anliegen zu erklären, vielleicht konnte der ihm ja weiterhelfen.
»Schauen Sie mal, ich möchte einer Frau, die ich gerade erst kennengelernt habe und die am liebsten Speyside Malts trinkt, einen Whisky schenken. Sie mag sehr gerne den Balvenie Rumfass oder so ähnlich. Es soll was Spezielles sein und zeigen, dass ich mir Gedanken gemacht habe, darf aber auch nicht zu viel des Guten sein. Sie verstehen, was ich meine?«
Der Inhaber griente Glander ein wenig anzüglich an. Er hatte nur wenige weibliche Kunden und nur eine einzige, die regelmäßig bei ihm The Balvenie oder andere Abfüllungen aus der Region Speyside kaufte, auch in den höheren Preislagen. Berlin war zwar eine europäische Metropole, aber die Welt des Whiskys war hier doch eine überschaubare. Die Frau war sehr lange nicht in seinem Geschäft gewesen, und er beschloss, diesem traurigen Experten vor ihm unter die Arme zu greifen, für den Fall, dass es sich tatsächlich um diese Kundin handelte.
»Also, wenn die Lady gerne den Balvenie Rum Cask trinkt, empfehle ich aus derselben Region entweder den BenRiach Horizons für knapp fünfzig Euro oder den Macallan Masters Edition Fine Oak 2007 für einen Zehner mehr. Beide sind ein bisschen außergewöhnlich. Der BenRiach ist dreifach destilliert mit Finish in Oloroso-Sherry-Fässern. Der hat’s mit fünfzig Prozent ganz ordentlich in sich, ist dafür aber überraschend mild, was der Dame vermutlich wichtig ist. Der Macallan hat ebenfalls ein Sherry-Fass gesehen und ist regelrecht samtig, sehr lecker und eine limitierte Abfüllung. Leichter auch, mit nur knapp 43 Prozent.«
Glander stand vor dem Besitzer des Spirituosenladens und war sich schlagartig darüber im Klaren, dass er nicht länger so tun musste, als verstünde er wirklich etwas von Whisky. Der Bladnoch war ein Geschenk gewesen, und der Zufall wollte es, dass er ihm richtig gut schmeckte. Bis dahin hatte es aber auch ein Jack Daniels getan. Schön auf dem Teppich bleiben, dachte er sich. »Wissen Sie, was, ich nehme beide und entscheide mich spontan, welchen ich ihr schenke.«
»Vielleicht kommt sie ja auch mal zu Ihnen, dann haben Sie was Ordentliches zum Anbieten …« Der Mann nahm die beiden Flaschen und packte sie in eine Papiertüte mit dem Aufdruck des Ladenlogos. »Sagen wir, glatt hundert Euro, dann mache ich heute zwei Menschen eine Freude.«
Glander schaute ihn ein wenig säuerlich an. »Jeden Tag eine gute Tat, was? Sehr löblich. Vielen Dank!«
»Aber gerne.«
Als sich die Tür hinter Glander schloss, fragte sich der Besitzer, ob dieser Vogel bei der Kundin wirklich eine Chance hatte.
Zum selben Zeitpunkt traf Lea mit Talisker auf Höhe des Eupener Wegs auf eine wildgestikulierende Gruppe von Nachbarn. Als sie sich der Gruppe näherte, winkte sie Herr Michalke schon zu sich heran. »Frau Storm, schön, dat Sie jrad vorbeikomm’! Et hat schon wieda een awischt.«
Lea traute ihren Ohren nicht. Noch ein Mord? Das konnte doch nicht sein! »Wen hat es erwischt, Herr Michalke?«, fragte sie vorsichtig.
»Na, den Kalli von die Renners.«
Frau Renner hatte rotgeweinte Augen, wie Lea jetzt bemerkte, und Herr Renner legte den Arm um sie. Kalli war der dauerkläffende Foxterrier der Renners, mit dem sie – zum Leidwesen aller Nachbarn mit einem etwas leichteren Schlaf – immer um Punkt halb sieben das erste Mal am Tag Gassi gingen. Freundliche Hinweise, dass man gerne auch mal ausschlafen würde, wenigstens an den Wochenenden, prallten an den Renners ab. Kalli war ihr Augenstern, im Winter bekam er eine Weste übergestreift, um sich nicht zu erkälten, und gefüttert wurde er mit einer Mischkost, die probiotischen, linksdrehenden Biojoghurt und Beerenmüsli enthielt und gleichermaßen teuer wie unsinnig war. Kalli hinterließ ungeniert Durchfallpfützen mitten auf dem Gehweg, was die Renners komplett ignorierten. Was sollte man da auch aufheben und in einen Beutel tun?
»Frau Renner, Herr Renner, das tut mir sehr leid. Was ist denn passiert?«
»Er wurde ermordet! Das war sicher der Hantschke. Oder die Krahmer. Die mit ihren Katzen, die hat unseren Kalli gehasst, nur weil er mal eins von ihren blasierten Biestern gepackt hat.«
Frau Renner schaute empört in die Runde, die ein bekräftigendes Gemurmel hören ließ. Neben den Renners standen Herr Michalke aus dem Dürener Weg 4, die Ehepaare Schulze und Rohde aus dem Dürener Weg 25 und 39, das Ehepaar Hartmann aus dem Stolberger Ring 39 sowie Carola Sabersky aus dem Dürener Weg 21. Die Saberskys wohnten neben Hantschke.
Fifi, die Pudeldame von Frau Michalke, mit der jetzt immer Herr Michalke unterwegs war, seit er vor einem halben Jahr in den Frühruhestand gegangen war, ließ sich gründlich von Bismut, dem Rüden undefinierbarer Herkunft der Hartmanns, beschnuppern. Die Hartmanns waren beide Chemiker, und ihr Hund Bismut hatte tatsächlich die leicht ins Rosa gehende weiße Färbung, die so typisch für dieses Element gleichen Namens war. Außerdem, so Herr Hartmann, zeichnete den Hund die gleiche schlechte Leitfähigkeit wie das Metall aus: Er zeigte sich generell eher desinteressiert an den Rufen seiner Besitzer, und waren sie ohne Leine unterwegs, konnte es oft Stunden dauern, bis er wiederauftauchte.
Horst, der Basset von den Saberskys, lag von allem unbeeindruckt im Schatten eines geparkten Autos. Carola Sabersky und ihr Mann Arne hatten vier Kinder, die alle extrem sportlich waren. Carola hetzte ständig hin und her, um sie zu diversen Trainingsorten zu fahren, nachdem sie sie von zwei verschiedenen Schulen eingesammelt hatte. Lea dachte wie immer, wenn sie Carola sah, an Berge von Wäsche, die dort täglich durch die Maschine laufen mussten. Alle Kinder spielten Hockey, dazu kam noch Tennis bei Nicole, der Mittleren, Fußball bei Marcel, dem Kleinen, und Baseball bei den Zwillingen Yannick und Noah, den Ältesten. Carola Sabersky hatte das Gemüt einer Holsteiner Stute und leider auch deren Statur, wie sie selbst sagte. Ohne diese beiden Eigenschaften würde sie vermutlich in der Klapse enden, betonte sie ebenfalls recht regelmäßig, bevor sie wieder mindestens fünf Einkaufstüten vom Auto ins Haus schleppte. Carola und Arne schliefen im ausgebauten Keller, damit die Kinder jeder ein Zimmer für sich im Obergeschoss hatten, die Zwillinge teilten sich das größte. Sie hatten eine zweite Garage angemietet, um ihre Sportgeräte und Kisten voller Kleidung, Bücher und Kinderspielzeug unterzubringen, die Carola seit Jahren sichten und ausrangieren wollte. Es konnte einem schwindlig werden, wenn man die sechs zusammen sah, aber die Sabersky-Kinder waren offen und freundlich und ausgesprochen hilfsbereit. Sie mähten Rasen bei einigen Nachbarn, wuschen deren Autos oder erledigten kleinere Besorgungen. Gut in der Schule waren die vier ebenfalls.
Frau Renner nahm Fahrt auf. »Wir sind gestern Abend mit ihm wie üblich um zehn Uhr die letzte Runde Gassi gegangen. Da laufen wir immer in Richtung Supermarkt und dann durch die Eschweiler zurück. Als wir wieder in unsere Straße eingebogen sind, sahen wir den Hantschke am Straßenrand, er sah aus, als wartete er auf jemanden, und hat uns auch nicht gegrüßt. Da war mit Kalli noch alles in Ordnung, aber als wir dann zu Hause waren, fing er an zu würgen und sich zu erbrechen, und er hatte Schaum vorm Mund, und Blut kam ihm aus den Augen. Es war ganz furchtbar mitanzusehen …« Wieder brach sie in Tränen aus.
An einer Vergiftung einzugehen war ein grausamer Tod für einen Hund, das wusste Lea. Um solche Köder auszulegen, musste man diese Tiere wirklich hassen und ein komplett mitleidsloser Mensch sein. Das war jetzt der fünfte Hund innerhalb von drei Monaten, der an Giftködern verendet war. Dagegen musste man wirklich etwas tun. »Frau Renner, haben Sie Anzeige erstattet?« Die Renners schauten Lea erstaunt an. »Geht denn das, Frau Storm? So ein Hund interessiert doch bei der Polizei keinen.«
»Herr Renner, hier greift das Tierschutzgesetz.« Lea zitierte: »Paragraph 17: Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer erstens ein Wirbeltier ohne vernünftigen Grund tötet oder zweitens einem Wirbeltier aus Rohheit erhebliche Schmerzen oder Leiden oder länger anhaltende oder sich wiederholende erhebliche Schmerzen oder Leiden zufügt. Das heißt, auch wenn ein Hund den Anschlag überlebt, sollte man Anzeige erstatten, damit solche Hundehasser auch bestraft werden können. Die Polizei nimmt solche Fälle recht ernst, denn schließlich kann so ein Giftköder auch in die Hände von kleinen Kindern gelangen, oder es kommen Tiere um, die unter Artenschutz stehen.«
Carola Sabersky warf ein: »Da gab es doch so eine Serie im April, dreißig vergiftete Hunde in der Innenstadt, und einer ist gestorben. Stand in der Zeitung.«
Dass die Frau bei ihrem täglichen Programm noch zum Zeitunglesen kam, war in Leas Augen eine logistische Meisterleistung. »Ja, ich habe davon gehört, denke aber nicht, dass es sich hier bei uns um denselben Irren handelt. Ich kann Ihnen nur raten, Ihre Hunde bis auf weiteres an die Leine zu nehmen oder ihnen einen Maulkorb anzulegen. So können die Tiere nichts fressen, was irgendwo herumliegt. Bleiben Sie alle aufmerksam, und gehen Sie beim ersten Anzeichen von Übelkeit oder anderen Symptomen direkt zum Tierarzt! Rattengift wirkt erst nach drei Tagen, es ist also wirklich besser, die Hunde gar nicht erst etwas fressen zu lassen, was nicht von Ihnen kommt.«
Michalke nickte anerkennend. »Mönsch, Sie sind aber juht informiat!«
»Herr Michalke, schauen Sie sich meinen Hund an! Was meinen Sie, was ich mir schon alles anhören musste? Dass er an die Leine gehöre und es asozial sei, überhaupt so einen großen Hund zu haben, und andere, weniger nette Kommentare. Früher habe ich noch versucht, die Leute davon zu überzeugen, dass er aufs Wort pariert. Manche haben aber auch einfach Angst vor Hunden, und andere sind – oft zu Recht – von rücksichtslosen Hundebesitzern genervt. Da kann man dann argumentieren bis zum Umfallen.«
Die Runde nickte zustimmend. Von Horst waren leise Schnarchgeräusche zu vernehmen.
Lea fügte hinzu: »Vielleicht sagen Sie auch den anderen Hundebesitzern Bescheid, dass sie unbedingt aufpassen sollen. Ich muss weiter, ich krieg nachher Besuch. Einen schönen Tag noch!«
Die Nachbarn verabschiedeten sich von Lea. Carola Sabersky riss Horst aus dem Schlaf und zog ihn hinter sich her. »Lea, warte mal kurz!« Sie holte Lea ein und lief neben ihr her. »Sag mal, war die Polizei auch bei dir? Die standen heute Vormittag vor meiner Tür und haben mich lauter Sachen über den Hantschke gefragt. Ob der Damenbesuch hatte und so was. Ich kann das gar nicht glauben, dass der tot sein soll.«
Lea nickte. »Glaub es, der ist tot! Hatte er denn Damenbesuch?«
»Nee, nie. Bis auf gestern Abend. Ich bin sicher, dass da ’ne Frau bei ihm war. Arne und ich haben uns fast totgelacht, als wir ihn nebenan hörten. War aber auch schnell vorbei.« Sie schlug sich die Hand vor den Mund.
»Mensch, das ist so pietätlos von mir. War jedenfalls irgendwie komisch, aber wir haben ferngesehen und dann nichts mehr gehört.«
»Weißt du noch, wann das war?« Leas Neugier war geweckt. So einen Leichenfund machte man schließlich nicht alle Tage, da durfte man sich ja wohl ein bisschen für die Ermittlungen interessieren.
»Gegen Mitternacht. Da lief erst The Closer und danach Crossing Jordan. Dabei haben wir ihn kurz gehört, dann war Ruhe. Ich hab noch meinen heißen Kakao getrunken und bin ziemlich schnell eingeschlafen.«
Das hieß also, dass Hantschke um Mitternacht noch gelebt hatte und zwischen Mitternacht und drei Uhr morgens umgebracht worden sein musste. Sie hatte ihn um halb vier gefunden. Aber zwei Morde begehen, Leichen herumschleifen und dann die Szene so arrangieren – das war nicht in einer Viertelstunde erledigt, nahm Lea zumindest an. Es war niemand in der Nähe gewesen, als sie und Talisker bei den Toten aufgetaucht waren, daran hatte sie keinen Zweifel. »Hat der Hantschke mal irgendwas von viel Geld erzählt, das er bald hätte?«
»Und ob! Seit einer Woche, immer wenn ich ihm vorm Haus begegnet bin. Ich hab den ja quatschen lassen und nie so richtig zugehört. Er redete von einer Stange Geld und davon, dass er bald ›aus diesem Getto‹ rauskäme und wir gut dran täten, uns auch vom Acker zu machen.«