Kitabı oku: «Das Schweigen der Familie», sayfa 2
Mittwochabend, 12. Juni
Die zehn Passagiere stiegen aus und wurden von der halben Insel interessiert willkommen geheißen. Es war früher Abend und man hatte offensichtlich Zeit. Ein vierzigjähriger Mann mit Krawatte und einem sympathischen Gesicht, das von dunklen Haaren eingerahmt war, kam auf Baptista zu. »Bem-vindo in Corvo. Sie müssen Senhor Baptista sein. Ich freue mich, Sie im Namen des Bürgermeisters willkommen zu heißen. Mein Name ist Delgado, Teo Delgado. Aber kommen Sie, ich bringe Sie zu Ihrem Zimmer.« »Sehr erfreut«, hustete Baptista. Sie gingen einige Schritte zu Delgados Wagen, einem einfachen Seat. »Ich hoffe, Ihr Flug war angenehm.« Wieder verfiel Baptista in einen Hustenanfall. Er hatte das Gefühl, kaum noch atmen zu können. »Danke, der Flug war gut. Ich benötige etwas für meine Erkältung. Wo gibt es denn einen Arzt?« Sie fuhren seit drei Minuten. Senhor Delgado hielt an. Baptista dachte, er habe eine falsche Frage gestellt. »Wir sind da«, seufzte Delgado, als wären sie seit Stunden unterwegs. »Einen Arzt gibt es erst übermorgen. Er kommt zweimal die Woche aus Flores. Bis dahin müssen Sie mit Kamillentee vorliebnehmen.« Corvo besaß ein einziges Hotel, das Casa de Hóspedes. Senhor Delgado – Dezernent für außergewöhnliche Angelegenheiten – wie er sich vorstellte, brachte ihn jedoch zu María Lancha, die ein Haus direkt neben dem Rathaus besaß. Sie stiegen aus. Delgado klopfte an die Tür und trat dann ein. Er rief etwas in das Haus hinein. Die Treppe knarrte und eine alte Dame, Senhora Lancha, stand vor ihnen. Sie begrüßte Delgado überschwänglich und beäugte Baptista misstrauisch. Schließlich entschied sie sich, ihm die Hand zu geben.
»Sie sind also der Polizist?« Senhora Lancha machte keinen Hehl aus ihrem Misstrauen. »Der arme Francisco. Nun soll ihm Gerechtigkeit widerfahren.« »Baptista. Sehr erfreut.« »Ihr Zimmer ist im ersten Stock.« Die beiden Männer folgten ihr die knarrenden Stufen hinauf. In einem sehr einfachen, aber sympathischen Zimmer stellte Baptista seinen Koffer ab. Er fühlte sich schrecklich und plante sich ins Bett zu legen. »Kommen Sie doch gleich mit. Meine Frau hat uns etwas zubereitet. Dabei können wir auch für morgen das Wichtigste besprechen.« »Ich fühle mich schrecklich«, meinte Baptista. Die Gesichter von Delgado und Lancha klappten schlagartig nach unten. Er hatte wohl eine ungehörige Beleidigung ausgesprochen. Er räusperte sich kurz. »Geben Sie mir fünf Minuten. Ich komme dann runter.« Die Gesichter der beiden hellten sich auf. »Sehr schön.« Die Tür fiel ins Schloss. Baptista fiel auf das Bett. Ihm wurde schwarz vor Augen. Er hatte fiebrigen Schweiß auf der Stirn. Sein Brustkorb war ein einziger Schmerz. Er kramte einige Aspirin heraus und nahm zwei auf einmal. Durch das Fenster hörte er die Stimmen von Delgado, Lancha und zwei weiteren Personen. »... nicht richtig, dass ein Fremder hier rumwühlt.« »... unser Geheimnis ...« »Die interessiert doch gar nicht, was mit uns geschieht. Am besten reist er schnell wieder ab.« »... endlich hat es den Richtigen getroffen ...« Baptista ging vorsichtig ans Fenster und versuchte zu erkennen, mit wem Delgado und Lancha redeten. Das kleine Fenster ließen jedoch keinen Blick auf das Grüppchen zu. Das kann ja heiter werden, murmelte Baptista in seinen fiebrigen Kopf hinein. Rasch wechselte er das Hemd und ging nach unten. Sobald die Treppen knarrten, verstummten die Stimmen. Delgado saß scheinbar wartend in seinem Auto. Senhora Lancha zupfte alte Blumenblätter.
»Steigen Sie ein. Das Essen wird Sie wieder aufpäppeln«, rief ihm Delgado zu. Du falscher Hund, dachte Baptista. »Gerne. Danke.« Er stieg ein und sie fuhren um zwei Straßenecken herum in die Rua da Fonte, wo sie vor einem einfachen Haus ausstiegen. An der Fassade blätterte Farbe ab und der Vorgarten war vollkommen ungepflegt. Als sie eintraten, sah Baptista jedoch sofort, dass sich der schlechte Eindruck lediglich auf die Fassade bezog. Der Innenraum war hervorragend eingerichtet und hatte beinahe etwas Luxuriöses. Senhora Delgado eilte ihm aus der Küche entgegen. Sie war umgeben von einem appetitanregenden Duft. »Sehr erfreut. Setzen Sie sich doch. Mein Mann serviert Ihnen einen kleinen Aperitif.« Ein scharfer Seitenblick zu ihrem Mann zeigte deutlich, wer in diesem Haus die Entscheidungen traf. Baptista konnte es nicht vermeiden, einen Blick auf das runde Hinterteil von Senhora Delgado zu werfen. Wie die meisten Frauen auf den Azoren war sie üppig und strahlte dadurch eine große Lebensfreude aus. Trotz seines fiebrigen Zustandes fühlte Baptista die Anziehungskraft, die Senhora Delgado auf ihn ausübte.
»Was möchten Sie, Senhor Baptista? Einen Maracujalikör?« Baptista wollte eigentlich nichts Alkoholisches. Doch als er den erwartungsvollen Blick von Delgado sah, stimmte er zu. »Man hat mir erzählt, dass es auf Corvo noch nie einen Mord gegeben hat. Stimmt das?« »Noch nie. Ich weiß nicht, ob Sie sich die Bestürzung hier überhaupt vorstellen können. Hier kennt jeder den anderen. Etwas mehr als dreihundert Personen leben hier. Wir stammen alle von zehn Familien ab. Durch Heirat sind die meisten miteinander verwandt. Auf dieser Insel gibt es noch nicht einmal Schlösser an den Türen.« »Das ist mir schon aufgefallen. Ich dachte aber, das sei eine Ausnahme.«
»Nein, nein. Niemand schließt seine Tür ab. Wozu auch? Warum sollte ich meiner eigenen Familie etwas stehlen. Hier müssen alle zusammenhalten. Wir sind eine kleine Herde auf einem brodelnden Vulkan. Gott schütze uns.«
»Normalerweise arbeite ich in Berlin und Brüssel, wie sie vielleicht wissen. Dort geschehen in jedem Stadtviertel jährlich dutzende Morde. Sie leben hier im Paradies.« Dann verfiel Baptista in einen Hustenanfall. Er sprang auf und suchte im Bad, das er zum Glück gleich fand, einen Moment Ruhe. Er schüttete sich Wasser ins Gesicht und stand auf seinen zittrigen Beinen eine Weile ruhig da. Wie soll ich das bis übermorgen schaffen, dachte er. »Alles in Ordnung?«, fragte die Senhora und klopfte leise an die Tür. »Ja. Bin gleich soweit.« Offensichtlich war er schon einige Minuten im Bad gewesen. Er riss sich zusammen und ging wieder ins Wohnzimmer. Senhora Delgado blickte ihn mit einem besorgten, warmen Blick aus ihren großen Augen an. Jao Baptista verschwand in diesem Blick, wurde aber jäh wieder herausgerissen, als Senhor Delgado einen Salat mit grünen Tomaten und einen duftenden Eintopf aus der Küche hereintrug. »Seit ich aus Berlin fort bin, hat mich eine elende Erkältung gepackt«, erklärte Baptista sein Verbleiben im Bad. »Da ist der Eintopf genau das Richtige. Aber zuvor nehmen Sie doch etwas Salat.«
Baptista nahm sich von den grünen Tomaten. Sie sahen nicht besonders schön aus. Und die Senhora hatte sich auch keine Mühe gegeben, die Tomaten irgendwie anzurichten. Lieblos, ging ihm durch den Kopf. Zwischen den Tomatenstücken fand er eingelegten Tintenfisch. Als er jedoch den ersten Bissen im Mund hatte, erfüllte ein wunderbares Aroma seinen Gaumen. Gartenfrisch und mit einer nussigen Note betörte der Salada de Polvo seinen Geschmack. Abgerundet durch einen Schluck Rotwein hätte er in diesem Moment sich nichts vorstellen können, das er lieber hätte essen mögen.
Danach erweckte der Eintopf bei Baptista einen vergleichbaren Eindruck. Farbe und Konsistenz waren beinahe unappetitlich. Nichts, das man einem Gast vorsetzen würde. Der Geschmack zarter Möhren und Zwiebeln, von deftigem Kohl, aromatischen Kartoffeln und Speck, bestreut mit frischen Kräutern, ergab jedoch einen unnachahmlichen Geschmack. Baptista dachte, dass das Essen ein wenig wie die Häuser auf Corvo sei: verfallene Fassade, aber wunderbares Innenleben.
Während des Essens war es recht still. Baptista blickte verschämt zu Senhora Delgado hinüber und bekam einige feurige Blicke als Antwort. Senhor Delgado schien mit dem Essen und dem Wein beschäftigt. Niemand wollte über den Mord sprechen. So beschränkte man sich auf Themen wie Wetter und Weinanbau. Letztlich wussten aber alle, dass es um ein unappetitliches Ereignis ging. Zusammen mit einem Schnaps wurde als geschmackliche Krönung ein Maçãs assadas, ein Bratapfel, serviert. Und erst nach dem Schnaps entstand ein ungezwungeneres Gespräch. Baptista fragte: »Was hat es eigentlich mit diesem Vulkan hier auf sich? In allen Reiseführern wird er erwähnt.« »Der Vulkan und wir, wir gehören zusammen. Den Krater nennen wir Corvianer nicht wie die anderen Bewohner der Açores Caldeira, sondern Caldeirão. Diese Insel ist ein Vulkan. Wir lieben ihn und verehren ihn. Er ist alles, was wir haben. Wissen Sie, Senhor Baptista, unser Leben hier ist sehr einfach. Wir bauen etwas Gemüse an und werden von Touristen besucht. Der Vulkan gibt uns guten Boden und er sorgt dafür, dass die Touristen kommen.« »Kann er denn nicht eines Tages ausbrechen?« »Das weiß nur Gott. Bis dahin ernährt er uns.« Baptista spürte, wie nach dem Wein und dem guten Essen seine gesamte Lebensenergie in Richtung Magen floss und für den Rest nichts mehr blieb. Er wurde stark fiebrig und konnte die Delgados nur noch schemenhaft erkennen. Senhor Delgado fuhr ihn dann zu seinem Zimmer.
Baptista ließ sich in seinen Kleidern auf das Bett fallen. Von unten hörte er wieder Stimmen. »Wenn er es herausfindet ... wir müssen Luìs warnen ...« Er war sich jedoch nicht sicher, ob er alles nur in seinem Delirium fantasierte. Mitten in der Nacht schreckte er auf. Etwas berührte ihn im Gesicht. Er fuchtelte panisch herum, bis er schließlich merkte, dass es sein umgeklappter Hemdkragen war. Baptista mühte sich auf. Seine Kleider waren durchnässt. Er zog sich einen Schlafanzug an. Dann nahm er wieder zwei Aspirin und öffnete das Fenster. Eine sternenklare Nacht. In Berlin mochte er den Mond, auch wenn man ihn nicht so oft sah. Hier erschien er ihm unheimlich. Einige Fledermäuse gingen auf Jagd. Baptista schloss das Fenster und schlief unruhig wieder ein.
Donnerstagmorgen, 13. Juni
Am Morgen wachte er mit bestialischen Kopfschmerzen auf. Die Sonne schien auf seinen Kopf. Bereits eine kleine Drehung nach links verursachte einen Schmerz, als würde ein glühend heißes Eisen in seine Augen gebohrt. Wie spät war es? Er blinzelte auf seine Armbanduhr. Kurz nach neun. Er wollte früh aufstehen, um sich eine Strategie für den Tag zurechtzulegen. Wollte nicht Delgado um zehn kommen? Schon das Denken führte zu einem leichten Wummern in seinem Schädel. Er griff zu den Aspirin. Zwei Stück waren noch in der Schachtel. Baptista entschied daher, nur eine zu nehmen und die andere für den frühen Abend zu bewahren. Morgen sollte der Arzt kommen. Er zerbiss die Tablette und wartete, bis die Wirkung eintrat.
Dann stand er auf und machte sich fertig. Qualvoll. Als er angezogen die Türe öffnete, war er bereits wieder schweißgebadet. »Bom dia«, begrüßte ihn die Dame des Hauses überschwänglich. »Einen Galão?« »Obrigado«, murmelte Baptista. »Ein herrlicher Tag, nicht wahr?« Baptista überhörte den Satz einfach. Als Kaffee und Milch seinen Hals hinunter rannen, begann er sich etwas besser zu fühlen. Senhora Lancha ließ sich nicht entmutigen: »Eine Cousine von mir lebte in Furnas auf São Miguel. Dort bin ich rettungslos den Bolos Levados verfallen, die sie in den nächsten Tagen hier zum Frühstück bekommen. Guten Appetit!« Baptista wollte noch immer nicht sprechen. Er biss in einen kleinen Bolo und spürte trotz seines schon wunden Halses ein angenehmes Gefühl. Dann kam auch schon Delgado. Nun krächzte Baptista auch sein »Bom dia.« »Wo fangen wir an?«, fragte Delgado. »Mit dem Ort des Geschehens. Wir sollten uns die Fundstelle ansehen. Danach möchte ich gerne mit der Familie von Francisco Amaral sprechen.« Sie stiegen in den Wagen und fuhren höchstens zwei Minuten zum Hafen. Auf der Hafenmauer saßen bereits die älteren Dorfherren und beäugten interessiert, wie die beiden ausstiegen.
»Wir haben insgesamt drei Häfen auf Corvo. Da gibt es einmal den alten Hafen Porto Novo. Er wird jedoch nicht mehr als Hafen benutzt. Eigentlich schwimmen wir und die Touristen nur noch darin. Hier stehen wir am Casa. Er ist am wenigsten geschützt. Aber die Mole entspricht modernen Anforderungen und da drüben gibt es sogar einen kleinen Kran.« Delgado wies nach rechts. »Naja, und dann gibt es noch den Fischerhafen de Boqueirao. Aber außer für kleine Boote ist er nicht zu gebrauchen.« Delgado grüßte einen Bekannten in einer Bar nebenbei. »Ein Cousin von mir. Kommen Sie. Hier an der äußeren Mole hat man Francisco gefunden.« Delgado parkte das Auto gegenüber der Gruppe alter Männer. Als sie ausstiegen, waren sie gezwungen an den Herrschaften vorbei zu gehen. Während Delgado allen freundlich zunickte, kam sich Baptista wie unter einem Mikroskop vor. Nicht dass er solche Situationen nicht kennen würde. Im Gegenteil, sie waren typisch für seinen Beruf. Aber er hatte auch nach über zwanzig Jahren keine Routine entwickelt. Jeder Tote stürzte Baptista in tiefe Trauer und die Beobachtung von Fremden verursachte Unbehagen. Damit lebte er und seine Gesundheit musste es ausbaden.
Delgado führte ihn zu einer niedrigen Hafenmauer. Kleinere Fischerboote hatten dort festgemacht. Obwohl die Boote verwittert wirkten, machte das Hafenbecken einen romantischen Eindruck auf Baptista. Vielleicht war es auch einfach die Vorstellung, auf einer winzigen Insel mitten im Atlantik zu sein. Dennoch brannte die Sonne dermaßen intensiv auf seinen mit Schmerzen angefüllten Kopf, dass ihm selbst keine Sekunde romantisch zu Mute war. »Stellen wir uns einige Fragen«, begann Baptista die beruflichen Überlegungen. »Kann der Mord hier geschehen sein? Und wenn nicht, wie gelangte die Leiche hierher?« »Als Todeszeitpunkt wurde Mitternacht angegeben. Um die Zeit ist hier niemand auf der Straße. Allerdings liegen um den Hafen herum einige Häuser. Dort hätte man sicher die Schreie gehört.« Baptista ließ seinen Blick schweifen.
Am Hafen waren die Fassaden besser gepflegt als etwa in Delgados Straße. Die Wände leuchteten weiß, Türen und Fenster waren in strahlendes Blau gefasst. Es gab drei kleinere Bars, die die Fischer und andere mit dem Wichtigsten versorgten. Wie kann man in so einer Umgebung einen Mord begehen, fragte sich Baptista. Möglicherweise gab es ein wirklich perfides und sadistisches Gehirn, das den Mord detailliert geplant hatte. Dann hätte er das Opfer betäubt und mit einem Wagen hier her gebracht, um es vor allen Augen in den Hafen zu werfen. Baptista erschien das völlig unglaubwürdig. Das sind Methoden der organisierten Kriminalität, die auf Corvo wohl nicht zu finden ist. Und überhaupt: Warum sollte man sich auf einer fast unbewohnten Insel ausgerechnet den Hafen für ein Verbrechen aussuchen? »Kann es sein, dass die Leiche hier angeschwemmt wurde?«, fragte Baptista. »Möglich ist das auf jeden Fall. Sehen Sie dort.« Delgado wies auf einen dunklen Fleck, der mit einem Netz an der Hafenmauer befestigt war. »Das ist ein toter Hai. Er wurde erst gestern vom offenen Meer hereingeschwemmt. Allerdings müssen dafür die Strömungen günstig stehen. Der Golfstrom erzeugt einen ungeheuren Sog, der alles von den Inseln wegspült.« Baptista sah auf den toten Fisch und überlegte, ob Fische auch Schmerzen spüren konnten.
»Im Obduktionsbericht stand, dass er einige Stunden im Wasser lag. Tagsüber wäre es wohl ausgeschlossen, dass er diese lange Zeit unbemerkt blieb. Über Nacht ist das natürlich denkbar. Trotzdem: Ihn mitten im Hafen abzuwerfen erzeugt unnötige Aufmerksamkeit.« Bei diesen Überlegungen beließen es die beiden. »Kommen Sie. Ich bringe Sie nun zu seiner Frau.« Delgado lief in Richtung Wagen. Wieder wurden sie von den rund zehn älteren Männern argwöhnisch betrachtet. »Sag schon, Teo. Es war doch Pão. Das Schwein!« Baptista sah etwas erschrocken auf. Der Mann, der ihnen die Worte zurief, hatte ein verwittertes Gesicht. Tiefe Furchen zogen sich vom Mund nach unten. »Wer ist das?«, raunte er Delgado zu. »Ach, der alte Bastelio. Die Sonne hat sein Gehirn ausgetrocknet, als er einmal zu lange auf dem Meer blieb. Nehmen Sie ihn bloß nicht ernst.« »Und dieser Pão. Warum verdächtigt er ihn?« »Pão ist ein Einzelgänger. Er ist der Bruder von Francisco und tickt nicht mehr ganz richtig. Er wohnt am Rand des Kraters. Bei Vollmond zündet er ein Feuer an und tanzt laut schreiend herum. Die Leute glauben, er sei an allem Schuld.« Dann wandte sich Delgado an Bastelio. »Sag deinen Schafen einen Gruß. Und mach ihnen keine Angst mit deinen Geschichten.« In Bastelios Gesicht machte sich beinahe ein Lächeln breit. Die anderen gaben ein leises Gekicher von sich. Delgado und Baptista verließen mit dem Auto Vila Nova und fuhren ein Stück auf einem Feldweg, bis sie ein Haus erblickten.
Maria Grazia arbeitete im Garten. Sie hatte die einfache Kleidung der Bauersfrauen an und zupfte zwischen den Beeten das Unkraut. Unwillig hob die fünfzigjährige rüstige Frau den Kopf, als sie das Auto wahrnahm. Delgado reichte ihr die Hand. »Maria, gut, dass du da bist. Das hier ist Senhor Baptista. Er untersucht den Fall.« Mit großer Skepsis betrachtete Senhora Maria Grazia den Herrn aus Europa. »Wie soll ein Fremder denn helfen können?«, meinte sie wenig erfreut. Das fragte sich Baptista auch. Dennoch sagte er mit überzeugender Stimme: »Nun ja, ich werde mein Bestes tun. Und Senhor Delgado unterstützt mich ja auch tatkräftig. Hätten Sie ein paar Minuten Zeit für einige Fragen?« »Zeit, Senhor Baptista, davon haben wir auf Corvo im Übermaß. Man kann daran ersticken.« Baptista war überrascht über die unverhohlene Feindseligkeit, die Senhora Grazia gegen ihn zu hegen schien. Aber er hatte bei den Angehörigen von Mordopfern in seiner Laufbahn schon oftmals sehr überraschendes Verhalten erlebt. Vor Jahren wurde auf einer Hochzeit der Bräutigam in der Kirche von seinem besten Freund erschossen. Als Baptista die junge Witwe besuchte, gab sie ihm eine heftige Ohrfeige und begann zu weinen. Die ersten Reaktionen können eine gute Hilfe bei den Ermittlungen darstellen. Man musste sie allerdings richtig zu deuten wissen.
Sie gingen in das Haus. Von außen schien es beinahe zusammenzufallen. Im Wohnzimmer knarrten die nicht gut befestigten Fensterläden im Wind. Sie setzten sich an den Esstisch. Baptista hustete und hatte zum wiederholten Male das Gefühl, dass sein Brustkorb platzen würde. Maria Grazia machte nicht die geringsten Anstalten, ein Wasser anzubieten, geschweige denn, dass sie Mitleid zeigte. So stand Baptista kurz entschlossen auf und holte sich selbst ein Glas Wasser aus der Küche. Er atmete tief durch und ignorierte sein nassgeschwitztes Hemd. »Senhora Grazia, ich habe von Francisco nur aus den Akten gelesen. Was für ein Mensch war Ihr Mann?« »Francisco war mein Mann.
Das ist im Wesentlichen alles.« Die Senhora schwieg. Alle schwiegen. Schließlich durchbrach Baptista das Schweigen. »Nach einem Mord möchte man gerne alles vergessen. Könnten sie dennoch erzählen, wie er war?« »Den Mord vergessen? Ha. Ich wurde gezwungen ihn zu heiraten, als ich sechzehn war. Damals hatte ich am Frühstückstisch gesagt, ich wolle nach São Miguel und Jura studieren. Mein Vater ist blass geworden und warf ein Messer nach mir. Meine Mutter schrie hysterisch, und eine Woche später war ich verheiratet. Francisco war damals dreiundzwanzig Jahre und was das Wichtigste war: Er kam aus der Familie der Amarals. Vielleicht war Francisco kein ganz schlechter Mensch. Aber er benahm sich wie ein Tyrann. Ich habe ihm nie den Tod gewünscht. Aber das Gute in der Welt ist durch seinen Tod nicht viel weniger geworden. Und das sage ich als seine Frau. Punkt.« Baptista hatte sich ein kleines Notizbüchlein auf den Tisch gelegt und versuchte mitzuschreiben. Er stockte jedoch mehrfach, weil ihm so ungeheuerlich erschien, was Senhora Grazia sagte.
»Wann haben Sie ihn zum letzten Mal lebend gesehen?« »Er lag betrunken am Dienstagnachmittag im Bett. Zuvor hatte er versucht, mich mit einer Zaunlatte zu verprügeln. Aber ich kann mich wehren. Am Ende war er es, der mit blauen Flecken im Dreck lag. Ich habe ihn ins Bett geschleift und bin mit den Kindern zu meiner Schwester gefahren. Als ich am Mittwochmorgen wiederkam, war Francisco weg.« »Wo sind ihre Kinder denn jetzt?« »In der Schule, Senhor. Wir sind hier zwar in der Mitte des Ozeans, aber eine Schulpflicht gibt es trotzdem. Allerdings befindet sich die weiterführende Schule auf Flores. Ich hoffe, dass meine Kinder bald nach São Miguel zum Studieren gehen und das tun, was ich nicht durfte.« »Darf ich mich im Haus kurz umsehen?« »Aber fassen Sie nichts an. Ich mag es nicht, wenn Fremde meine Sachen berühren!«
Baptista war froh, dass er dem unangenehmen Gespräch entfliehen konnte. Als er das Wohnzimmer hinter sich hatte, hörte er wieder dieses Wispern, dass er schon von seinem Hotelzimmer her kannte. Er ging sehr langsam, damit sein Kopfschmerz auszuhalten war. Im Schlafzimmer sah er, dass die Kleider von Amaral zu einem großen Berg aufgetürmt waren. Sie hat keine lange Trauerphase gehabt, dachte Baptista. Zu kurz. Niemand hatte Francisco am Abend seines Todes gesehen. Sie hätte ihn hier töten können und irgendwo ins Wasser werfen. Er würde ihr zutrauen, soviel Hass zu empfinden. Die Kinderzimmer wirkten aufgeräumt. Er dachte, dass er auch gerne Kinder gehabt hätte. Warum hatten Menschen wie Francisco Kinder und er nicht? Ihm wurde schwindelig. Er stützte sich auf. Dann ging er wieder zu den beiden anderen. Als er sich dem Zimmer näherte, hörten sie schlagartig auf zu sprechen. »Ich muss Sie leider bitten, sich für weitere Fragen bereitzuhalten.« »Wenn Sie dafür das Unkraut jäten ...« Baptista war versucht zu lachen, doch dann verstand er, dass Maria den Satz ernst meinte. Sie gab ihm zum Abschied nicht die Hand.
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