Kitabı oku: «Vom Rauschen und Rumoren der Welt», sayfa 3

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08

Der Mann lacht spöttisch, als er aus dem Auto steigt. – Du bist also beinahe ein Bulle? Sieht man dir nicht an. Er sagt, die siebenundzwanzig Kilometer, die ihn von der Stadt trennen, gehe er sicher zu Fuß, vor Mittag werde er da sein – Ja, ich gehe ziemlich schnell, kannst du dir vorstellen, wie das ist, wenn ich dann ein Pferd habe? Danke, dass du uns aufgenommen hast.

Als sich die Bürotür schließt, hat Jodel das flüchtige Gefühl, nach langer Abwesenheit zurückzukommen. Warum »uns aufgenommen hast«? Er setzt Wasser auf. Möglich, dass die Mongolen Tee trinken. Irène sicher nicht, der Gaumen von Rauchern ist nicht mehr fein genug, um das Aroma zu würdigen.

Er liest seine Notizen durch. Warum bleibt Irène im Spiel? Warum ist es ihre Aufgabe, den Kontakt zu den Eltern zu halten? Aus den Dialogen hat er nicht viel erfahren. Er tut, was er kann. Auf jeden Fall muss nicht er die Ermittlung durchführen. Ja, genau. In seinen Notizen hat er vermerkt, dass man bei Minute zweiundzwanzig noch andere Stimmen in Tonios Nähe hört. Er nimmt sich seine Datei UMGEBUNG wieder vor und hört. Die Aufnahme ist undeutlich. Eines jedoch wird ihm schnell klar: Eine aufgebrachte Frau spricht englisch – ein sehr spezielles Englisch, weder aus England noch aus Amerika. Ja, genau. Aber er wird Wunder vollbringen müssen, um ein paar Worte zu verstehen. Daher hört er sich die fünfundzwanzigste Minute genauer an und erfasst inmitten von Küchengeräuschen ein paar Klänge, die ebenfalls Englisch sein könnten. Sollte das etwas mit der Nationalität oder der Herkunft von Tonio zu tun haben? Er kehrt zur Datei STIMMEN zurück und beginnt, die von Tonio zu analysieren. Der grüne Bildschirm zeigt die roten Ausschläge des digitalisierten Tonsignals: Das Spektrogramm bestätigt die Tendenz zu hohen Frequenzen (unangenehmer Effekt). Kein charakteristischer Akzent. Aber ein Tick: Eine Kehlkopfkontraktion vor manchen Sätzen, die in eine kurze Nasenausatmung übergeht. Gut geeignet für einen Vergleich mit den drei anderen Stimmen, deren Aufnahmen man ihm gegeben hat und von denen eine wohl die von diesem Tonio sein könnte. Ja, genau.

Schließlich erstellt er eine genaue Charakteristik von Tonios Stimme, und nachdem er die Hintergrundstimmen nach vorne gezogen und eine ausführlichere Recherche in der Audiothek vorgenommen hat, erkennt er, dass es sich bei ihnen um Englisch aus Sierra Leone handelt. Gut. Verschiedene Nachrichten in seinem Computer liefern ihm die Adressen der Pariser Baustellen, die sich direkt in der Stadt befinden: keine Brache, keine abgelegene Gasse. Der von Stille umgebene Bagger auf der Kassette arbeitete also nicht in Paris. Eine letzte Nachricht vom Gericht informiert ihn, dass Irène sagt, sie glaube, das Versteck sei in der Stadt, aber das sei nicht sicher.

Den restlichen Vormittag verbringt er mit dem Vergleichen der drei im Anhang mitgelieferten Stimmen. Keine von ihnen weist den Tick (Kehlkopfkontraktion und Nasenausatmung) auf, aber nach Gegenüberstellung der Ergebnisse des Oszillogramms und dann des Spektrogramms sieht es so aus, als wären Tonio und derjenige, den die Unterlagen als Hernandez bezeichnen, derselbe. Blöd, dass der Tick nicht zu finden ist.

— Du weißt genau, dass man eine Stimme nie mit absoluter Gewissheit identifizieren kann, das ist keine sichere Wissenschaft, sagt Marc.

— Das weiß ich nur zu gut und es bekümmert mich, stell dir vor.

— Gut, trotzdem sammelst du meistens interessante Hinweise. Was ist mit dem Englischen? Von wo?

— Sierra Leone.

— Und die Hähne?

— Tja …

— Vielleicht ein Restaurant.

— Daran hab ich auch gedacht. Aber kennst du viele Gerichte mit Hahn?

— In Sierra Leone vielleicht …

Die Antwort wird ihm geliefert, als er ins Oiseaux geht. Auf der Schiefertafel mit den Tagesgerichten liest er Coq au vin. Was ist er doch für ein Idiot! An der Theke trinken drei Männer schweigend Weißwein aus kleinen Gläsern, und eine alterslose Frau hebt regelmäßig die Hand, wie um kraftvoll eine Rede einzuleiten, aber ihr Arm fällt zurück, die Worte kommen ihr nicht über die Lippen. Ihr Nachbar stimmt mit resigniertem Kopfnicken zu, und sein Gesicht sagt So ist es oder vielleicht Da kann man nichts machen. Würde Jodel nicht das irre Gespräch fürchten, das sich womöglich daraus ergäbe, würde er die Frau mit dem Zitat eines Philosophen trösten, dessen Name ihm nicht mehr einfällt: Das Schweigen ist eine Errungenschaft des Menschen. Aber wäre sie damit getröstet? Der Coq au vin ist köstlich. Als er auf dem Rückweg zwei Hunde sieht, die einander herausfordern, denkt er an eine andere Verwendung von Hähnen: den Kampf. Stößt der Kampfhahn einen anderen Schrei aus als sein Bruder im Hühnerhof? In der Audiothek zu überprüfen. Gibt es in Sierra Leone eine Hahnenkampftradition? Ebenfalls zu überprüfen.

Als er sich vor seinen Computer setzt, die Hände zu beiden Seiten der Tastatur flach auf dem Schreibtisch, das Kinn gesenkt, lustlos, wird ihm klar, dass er die Geschichte nicht mehr aushält und er offensichtlich wieder mal übereifrig war, gewiss, weil zwei Ereignisse zusammentreffen, die Begegnung mit Jeanne, die ihn besonders sensibel für Kinder gemacht hat, und das Material dieses Falls. Aber er ist fast fertig. Für andere bleibt dann die Aufgabe, den Ort des Verstecks zu entdecken, für wieder andere die Aufgabe, Irènes Rolle zu verstehen. Er hat nicht die Mittel, diese Fragen zu lösen. Ingenieur ist er, nicht Ermittler.

So vergeht der Nachmittag recht schnell, er hört sich Kampfhähne an (ihr Schrei ist nur anders, wenn sie auf dem Kampfplatz sind, was vorauszusehen war, dann wird er widerlich), erfährt nichts Besonderes über eine eventuelle Tradition in Sierra Leone (trotzdem kann es sie geben) und verfasst den Bericht. Die Vielzahl der Fährten, die er nahelegt (man wird ihm ganz sicher sagen, dass er zu viel macht), vermittelt ihm ein Gefühl der Befriedigung und der Pflichterfüllung, und er schließt die Tür zu seinem Büro ein bisschen spät, doch mit der Gewissheit, dass er auf diesen Fall nicht mehr zurückkommen muss. Selbst der Umstand, im Flur dem grässlichen Nörgler zu begegnen, der ihm ein Na, manche haben wirklich Glück, dass sie ihr Nickerchen machen können, wenn die anderen arbeiten, Privilegien, Privilegien zuruft, kratzt seine gute Laune nicht an.

Im Auto fühlt er sich erleichtert, dass er sich Irène vom Hals geschafft hat (mögen die Schakale ihre Leber fressen), das Leben ist ohnehin schwierig genug – übertreiben wir mal nicht, sein Leben ist nicht sonderlich schwierig, aber gut, immer die Frage nach dem Rumoren der zu brutalen Welt. Von sich selbst und seinem Ärger kann man sich befreien, aber von den anderen, von der Welt: schon viel komplizierter. Er lebt so zurückgezogen, dass er bisweilen den Eindruck hat, im Abseits zu stehen, abseits der Dinge, der anderen, der Informationen. Geschützt im Grunde. Manchmal vermutet er, dass das nicht das wahre Leben ist. Das zumindest hat ihm Zélie immer gesagt. Du siehst nichts, wetterte sie. Aber was er alles hört!

Er hat gerade noch Zeit für die tägliche Siesta, bevor Jeanne kommt. Kaum sind die Vorhänge aufgezogen, fällt ein Lichtstrahl auf das Bett. Sollte der Regen womöglich aufgehört haben? Er erkennt das wunderbare Plappern einer Amsel. Sehr viel weiter entfernt, vielleicht vierhundert Meter, eine Landwirtschaftsmaschine. Die Hunde des Nachbarn schwatzen. Die Mäuse laufen auf dem Dachboden herum. Alles ist in Ordnung. Ja, genau. Sicher ist es ziemlich schwierig, seine Sachen und Möbel in eine Jurte zu räumen. Gut. Den Ton abstellen, in sich abtauchen, die angenehme Müdigkeit kommen lassen, langsam davongetragen werden. Er wird Jeanne sagen, es ist jetzt entschieden, er wird ihre Mutter besuchen.

09

Es ist jetzt entschieden, er wird ihre Mutter besuchen, sagt er zu ihr. Sie versteht nicht recht weshalb. So will es die Höflichkeit, man muss den Eltern der Kinder, mit denen man Umgang hat, vorgestellt werden.

— Ach ja? Hast du mit vielen Umgang?

Er gibt zu, dass sie das einzige Kind ist, mit dem er befreundet ist.

— Ich frage mich, ob du nicht genau dem Wort entsprichst, das mein Vater mir letztes Mal zu erklären versucht hat: Formalist. Würdest du sagen, du bist ein Formalist?

Er lacht schallend.

Wenn es was gibt, das sie mag, stößt sie in einem einzigen Wortschwall hervor – abgesehen davon, dass er sie Äffchen nennt, also das mag sie wirklich furchtbar gern –, dann ist es sein beglücktes Lachen, wenn sie ihn mit den Wörtern ihres Vaters überrascht. Sie ist ehrlich, erklärt sie ihm, weil sie ihm verraten hat, dass sie diese Wörter nicht allein findet, sie versucht nicht, schlauer zu wirken, als sie ist. Auf Eines ist sie stolz, ja, das kann sie ihm erzählen, weil es ihr eingefallen ist, als sie vorhin auf den Hörsitzen gearbeitet haben: auf die Sprache der Geräusche, die sie erfunden hat, als sie klein war. Anfangs benutzte sie diese Sprache nur, wenn sie im Bett lag, beim Aufwachen und abends, vor dem Einschlafen. Sie identifizierte im Haus die Stimme ihrer Mutter, das Radio, die Insekten und andere Krabbeltiere, ärgerte sich aber, andere Geräusche, die sie entlang der Rohre und auf dem Dach, hinter den Scheiben, in der Abend- oder Morgenluft wiedererkannte, nicht benennen zu können, tausend Klänge, die ihr inzwischen vertraut waren, obwohl sie ihnen weder einen Ursprung noch einen Namen geben konnte. Wozu war es gut, so viel zu hören, wenn sie keine Wörter hatte, um das zu benennen – es für sich zu benennen? Deswegen hatte sie diese Sprache erfunden, die sich im Lauf der Zeit um Geräusche des hellen Tages erweiterte. Oft vergaß sie den Namen eines kurzen Geräuschs, das sie nie wieder gehört hatte, oder sie hatte noch den Namen, aber nicht mehr die Erinnerung an den Klang. Kruitsch, Zblunn, Zzzirett und das Traiern zählten zu den Klassikern: sehr häufig. Aber das Ruihs hatte sie nur ein einziges Mal gehört, und sie erinnerte sich nicht mehr, wie es geklungen hatte. Das ist ihr vorhin wieder eingefallen, und sie hat zwar eifrig gearbeitet, damit er den Mut nicht verliert, aber gleichzeitig hat sie sich amüsiert, mit geschlossenen Augen Namen für die Geräusche des Waldes zu erfinden, die sie wiedererkannte.

— Jetzt muss ich dir was gestehen: Als du mir gesagt hast Gut, ich weiß nicht, was du genau meinst, aber bist du wirklich sicher, die drei Geräusche zu identifizieren? und ich dich beruhigt habe – also, da war ich in Wirklichkeit überhaupt nicht sicher. Als du gesagt hast: Volltreffer! Ich glaube, ich höre dieses rzhu und dieses tscheh wie du, war ich zufrieden, und doch … es ist so schwer, sich über das Hören auszutauschen. Was man sieht, kann man zeigen, aber was man hört?

— Du hast recht: Es fehlt uns an Wörtern, um es zu erklären, und dadurch weiß man nicht, was der andere gehört hat.

— Aber warum? Das ist doch seltsam, oder?

— Vielleicht, weil man lange Zeit nicht in der Lage war, Geräusche festzuhalten? Einen Gegenstand konnte man immer schon nach Belieben betrachten und beschreiben oder sogar malen – während ein Geräusch flüchtig ist, man kann es nicht lange genug wahrnehmen, um die Worte dafür zu finden. Aber gerade unter diesen Bedingungen zu versuchen, sich über das Hören auszutauschen, ist doch ziemlich schön, oder?

— Sehr schön. Und das unglaubliche Geschenk, das du mir versprochen hast, die Große Stille? Du hast gesagt, du würdest mich die Leere hören lassen, überhaupt keine Töne mehr, totale Stille. Ich kann das einfach nicht glauben.

Dass alle äußeren Geräusche ausgesperrt sind – diesen Zustand kennt sie nicht. Den Kopf unter dem Kissen, die Finger in den Ohren, das ja. Aber der Lärm geht durch alles hindurch, er schleicht sich heran, dringt ein, verformt sich – und hält inne. Die Große Stille – wirklich?

— Du wirst sehen.

Als sie in den Weiler kommen, von wo aus sie jeden Abend zu Fuß nach Hause geht, bittet er sie, ihrer Mutter Bescheid zu geben, dass er sie am nächsten Tag besuchen werde. Weiß die Dame überhaupt von seiner Existenz? Nein. Warum?

— Hab ich dir doch gesagt: zu aufdringlich.

Erstaunt verzieht er das Gesicht.

— Du siehst mich an wie jemand, der keine aufdringliche Mutter hatte, das ist alles.

Er besteht darauf, dass sie morgen dieses Treffen organisiert mit … – wie heißt sie eigentlich?

— Jaumette. Ja, schon gut, schon gut, ich weiß, wir haben alle Vornamen mit J. Tja, siehst du, genau das gehört eben zu ihrer Art, aufdringlich zu sein – dass sie mir einen Vornamen verpasst hat, der ihrem ähnelt. Und das Schlimmste weißt du noch nicht mal, aber das darf ich dir nicht sagen.

— Und du hast mir nicht gesagt, was sie von Beruf ist.

— Musikerin.

— Musikerin! Was für eine Ohrenfamilie! Welches Instrument?

— Geige. Sie spielt im Orchester der Region. Gut. Ich sage ihr nachher, dass du morgen vorbeikommst.

Sie zögert, aus dem Auto zu steigen, sie hat noch etwas zu sagen. Neugierig wartet er ab. Dann traut sie sich. Macht es Jodel Spaß, zu schwindeln oder etwas zu verheimlichen? Niemals. Aber vielleicht braucht er sich ja nie zu schützen? Denn in vielerlei Hinsicht ist die Situation eines Erwachsenen einfacher, hat sie häufig gedacht. – Genau. – Aber weniger aufregend. – Ohne jeden Zweifel. Also sie belüge regelmäßig ihre Mutter, ohne Schuldgefühle (zu aufdringlich) und sogar mit großer Freude. Sie erzähle ihr die unmöglichsten Sachen, wirklich zum Totlachen. Vor allem natürlich solche, die mit dem Hören zu tun hätten. Und Jaumette, die sehr wohl ein besonderes Ohr bei ihrer Tochter bemerkt habe, ohne aber zu ermessen, wie besonders, lasse sich auf den Arm nehmen. Im Übrigen sei es Jodel gewesen, durch den sie sich überhaupt erst ihres seltsamen Hörvermögens bewusst geworden sei. Bevor sie ihn getroffen habe, habe sie nur gewusst, dass sie nicht wie die anderen hört, ohne aber irgendetwas Genaues zu diesem Thema zu denken. Jetzt wisse sie es: Hyperakusie.

— Jetzt, wo ich dir von meiner Freude am Schwindeln erzählt habe, darfst du mich bei meiner Mutter natürlich nicht verraten.

— Kein Wort.

— Hm! Die Erwachsenen sind manchmal so blöd solidarisch. Ich weiß noch nicht, wie weit ich mich auf dich verlassen kann.

Er lacht, als sie aussteigt.

— Ach, sagt sie erstaunt, der Himmel ist heute Abend endlich wolkenlos.

10

Der Himmel ist heute Abend endlich wolkenlos, und er erkennt schon von weitem die Gestalt, die ihn vor seiner Haustür erwartet. Seine erste Regung (Schwanzflossenklatschen eines silbrigen Fischs, der entwischt) ist große Freude.

— Grüß dich, Bulle.

Jodel hört in der rechten Tasche des Besuchers das Prickeln eines Getränks mit Kohlensäure und in der linken das Quietschen. An der Mauerecke verstummt eine Grille.

— Grüß dich, Mongole. Ich heiße Jodel.

— Nenn mich Ulan.

Während Jodel ihm so selbstverständlich die Tür öffnet, als wären sie verabredet – Ich glaube, du hast noch ein bisschen Reis –, sagt er, er fühle sich eigentlich nicht wie ein Bulle, so wie er es versteht, und übrigens sei er auch keiner, er sei Ingenieur. Aber es wäre irgendwie lächerlich, ihm die Feinheiten der Verwaltungskategorien zu erklären.

— Du bist doch wohl nicht zu Fuß aus der Stadt zurückgekommen?

Er wärmt den Reis auf (kleiner rachsüchtiger Gedanke an Zélie) und erklärt ihm den Fall Irène Gaspard und die Arbeit, die er macht. Hält Ulan ihn für einen Knecht des amerikanischen Imperialismus, weil er hilft, die Entführung eines Kindes aufzuklären?

— Du stellst die Frage falsch. Das Problem ist nicht, was man konkret macht, sondern ob man drin ist oder nicht. Ich bin draußen und versuche, drinnen Chaos zu stiften.

Jodel lacht. Das ist etwas pauschal. Aber in Zeiten, wo sich in jedem Büro, an jeder Straßenecke und in jeder Fernsehsendung mindestens zwei bezahlte Rebellen und drei angestellte Aufrührer verbergen, ist ein so authentisch wilder und ungebundener Typ wie Ulan auf jeden Fall eine angenehme Überraschung. Allerdings steht keineswegs fest, dass er nicht tatsächlich gefährlich ist.

— Wie stiftest du denn Chaos?

— Das ist meine Sache.

— Beunruhigend.

— Nicht doch … Ich bin ein Schwadroneur. Ich rede und säe Sturm.

— Schwadroneur heißt aber etwas anderes.

Ein toller Plauderer ist er allerdings, sehr gut informiert, und seine – detaillierten – Nachrichten aus der Welt gehen von den Beziehungen zwischen China und Japan bis zum Vater aller Bomben.

— Das ist eine russische Bombe, so stark wie eine Atombombe, durch die Druckwelle zerstört sie in zwei Etappen.

— Hältst du dich für den Boten der Apokalypse?

— Nein, aber ich versuche dir zu erklären, dass deine Welt gerade zerbröckelt. Und da eh alles im Arsch ist, fördere ich den Untergang, indem ich die größten Chaosstifter eurer Welt unterstütze. Das Morgen gehört euch nicht mehr.

— Komm, nimm noch ein bisschen Reis. Ich bin sicher, Mongolen lieben Reis. Wo schläfst du denn in der Stadt?

— Willst du das wirklich wissen?

— Reine Neugier.

— Gib mir Reis, aber nicht zu viel. Du findest mich durchgeknallt, oder?

— Ein bisschen.

— Und du bist naiv, mein Guter.

— Es ist nett, dass du nochmal zum Essen zu mir gekommen bist.

— Ich mag dich eben.

Dann schweigen sie eine Weile. Das wundert Jodel nicht. Er weiß, dass Männer, wenn sie sich ihrer gegenseitigen Zuneigung versichern, danach stumm bleiben müssen, um den allzu gewichtigen Worten Zeit zu lassen, sich in der Nachtluft aufzulösen.

In diesen friedlichen Minuten denkt Jodel, dass Ulan vielleicht gar nicht so gefährlich ist, dass er vielleicht wirklich nur ein Schwadroneur ist. Er sagt es ihm.

— Ich bin einfach nur wütend, antwortet Ulan. Jeden Morgen wache ich wütend auf.

— Andere werden mit dieser Wut beim Aufwachen zu Serienmördern.

— Na siehst du, ich bin gar nicht so schlecht. Ihr merkt einfach nichts.

— Sag nicht ihr, wenn du mit mir sprichst.

— Doch! Du bist wie alle Bürger der Reichenwelt.

Und wieder legt er los: Jodel erfährt, dass die Russen und die Chinesen durch den Handel mit ihren Rohstoffen derart viel Geld haben, dass sie bald alle westlichen Banken und großen Unternehmen aufgekauft haben werden. Ulan sagt, das seien Staatsfonds, und die chinesischen beliefen sich aktuell auf Tausende Milliarden Dollar – Das sind Summen, die mir gar nichts sagen: zu riesig – und mit diesem Geld kauften sie gewaltige Beteiligungen an den Unternehmen, mit denen sie bald die Politik im Westen beeinflussen würden.

— Ist das klar? Ihr habt zwar die Weltwirtschaft, so wie sie jetzt existiert, erfunden, aber die anderen haben das Geld, deswegen sind sie bald die Herren in eurem Haus. Die Globalisierung, die euch solche Angst macht, wird von diesen Riesenmächten untergraben, die dabei sind, die Macht zu übernehmen, und dann werdet ihr euch nach der ungeordneten Freiheit des Marktes zurücksehnen. Ich sage dir, sogar eure Ängste sind falsch, und ihr seid auf dem Baumweg.

— Wir sind auf dem Holzweg, dem Holzweg. Ich frage mich, ob ich ein guter Gesprächspartner für dich bin … Noch ein bisschen Reis?

— O nein, ich glaube, jetzt reicht es.

Jodel denkt an die Lichtung des Großen Lauschens, an die drei Turmfalken, die ihm in letzter Zeit mächtig auf die Ohren gegangen sind, weil sie so nah bei seinem Haus schreien (am Anfang war es nur einer in einer benachbarten Scheune, er hatte ihm zugesehen, wie er zwei Junge fütterte, deren Fell so flauschig war, dass sie dicker aussahen als die Mutter, er weiß nicht, ob die drei jetzt diese Familie sind oder eine neue Ménage à trois, er denkt an die Diskrepanz zwischen der Welt und seinem Leben, dabei hört er genau zu, er hat das Gefühl, ständig dem Rumoren der Welt zuzuhören, aber das reicht nicht. Es ist ihm fast unmöglich, sich die aktuelle Welt vorzustellen, sich ein Bild von ihr zu machen. Ja, genau. So viele Länder, Kontinente mit ihren Besonderheiten, von denen er höchstens das Kräuseln an der Oberfläche wahrnimmt, die alle in politischen, ökonomischen, psychologischen Interaktionen gefangen sind, von denen er nicht mal die Hälfte begreift (ein Viertel, wenn er ehrlich ist) – und die, wer weiß? vielleicht auch einer persönlichen, irrationalen Logik gehorchen, wie die Menschen. Gibt es im Kollektiv vielleicht etwas Persönliches? Bei den Nationen etwas kollektiv Irrationales? Das sagt er Ulan, der nickt.

— Ich kann es auch nur schwer entschlüsseln. Dabei denke ich an nichts anderes.

— Unmöglich, die Siriusperspektive einzunehmen.

— Was heißt das?

— Eine erhöhte Perspektive, entfernt und objektiv, weil distanziert.

— Weißt du, dass die Chinesen – runzle nicht die Stirn …

— Du denkst wirklich an nichts anderes.

— … dass die Chinesen eine Forschungssonde zum Mond geschickt haben? Glaubst du, das ist für irgendwas gut?

— Ich weiß nicht. Die Amerikaner haben es auch schon gemacht.

— Das ist für gar nichts gut. Nur um Eindruck zu schinden und um euch zu zeigen, wie groß der Fortschritt der chinesischen Technologie und Wissenschaft bereits ist.

— Also, wo schläfst du nun in der Stadt? Das beschäftigt mich.

— Sieh mal an! Du willst es also wissen. In den Quatre Chemins.

— Wo ist das?

Wenn man vom Süden in die Stadt kommt, fährt man durch ein Industriegebiet, da steht ein leeres Fabrikgebäude – er weiß, dass es eine Fabrik war, typische Hässlichkeit des Gebäudes, im Erdgeschoss noch Ölflecken –, man geht eine Art Rampe hoch, die in einer Spirale ins Obergeschoss führt, da ist eine große Betonfläche, die wohl mal der Parkplatz war. Ganz hinten acht oder zehn Räume, sicher frühere Büros.

— Dort sind wir.

— Dort seid ihr?

— Ich und andere wie ich.

— Wie hast du das gefunden?

— So was weiß man in unserer Welt. Man kennt die Anlaufzonen.

— Anlaufzonen? … Anlaufstellen vielleicht?

— Sicher. Willst du kommen?

Will er kommen? Gute Frage. Beim Gedanken an die Quatre-Chemins wird ihm eher schwindlig. Zweifellos eine Zone. Er erinnert seinen Gast daran, dass er Ingenieur ist, dass er ein Bäuchlein hat, dass er nah am Wald lebt, ganz in Ruhe, und dass er in Sachen Kampfsport wenig Talent hat. Ulan sagt, er werde ihn beschützen. Das mindert seine Sorge nicht gerade: Er braucht also Schutz? Ulan erklärt, es handle sich um ein geschlossenes Milieu, misstrauische Leute, die zu Verschwiegenheit neigen, aber er ist überzeugt, dass Jodel ein paar sehr spezielle Exemplare mögen würde, die er ihm vorstellen kann.

— Exemplare?

— Kommst du oder nicht?

Jodel hört vorsichtige Schritte nahe beim Haus, jemand läuft da draußen herum, bleibt vor dem Wohnzimmerfenster stehen, von wo er wohl beobachtet, ohne sich zu rühren. Ein Vagabund? Oder ein Besucher aus der Anlaufzone? Die Stimme seines Gastes rutscht in den Hintergrund, er konzentriert sein Gehör auf diese Präsenz.

Der Neugierige rührt sich ein paar Minuten nicht. Er ist nicht allein. Jodel vernimmt das leichte Hecheln eines Hundes. Die Luft wird dichter. Ulan redet, der Neugierige beobachtet, der Hund hechelt, Jodel lauscht. Die Wirklichkeit gleicht kaltem Aspik. Hundert lange Sekunden später entfernen sich die Indiskreten lautlos, und ihre Schritte verlieren sich. Was wollten sie? Ein Herumtreiber und sein Gefährte? Oder war Ulan das Ziel dieser nächtlichen Aufmerksamkeit?

Seine letzten Gedanken, bevor er in den Schlaf sinkt, gehen zu den Quatre-Chemins, zu den Exemplaren und zu der Antwort, die er morgen auf die Einladung geben wird. Schon seltsam, man lebt in einem friedlichen Weiler, an einem dieser Orte, wo schon ein ungeordneter Vogelflug als Unruhe gelten kann (vor allem früh am Morgen, aber auch wenn niemand da ist – zumindest wenn die Vögel das glauben), und nun häufen sich die Besuche. Erstaunliche neue Freunde. Dabei ist er doch ein ruhiger Mensch. Geht er hin? Geht er nicht hin?

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