Kitabı oku: «Ein schönerer Schluss», sayfa 5

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XIII
1.

Über das Pogrom, das im Verlauf des Zweiten Weltkriegs über die Karawlachen hereinbrach, weiß ich so viel, wie mir mein Großvater erzählt hat. Schon unmittelbar nach Kriegsbeginn haben die Deutschen, wie er erzählte, auf dem Weg, der vom Dorf M. zu den Karawlachen führt, ungefähr hundert Meter unterhalb unserer Hütte, zwölf Karawlachen in unterschiedlichem Alter abgefangen, sie am Wegrand aufgereiht und erschossen. Dann sind sie bis zum Dorf gegangen, haben es umstellt, alle Bewohner, Alt und Jung, zusammengetrieben, sie in die Häuser gesperrt und lebendig verbrannt. Mir ist nicht bekannt, wie viele sich und auf welche Weise gerettet haben und wie es ihnen gelungen ist, bis zum Kriegsende zu überleben. Großvater erzählte auch verwundert, dass viele der Karawlachen nicht einmal wussten, was ihren Vorfahren im Zweiten Weltkrieg widerfahren war. Sie wussten, dass Schreckliches und Unerklärliches geschehen war und dass über dieses Grauen die unterschiedlichsten Geschichten im Umlauf waren, aber die Details kannte keiner von ihnen. Sie lasen keine Bücher, und wenn sie es taten, hätten sie kaum etwas über sich selbst erfahren.

Den Krieg, der in Bosnien Anfang der Neunziger ausbrach, wollten sie nicht auf der Schwelle ihres Hauses erwarten. Die komplette Bevölkerung stieg in ihre Caravans und Kombis mit deutschen Kennzeichen und fuhr für immer weg. Zurück blieben nur zwei, drei Alte, die wegstarben, noch bevor der Krieg zu Ende war. Während des Kriegs drängten Flüchtlinge in das Dorf, das bis dahin bei allen einfach Karawlachi geheißen hatte, Bosniaken aus der Stadt, die unmittelbar zu Beginn des Kriegs in die Hände der serbischen Armee gefallen war. Die Flüchtlinge blieben während des Kriegs hier, und als der Friede kam, kehrten einige von ihnen in die Stadt zurück, während sich andere im Dorf M. ein Haus bauten oder ein anderes Unterkommen fanden. Das Dorf, das einmal Karawlachi geheißen hatte, blieb völlig verlassen und hatte keinen Namen mehr, sodass man sich seiner auch nicht erinnern konnte.

2.

Eines Tages, zwei Jahre nach Kriegsende, kam eine Kolonne von mehreren alten, staubigen Pkws und Kombis durch das Dorf M. und fuhr weiter zu dem Dorf, an dessen Namen sich niemand mehr erinnerte. Die Dorfbewohner versuchten durch die verdunkelten Scheiben zu spähen, in der Meinung, in den Autos säßen Karawlachen, die vielleicht an ihre Herdstellen zurückkehrten, und es waren nicht wenige, die sich darüber aufrichtig freuten. Denn wenn sogar die Karawlachen an ihren Ort zurückkehrten, war das ein Zeichen, dass bessere Zeiten kamen. Aber durch die Scheiben konnten sie nur Männer mit langen ungestutzten Bärten erkennen.

3.

Und so zogen in das verlassene karawlachische Dorf, das jetzt von allen Ober-M. genannt wurde, Wahhabiten ein. Sie setzten für den Anfang mehrere Häuser instand, so viele, wie sie benötigten, und blieben hier, um nach ihren eigenen Gesetzen zu leben. Durch das Dorf M. fuhren jetzt immer öfter Autos mit bärtigen Männern, beladen mit allem Möglichen, und jeder wusste, da kommt ein „Bruder“ oder eine „Schwester“, wie sich die Wahhabiten untereinander nennen. Die Bewohner des Dorfes M. nahmen am Anfang gar nicht so viel Kenntnis von ihnen, denn sie kamen ausgesprochen selten ins Dorf herunter und kauften nur die allernotwendigsten Dinge. Ihre Kinder schickten sie nicht zur Schule, sondern unterrichteten sie selbst, den strengen Prinzipien ihres Glaubens entsprechend. Die Frauen verließen das Dorf nicht. Zuerst dachte man, es handele sich um ehemalige Mudschahedin aus den arabischen Ländern, aber das waren nur zwei, und die waren bald wieder irgendwohin verschwunden. Die Muslime aus dem Dorf M. wurden von den Wahhabiten tadelnd angesehen, denn nur wenige von ihnen verneigten sich fünf Mal am Tag zum Stundengebet, ihre Frauen waren nicht verhüllt, die Mädchen trugen enge Jeans und Minis, sie stöckelten mit hohen Absätzen übers Pflaster, und die meisten Männer tranken nicht nur Sliwowitz, sondern brannten ihn sogar, denn die Gegend ist bekannt für ihre Pflaumen und den guten „weichen“ Sliwowitz. Zwar hielten nach dem Krieg viele Bewohner den ganzen Ramadan ein und kamen auch freitags viel mehr Menschen zum Mittagsgebet zusammen als in den Jahren vor dem Krieg, aber die Wahhabiten sahen in ihnen trotzdem schlechte Gläubige.

XIV
1.

Es war Dezember, als der Regen endlich aufhörte. Es hatte sich abgekühlt, und die Luft roch nach Schnee. An diesem Morgen startete ich den Käfer und wollte ins Dorf zum Einkaufen, bevor der Schnee die Straße zuwehen würde. Der Schlamm auf dem Weg war gefroren, die dünne Eisschicht unter den Rädern zersprang hörbar. Als ich ankam, stand vor dem Laden ein blauer Kleintransporter. Von dem einachsigen Hänger luden zwei Burschen in Blaumännern Kartons ab. Ich parkte hinter dem Transporter und ging zum Laden. Auf der Hauptstraße des Dorfes war niemand. Auf dem Bänkchen vor der Moschee saßen keine alten Männer. An der Moschee war eine grüne Fahne mit weißem Halbmond und Stern aufgezogen. Aus den Schornsteinen auf den Hausdächern wand sich weißer Rauch.

Noch bevor ich hineingehen konnte, kam einer der Blaumänner aus dem Laden heraus. Er hatte einen weißen Verband über dem rechten Auge, mit einem Pflaster befestigt. Er blieb kurz stehen, als er mich sah, und machte eine Geste, als wolle er mich vorbeilassen. Dann sah er den Käfer und fragte, ob das mein Auto sei. Ich sagte, ja. Stört es Sie vielleicht? Er fragte, ob ich der und der sei. Mit einem unbehaglichen Gefühl wand ich mich, trat von einem Fuß auf den anderen wie ein Verdächtiger, wenn ihn die Polizisten nach dem Personalausweis fragen. Ich sagte, ja: – Der bin ich.

– Ja, wo kommst du denn her, Cousin? – sagte er. Dann gab er mir die Hand und schüttelte sie. Kräftig. Er umarmte mich und küsste mich nach Männerart.

Als er mich nach meinem Namen fragte, wusste ich, wer er war. Ich hatte befürchtet, dass ich früher oder später entdeckt werden würde. Sein Großvater und mein Großvater waren Halbbrüder gewesen, sodass er und ich Cousins zweiten Grades waren. Ich kenne die richtige Bezeichnung für dieses Verwandtschaftsverhältnis nicht, aber verwandt sind wir. Und nachdem sein Großvater fünf Söhne und zwei Töchter hatte und die wiederum ich weiß nicht wie viele Söhne und Töchter, war ich genau genommen mit mindestens dem halben Dorf M. verwandt.

Ihn freute es aufrichtig, mich zu sehen, mir hingegen war es unangenehm. – Wir haben uns ja wohl an die zwanzig Jahre nicht gesehen.

– Oder auch mehr – sagte ich.

Dann schob er mich durch die Tür und rief der Verkäuferin zu, die gerade jemandem eine SMS schickte:

– Almasa, kennst du den hier? Erinnerst du dich nicht? Ach ja, du warst noch zu klein. Oder du warst vielleicht noch gar nicht geboren, als unser Cousin das letzte Mal bei uns war.

Dann sagte er, dass das seine jüngste Schwester sei. Ich gab ihr die Hand, sie nahm sie schlaff. Sie lächelte, und in ihren Augen war diesmal kein Spott.

– Ich habe sofort gesehen, dass er von uns abstammt – sagte sie. Das klang ironisch, aber ich war mir nicht sicher.

2.

Ich wollte Salih auf einen Kaffee einladen, aber er sagte, dass vor zwei Tagen der Ramadan begonnen habe und dass er faste.

– Das ganze Dorf fastet, du kannst nirgends auf einen Kaffee gehen. Du kannst dir nicht einmal eine Zigarette anstecken, alle schauen nur, dass keiner sich eine anzündet oder um Gottes willen etwas in den Mund steckt. Wie die CIA und der KGB zusammen. Da fehlt nur noch Tito. Alle reden irgendeinen Scheiß, ob nun so oder anders. Damals haben sie uns wegen der Religion verfolgt, mal durftest du nicht in die Moschee, mal durftest du nicht in die Kirche, mal dies, mal das. Ich fick ihnen die Mutter, den einen genauso wie den anderen.

Hinter der Kasse rief seine Schwester, er solle still sein oder seinen Unsinn draußen verzapfen und nicht bei ihr im Laden.

Ich fühlte mich in einen Fluss fallen, aus dem ich nicht mehr herauskommen würde.

Salih ging für einen Augenblick hinaus. Er rief dem anderen jungen Mann im Blaumann etwas zu, der stieg in den Transporter, startete ihn und fuhr weg.

– Lass uns nach hinten ins Magazin gehen und ein Bier trinken – sagte Salih, als er in den Laden zurückkam.

Seine Schwester murmelte etwas vor sich hin, als wir durch den Laden zu einer Tür gingen, die zu einem kleineren, mit Schachteln, Tüten und Kisten vollgestellten Raum führte. Wir setzten uns jeder auf einen Kasten Bier. Er zog unter sich zwei „Tuzlanske“ hervor, öffnete eins mit dem Feuerzeug und reichte es mir, dann öffnete er das zweite, der Kronenkorken flog ans andere Ende des Lagers, er steckte den Mittelfinger in den Flaschenhals und zog ihn mit einem lautem „Plopp“ heraus. Er prostete mir zu und leerte die halbe Flasche auf einen Zug. Bier schmeckt mir nicht. Bier trinke ich nur im Sommer, wenn es heiß ist und das Bier kalt und man den Geschmack nicht spürt. Aber weder ich noch Salih tranken es wegen des Geschmacks.

3.

Wir rauchten. Wir tranken ein Bier nach dem anderen und gingen alle fünf Minuten auf die Toilette. Schon lange hatte ich mich nicht mehr betrunken, und es tat mir gut. Salih musste ich nichts fragen und ihm auf Fragen auch nicht antworten. Er erzählte von den Kriegsjahren, davon, wie er Hunger gelitten, wie er geschossen und wie er Angst gehabt hatte. Wie sie gemeinsam, er, die drei Brüder und der Vater, an die Front gegangen waren. Zu Hause die Mutter und zwei Schwestern. Und wie man ihnen nicht erlaubt hatte, zusammen an ein und dieselbe Stellung einzurücken, damit sie nicht alle auf einmal umkommen.

– Aber, scheiß drauf, wenn die angreifen, wer fragt dich da, ob neben dir im Graben dein Bruder oder dein Vater oder sonst ein Arsch liegt.

Und so habe er ein Auge verloren, sagte er und zeigte darauf. Auch ein kleines Stückchen vom Stirnknochen, aber das sähe niemand, weil alle nur auf das Auge sähen. Ich sah auf die mit einem dünnen, weißen Stück Gaze bedeckte Einbuchtung. Das weiße Gewebe war mit hautfarbenem Heftpflaster abgeklebt, damit es möglichst wenig auffiel. Aber man konnte genau sehen, dass darunter kein Auge war. Darunter gähnte ein Loch, vermutlich bedeckt von einer dünnen Hautschicht. Ich wollte ihn fragen, ob er es mir zeigt, aber ich hatte Angst. Später würde ich jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, dieses Bild vor mir haben. Etwas anderes machte mir aber noch mehr Angst. Was, wenn er die Gaze abnahm, mir das Loch zeigte und ich aufschrie, meine Augen zuhielte oder mich übergäbe. Oder noch schlimmer: Was sollte ich ihm sagen, wenn der Anblick in mir gar keine Gefühle auslöste? Ist echt cool, das Loch, steht dir ausgezeichnet. Jemand anders hätte vielleicht gesagt, er solle sich doch ein Glasauge einsetzen, aber ich wusste, dass er das nicht tun würde. Wer immer mit ihm spräche, würde nicht in sein gesundes, grünes Auge sehen, sondern in die starre Glaskugel.

– Aber scheiß auf das Auge, du hast ein zweites – sagte Salih und fügte hinzu, dass dieselbe Granate seinen jüngeren Bruder umgebracht habe.

– Erinnerst du dich an ihn? – fragte er.

– Ich erinnere mich an ihn, wie sollte ich nicht – log ich.

– Aber ja, wie solltest du nicht – sagte er und nahm einen großen Schluck.

Salih erzählte, dass es vor ein paar Tagen zu einem unangenehmen Zwischenfall vor der Moschee gekommen sei. Es war der letzte Tag vor Beginn des Ramadan gewesen. Vor der Moschee hatte sich alles versammelt, was im Dorf kriechen kann, als plötzlich zwei Autos voller Bärtiger aus Karawlachi kamen. Ich fragte Salih, wer diese Bärtigen seien, er sagte, das sind Wahhabiten. Die leben jetzt in dem Dorf, wo früher die Karawlachen waren.

– Auch sie waren zum Gebet gekommen. Die Leute ließen sie herein und sich verneigen, die Moschee gehört allen. Aber die fingen an sich zu verneigen, wie das bis dahin noch keiner gesehen hat. Ich weiß jetzt weder, wie sie sich verneigen, noch weiß ich, wie man sich verneigt, noch kümmert es mich, wie man sich verneigt. Aber jedenfalls haben die angefangen, die Beine irgendwie anders zu spreizen und sich auf den Boden zu werfen, als wären sie toll geworden. Am Schluss wollte ihr Oberbartträger auch noch eine Rede halten und fing davon an, dass sich alle wie sie verneigen und wahre Muslime sein müssten, ohne zu trinken und Sliwowitz zu brennen und dass die Frauen sich verhüllen müssten und solche Sachen. Na gut, soll sein … Aber da werden unsere Hornochsen wütend und werfen sie aus der Moschee, die Bartträger kommen gerade noch mit heiler Haut davon.

Ich überlegte, wie mir ein Bart stehen würde.

– Aber wenn es damit wenigstens vorbei gewesen wäre. Jetzt fanden sich auch bei unseren Leuten welche, die für die Bartträger waren. Und schon war das Dorf gespalten. Die einen sagen, was werden uns die einen Scheiß erzählen, wie man sich verneigt und fastet und wie sich mein Kind anziehen soll, und die anderen, dass uns all das Böse getroffen hat, weil wir alle sittenlos geworden und keine wahren Muslime mehr sind. Wie die Dinge stehen, müssten wir uns alle Bärte wachsen lassen und aufhören zu trinken und die Frauen sich verhüllen, damit es für uns wieder super wird. So wie es für die Bartträger super ist. Da sind sie, oben im Wald, allein wie die Bilche. Sie haben nichts zu essen, ihre Kinder gehen nicht in die Schule. Aber dafür wachsen ihre Bärte … Scheiß auf die Bärte. Die von den Tschetniks sind scheiße, aber die von den Wahhabiten sind gut. Kannst du mir das erklären?

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

Ich sagte: – Scheiß auf die Bärte, was kümmern mich die Bärte.

Er sah mich an und sagte:

– Ich weiß, dass dir das scheißegal ist, dir war es ja auch scheißegal, als es hier geknallt hat. Aber mir, siehst du, mir ist es nicht egal. Mir ist es überhaupt nicht egal. Denn zum einen ist mein Alter Wahhabit geworden und trägt jetzt Bart, und zum anderen hat jetzt auch mein älterer Bruder angefangen, sich den Bart wachsen zu lassen und wie ein Verrückter im Koran zu lesen, und hat doch nie mehr geschafft als den halben Komandant Mark. Ich kann wegen denen zu Hause nicht mal ein Bier trinken. Jetzt hat Mutter auf ihre alten Tage angefangen sich zu verhüllen. Die andere Schwester hat sich auch an so einen Idioten verheiratet, dem reicht der Bart schon bis zur Hüfte, und sie geht schon seit einem Jahr nicht mehr aus dem Haus. Und dann kommst du mir mit „ist mir scheißegal“. Dann ist es dir eben scheißegal.

Ich versuchte es mit Lachen, quasi alles nur Scherz, aber ich sah, dass den Scherz längst der Teufel geholt hatte. Ich hatte ihm nichts zu sagen, und er wollte auch nicht, dass ich ihm etwas sage. Ich konnte ihm zuhören, aber helfen konnte ich ihm nicht und noch weniger mir selbst.

Ich faselte betrunken etwas von wegen, dass die Wahhabiten nicht besser seien, weil sie sich Bärte wachsen lassen, und dass das Böse, das Bosnien heimgesucht hat, nichts mit dem Verhüllen der Frauen zu tun habe. Gott hört dich auch nicht besser, wenn du in der Moschee auf Arabisch zu ihm betest, und nicht wie zu Hause auf Bosnisch.

Ich wollte ihm sagen, dass es Gott genau genommen egal ist, ob du deinen Bart gestutzt hast oder nicht. Gott ist es egal, ob du dein Auge oder deinen Bruder verloren hast. Aber das wusste er besser als ich, und deshalb trank ich einfach nur weiter. Er sah mich mit seinem betrunkenen Auge an und sagte langsam, die Worte betrunken in die Länge ziehend:

– Dir ist es scheißegal … Weißt du was … Du bist schlimmer als die, du … Du bist schlimmer als die Bärtigen …

Er holte aus, um mir mit der Faust an den Kopf zu schlagen, aber er verfehlte mich, weil ich auswich, und vermutlich ist es auch nicht so leicht, mit einem betrunkenen Auge zu zielen. Als ich auswich, fiel ich von der Bierkiste. Er kam von dem Schlag ebenfalls ins Wanken und landete auch auf dem Boden. In dem Moment kam seine Schwester Almasa an die Tür und fing an zu schimpfen. Ich versuchte allein hochzukommen, und sie half Salih auf. Er wiederholte, dass ich der Schlimmste sei, und wollte wieder auf mich losgehen, aber Almasa hielt ihn zurück. Ich sagte zu ihr, dass ich nicht wisse, was mit ihm sei, plötzlich sei er verrückt geworden.

– Ach, du weißt es nicht? Du weißt nicht, was mit mir ist? Ich fick dir die Mutter, fick ich dir …

Almasa versuchte ihn zu beruhigen, und ich ging langsam Richtung Tür.

– Was zum Teufel kommst du hierher, wenn du keine Ahnung hast? Was zum Teufel … Was willst du, zum Teufel, wenn du keine Ahnung hast? Was? Was?!

Als ich zurückfuhr, war von der Spitze des Minaretts das Nachmittagsgebet zu hören. Sie hatten die Lautstärke wegen des Ramadan wohl zusätzlich erhöht. Ich versuchte den Schlaglöchern auszuweichen, und in meinem Kopf hallte sein „Was, was, was“ …

Woher soll ich wissen, was.

XV
1.

Es wurde schon dämmrig, als ich zur Hütte kam. Erst da begriff ich, dass ich im Laden nichts eingekauft hatte. Das Feuer im Ofen war vollständig ausgegangen. Ich räumte die Asche aus, brachte sie hinaus und schüttete sie an den nächstbesten Pflaumenbaum. Ich ging zum Schuppen, spaltete Holz, ging in die Hütte zurück und machte wieder Feuer. Es war zu still. Ich träumte davon, mir einen Hund anzuschaffen, ich hatte gehofft, im Dorf einen streunenden Welpen zu finden, aber das war nicht geschehen. Es wäre schön, zusammen mit einem Hund durch den Wald zu gehen. Oder in der Hütte zu sitzen und zu schreiben, während der Hund ruhig neben mir liegt und das Feuer im Ofen knistert. Ich stellte mir vor, dass ich die Menschen völlig vergessen würde, wenn ich einen Hund hätte. Ich setzte mich hin und versuchte, nicht daran zu denken, was im Dorf passiert war. Ich war noch betrunken und hatte nichts zum Trinken da, um mir den Rest zu geben. Ich konnte weder lesen noch schreiben. Also legte ich mich aufs Bett, zündete mir eine Zigarette an und rauchte im Dunkeln. Ich musste daran denken, dass bald Schnee fallen würde und ich dann auf den umliegenden Bergen langlaufen könnte. Ich fragte mich, ob in Oslo schon Schnee gefallen war.

Ich dachte an Norwegen. Ich erinnerte mich, wie ich damals, nach der Begegnung mit meiner Ex, zum Friedhof hinaufgegangen war. Dunkelheit war eingefallen, der Schnee wurde immer dichter und blieb schon auf dem Gras liegen. Ich war langsam gegangen und hatte die Namen auf den Grabplatten gelesen. Auf manchen, den älteren, stand auch der Beruf des Verstorbenen. Thor G. Nordli, 1876–1935, Großhändler. Carl Ivar Sivertsen, 1889–1956, Architekt. Die Aufschriften auf den Grabmälern waren Romane in perfekt reduzierter Form.

Dann war ich nach Hause gegangen, in die Hagegata 52, und hatte mich schlafen gelegt. Als ich aufwachte, sah ich, dass die Stadt von Schnee bedeckt war. Ich rief bei der Arbeit an und sagte, ich könne nicht kommen, weil ich krank sei. Ich lag den ganzen Tag im Bett. Am nächsten Morgen wachte ich auf, und es gab keinen Schnee mehr, nur noch Dreck und Matsch. Ich ging hinaus und machte mich zu Fuß auf den Weg zur Arbeit. Es wehte ein warmer Südwind, den der Golfstrom heranbrachte.

2.

So war der ganze Dezember und fast der ganze Januar vergangen. Der Schnee lag schon längst hoch in Oslo, die Temperatur hielt sich den kurzen Tag über bei etwa minus zehn. Es war heiter und frisch. Endlich war die Konsumorgie, die alle Weihnachten nannten, vorbei, und auch Neujahr, ein Besäufnis, bei dem alle professionell Fröhlichkeit mimen. Gründe, weshalb ich diese Zeit des Jahres nicht mochte, gab es mehrere: persönliche, soziale und geschäftliche.

Persönliche: Ich fühlte mich einsam. Früher hatte ich die Weihnachtstage mit Freunden verbracht, die etwas auf Tradition gaben und mich einluden. Später mit einem der Mädchen, die mich zu Weihnachten zu ihren Familien zum Vorzeigen mitnahmen. Am Ende verbrachte ich sie allein. Viele Menschen sind zu Weihnachten allein, und der Prozentsatz der Selbstmorde steigt drastisch an.

Soziale: Für den großen Weihnachtseinkauf wird auf den Riesenplakaten der Einkaufszentren schon im Oktober geworben. Die Leute kaufen wie verrückt Geschenke, in der Hauptsache völlig sinnlose, es wird unheimlich viel Geld umgesetzt, die Kaufleute reiben sich die Hände und überlegen, dass es gut wäre, noch ein Weihnachten zu haben, irgendwann Mitte Juli. Aber was am meisten irritiert, sind die allgemeinen, aber komplett verlogenen Liebesergüsse.

Geschäftliche: Zu Weihnachten und Neujahr schicken die Menschen einander Millionen Glückwünsche. Frohe Weihnachten und ein glückliches Neues Jahr! Was soll das überhaupt bedeuten? Eine Familie in Norwegen, das hat man ausgerechnet, verschickt im Durchschnitt an die fünfzig Glückwünsche. Wenn du Briefträger bist, ist das wirklich ermüdend. Deshalb bittet die Post die Menschen, mit dem Verschicken der Glückwünsche etwas früher zu beginnen. Am besten schon im September.

Aber jetzt war das alles Vergangenheit, jetzt hatten wir Ende Januar, und die Tage wurden länger. Es hatte geschneit, es war heiter und frisch, die perfekte Zeit zum Langlaufen. Es gibt nichts besseres als Langlaufen, durch den Wald, über eine Hochebene, bergauf, bergab, über zugefrorene Seen. Ohne einen lebenden Menschen in Sichtweite.

Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.