Kitabı oku: «Die Magie von Winterhaus», sayfa 5

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KAPITEL 8
DIE STILLE NACH DEM STURM

Als Elizabeth kurz vor halb sieben zu Elanas Zimmer kam, wartete Norbridge bereits auf sie. Sie wollte gerne wissen, ob er irgendetwas über das Rumpeln herausgefunden hatte, einerseits, weil sie neugierig war, andererseits, weil sie das Gefühl hatte, dass sich durch dieses Thema die Anspannung, die vorhin zwischen ihnen geherrscht hatte, ein wenig auflockern würde. Aber Norbridge breitete einfach die Arme aus und drückte Elizabeth, die sich bereitwillig hineinwarf, an sich. Die beiden hielten sich eine Weile fest, dann öffnete Norbridge mit einem liebevollen Blick auf Elizabeth die Tür.

Elanas Zimmer wurde von einer kleinen Lampe auf dem Nachttisch neben dem Bett erleuchtet. Elizabeth war bestimmt schon ein Dutzend Mal hier gewesen, um Elana zu besuchen, aber so wie jetzt hatte sie das andere Mädchen dabei nie erlebt: Elana war wach, saß aufrecht im Bett unter ihrer Decke, den Rücken gegen zwei dicke Kissen gelehnt. Und nicht nur, dass ihre Augen geöffnet waren – sie las sogar ein Buch, Merkwürdiges aus dem Geheimarchiv der Mrs. Basil. E. Frankweiler. Und sowohl der Titel des Buchs als auch die Tatsache, dass Elana munter war, versetzten Elizabeth in Erstaunen.

«Ich liebe dieses Buch!», rief Elizabeth. Dann schlug sie die Hand vor den Mund. «Tut mir leid. Ich wollte nicht so laut reden.»

Elana legte das Buch mit einer zierlichen Bewegung auf die Bettdecke und betrachtete Elizabeth mit einem leidenden Blick. Sie sah aus wie eine steinalte Frau. Verschwunden waren das glänzende schwarze Haar, der lebhafte Blick und die glatte Haut, auf die Elizabeth früher so neidisch gewesen war. Elanas strahlende Jugend war den Zeichen des Alters gewichen: Ihr Haar war schütter und weiß und ihr Gesicht so faltig und eingefallen, dass Elizabeth sich unwillkürlich fragte, wie Elana es fertigbrachte, sich im Spiegel zu betrachten. Natürlich war es völlig in Ordnung, alt zu werden, dachte Elizabeth, aber der Sprung von einem zwölfjährigen Mädchen zu … so etwas, war schon ein Schock. Kein Wunder, dass Elanas Blick so erschöpft wirkte.


«Ich liebe das Buch ebenfalls», sagte Elana. Ihre Stimme klang genauso alt, wie ihr Körper aussah.

Norbridge atmete tief durch. «Ich dachte, Besuch würde dir guttun», sagte er zu Elana. «Und Elizabeth wartet schon seit Wochen darauf, dich sehen zu können. Vielleicht möchtet ihr beide …»

Noch bevor Norbridge den Satz beenden konnte, rannte Elizabeth zum Bett und schlang die Arme um Elana. Minutenlang verharrten beide ganz still in ihrer Umarmung. Als sich Elizabeth schließlich von dem anderen Mädchen löste, schaute Elana sie nur an. Immer noch sagte keine von beiden ein Wort.

«Möchte jemand ein Flurschen?», fragte Norbridge und zog eine Tüte mit den Süßigkeiten aus seiner Tasche. Elizabeth lachte, Elana lächelte, und die Stimmung entspannte sich ein wenig.

Elizabeth setzte sich auf das Bett. «Das alles tut mir so wahnsinnig leid.»

«Ich bin diejenige, die sich entschuldigen müsste», sagte Elana. «Ich wollte dich so oft vor den Gefahren warnen, davor, was meine Tante und meine Eltern vorhatten.»

«Du konntest dich schlecht gegen deine Familie stellen», sagte Norbridge sachlich. «Das verstehen wir. Jeder würde das verstehen. Es war eine unmögliche Situation, und du solltest dir keine Schuld geben.»

«Sie wussten alles über Winterhaus», sagte Elana. «Aus den Geschichten, die man sich seit Jahren in unserer Familie erzählt. Daher kannten meine Eltern auch das Buch und die Gänge, und so hat Tante Selena uns dazu gebracht, ihr zu helfen. Was sie uns alles versprochen hat! Und Gracella hat uns allen Angst gemacht. Ich hatte das Gefühl, dass ich gar nicht Nein sagen konnte.»

«Bitte, du musst dich nicht rechtfertigen», sagte Norbridge und ließ die Tüte mit den Flurschen spielerisch von einer Hand in die andere wandern. «Was passiert ist, ist ein schreckliches Unglück. Und ich bin sehr betroffen darüber, wie deine Eltern reagiert haben, dass sie einfach auf und davon sind. Dich trifft keine Schuld.»

Elanas müde Augen wanderten zu dem Buch auf ihrem Schoß. «Ich weiß», sagte sie leise.

«Wir werden dir helfen», sagte Elizabeth und nahm Elanas Hand. «Ich weiß noch nicht wie, aber wir lassen uns etwas einfallen.» Sie schaute ihren Großvater an. «Nicht wahr, Norbridge?»

Elana legte den Kopf schräg und blickte ebenfalls zu ihm hin. «Was könnten Sie denn tun? Ich weiß, dass niemand …» Sie hob stumm die Hände und starrte sie an, als ob sie nicht ihr gehören würden. Dann ließ sie sie wieder sinken. «Ich weiß, dass es nichts gibt, was man tun könnte.»

«Da wäre ich nicht so sicher», sagte Norbridge. «Ihr beide versteht besser als die meisten Menschen, dass in der Falls-Familie und in diesem Hotel eine Menge Magie stecken.» Er hob den Arm und ließ seine Muskeln spielen. «Selbst in diesen alten Knochen!»

Sein Blick wanderte von Elana zu Elizabeth, die beide schwiegen. Und dann warf er ohne jede Vorwarnung mit einer blitzschnellen Bewegung die Flurschen hoch in die Luft, schnippte mit den Fingern, und Elizabeth wurde für den Bruchteil einer Sekunde von einem Blitz geblendet. Als sie wieder sehen konnte, war die Tüte mit den Süßigkeiten verschwunden und an ihrer Stelle schwebten zwei Luftballons, einer silbern, der andere lila. Sie schaukelten an der Decke, als ob ein Kind sie losgelassen hätte und nur die Zimmerdecke sie daran hindern würde, weiter hinaufzufliegen. Und als ob das nicht genug wäre, glitten die beiden Ballons plötzlich langsam nach unten, auf die beiden Mädchen zu. Aber als Elizabeth nach dem lila Ballon greifen wollte und Elana nach dem silbernen, zerplatzten sie gleichzeitig mit einem scharfen Knall.

Staunend lachte Elizabeth auf. «Wow!», rief sie.

Elana lächelte schwach, aber sie schien sich ehrlich zu freuen. «Also das war echt cool», sagte sie. Und Elizabeth lachte wieder, denn was Norbridge getan hatte, war so entzückend gewesen, und außerdem war es schön zu wissen, dass die wahre Elana – das zwölfjährige Mädchen – irgendwo noch in dieser alten Frau steckte. Bis eben schien sie die Hoffnung verloren zu haben. Vielleicht fand Norbridge tatsächlich eine Möglichkeit, Elana wieder in ihr altes Selbst zurückzuverwandeln.

«Hast du in letzter Zeit noch andere gute Bücher gelesen?», fragte Elana Elizabeth, und dann unterhielten sich die beiden Mädchen, als ob dies ein ganz gewöhnlicher Besuch an einem ganz gewöhnlichen Tag wäre. Nach zehn Minuten hatte Elizabeth den Eindruck, dass Elana trotz ihrer Müdigkeit nicht mehr ganz so oft an ihre unglückliche Lage denken musste.

«Kannst du mir ein paar gute Bücher aus der Bibliothek bringen?», fragte Elana nach einer Weile.

«Ich suche dir all meine Lieblingsbücher heraus», versprach Elizabeth.

Dann, ganz plötzlich, flatterte das Gefühl in ihr auf.

«Hört mal zu, ihr beiden», sagte Norbridge. «Ich muss vor dem Konzert noch ein paar Dinge erledigen. Elizabeth, wenn du gerne noch eine Weile bleiben möchtest, kein Problem, aber …»

Ein Klopfen an der Tür ließ ihn verstummen. Bevor Norbridge antworten oder die Tür öffnen konnte, wurde sie schon aufgestoßen. Zu Elizabeths Überraschung stand Lena Falls im Türrahmen, die ältliche Tochter der ältesten Bewohnerin des Hotels, Norbridges neunundneunzigjähriger Cousine Kiona Falls. Lenas graue Haare waren gekämmt, energisch reckte sie das Kinn vor, und sie machte in ihrem dunkelblauen Bademantel den Eindruck, als ob das Zimmer, vor dem sie stand, ihr gehören würde und sie vollkommen perplex war, weil sich Fremde darin befanden.

Norbridge stand auf. Er wirkte etwas fassungslos, die Überraschung stand ihm ins Gesicht geschrieben. «Lena?», sagte er, obwohl es egal war, was er sagte, denn Lena konnte seit sechzig Jahren nicht mehr hören und sprechen. Soweit Elizabeth wusste, hatte Lena in den vergangenen zwanzig Jahren ihr Zimmer immer nur am Heiligen Abend für das Festessen im Wintersaal verlassen, und vergangenes Weihnachten nicht einmal das. Sie döste meistens den lieben langen Tag, und niemand, nicht einmal ihre Mutter Kiona, wusste, was in ihrem Kopf vorging oder warum sie sich so weit vom Rest der Welt entfernt hatte. Sie konnte essen, war in der Lage aufzustehen und zu laufen; sie konnte lediglich nicht kommunizieren. Und eins war gewiss: Sie hatte seit Jahren ihr Zimmer nicht ohne Begleitung verlassen.

Norbridge streckte den Arm aus, um Lena willkommen zu heißen, und sie nickte ihm zu, als ob sie sich tagtäglich begegnen würden. Mit einem weiteren Nicken begrüßte sie Elizabeth. Und dann marschierte sie geradewegs auf das Bett zu, nahm Elanas Hand in ihre beiden Hände und starrte ihr in die Augen, als ob sie nur aus dem Grund gekommen war, um die Farbe von Elanas Pupillen zu studieren.

Im Zimmer war es vollkommen still, während Lena dasaß und starrte.

«Gibt es etwas, das Sie sagen wollen?», fragte Elana schließlich.

«Sie kann nicht sprechen», erklärte Norbridge. «Und sie kann auch nichts hören.» Und dann setzte er leiser hinzu: «Ich glaube es nicht, dass sie tatsächlich hier ist.»

Elizabeth schaute ihn verwirrt an. Lena schloss die Augen und neigte den Kopf nach vorn. Ein paar Sekunden lang bewegte sie stumm die Lippen. Dann ließ sie Elanas Hand los, stand auf, drehte sich um und verließ das Zimmer wieder. So schnell, wie sie gekommen war, so schnell waren die drei anderen wieder allein, und die Aura von Ratlosigkeit, die durch Lenas Auftauchen entstanden war, verstärkte sich noch.

«Was war das denn gerade?», sagte Elana. Und nachdem Norbridge ihr erklärt hatte, dass die taubstumme Lena seit dreiundzwanzig Jahren kaum das Bett verlassen hatte und fast nur noch in ihrer eigenen Welt – in ihrem Kopf – lebte, starrte Elana ihre Bettdecke an und dachte nach.

«Es war, als ob sie mir etwas sagen wollte», flüsterte sie.

Wieder wallte das Gefühl in Elizabeth auf, und wie um Norbridge vorzuwarnen, dass die seltsamen Ereignisse dieses Abends noch nicht zu Ende waren, wies sie mit dem Kinn auf die Tür, kurz bevor es ein weiteres Mal klopfte.

«Herein», sagte Norbridge. Als die Tür aufging, sahen sie Sampson, der hinter einem Rollstuhl stand, in dem Kiona Falls saß, bis zum Kinn eingewickelt in eine schwere Decke, auf dem Kopf eine rosa Bommelmütze und im Gesicht einen fragenden Ausdruck.

«War meine Tochter gerade eben hier?», wollte Kiona wissen. Sampson hinter ihr verzog leicht das Gesicht, als ob er keine Ahnung hätte, was hier los war, und lediglich die Anordnungen der alten Dame befolgte.

«Ja, das ist richtig», sagte Norbridge. «Sie ist vor zehn Minuten gegangen. So etwas haben wir seit … mehr als zwei Jahrzehnten nicht mehr erlebt!» Er ging zu Kiona, beugte sich zu ihr und küsste sie auf beide Wangen. «Was geht denn hier eigentlich ab, wie man heutzutage so sagt. Kannst du uns das erklären, meine Liebe?»

Kiona hob die Hand und drehte sich ungelenk zu Sampson um. «Danke, dass Sie mich hierher begleitet haben, guter Mann. Sie schieben ganz ausgezeichnet.»

Sampson grinste und schaute zu Norbridge. «Miss Falls hat auf einem kleinen Ausflug hierher bestanden.»

Kiona salutierte zu Elana gewandt. «Ich wünsche dir einen guten Abend, meine liebe Elana. Es freut mich, dass es dir so gut geht.» Sie legte die Hand über ihr Herz. «Es wärmt mich. Bis in mein Inneres.» Mit der Hand immer noch auf der Brust lächelte sie Elizabeth an. «Und meine liebe Cousine wievielten Grades auch immer, es ist ein großes Vergnügen, dich zu sehen, wie üblich.» Sie schüttelte verwundert den Kopf. «Ich komme einfach nicht darüber hinweg, dass du deiner Mutter mit jedem Tag ähnlicher wirst.»

Kiona senkte die Hand und blickte Norbridge an. «Ich kann es nicht erklären, aber in den vergangenen drei Tagen ist meine Tochter irgendwie … aktiver geworden. Lebendiger, wacher, mehr da! Sie hat nie besonderen Wert auf die Zeichensprache gelegt, aber gestern fing sie plötzlich an, etwas zu buchstabieren. Anfangs dachte ich, es wäre ihr eigener Name, aber dann erkannte ich, dass sie Elana meinte. Und dann wurde mir klar, dass sie das Mädchen zu sehen wünschte.» Sie verzog das Gesicht. «Oder ‹die Frau› sollte ich wohl besser sagen.» Sie warf Elana einen unsicheren Blick zu. «Es tut mir leid. Ich weiß nicht …»

«Es ist schon gut», sagte Elana und starrte auf ihre Hände.

Kiona legte kurz die Hand an die Stirn, als wolle sie sich für einen Leichtsinnsfehler entschuldigen, dann fuhr sie fort: «Lena hat immer und immer wieder den Namen ‹Elana› buchstabiert, und eben bin ich aufgewacht und sie war weg! Stellt euch meine Überraschung vor. Sie schläft seit dreiundzwanzig Jahren neben mir, und dann auf einmal …», Kiona wedelte mit der Hand, «… verschwunden!»

«Das ist merkwürdig», sagte Norbridge. «Sehr merkwürdig.» Er biss sich auf die Unterlippe.

«Ich dachte mir, dass sie hierherkommen würde», sagte Kiona, «obwohl ich wirklich keine Ahnung habe, warum. Sie scheint sich regelrecht in eine Art Besessenheit hineingesteigert zu haben. Es ist unerklärlich.»

«Und sie hat nicht versucht, noch andere Wörter zu buchstabieren?», fragte Norbridge.

Kiona schaute einen Moment lang auf den Teppich, dann sah sie Norbridge an. «Sie buchstabierte zweimal das Wort ‹Methode›, aber ich weiß nicht, worauf sie hinauswollte.»

Eine unbehagliche Stille senkte sich über den Raum. Elizabeth wurde kalt. Lena meint doch wohl nicht die Dredforth-Methode, oder doch?, dachte sie.

Kiona wandte sich Elana zu, die sich gegen das Ohr tippte. «Wie ist es passiert?», fragte sie.

«Dass Lena Gehör und Sprache verlor?», sagte Kiona. «Ich wünschte, ich wüsste es. Sie war eines Tages zum Skifahren draußen und kehrte nicht zurück. Damals war sie zwanzig Jahre alt. Als man sie spät abends draußen gefunden hat, war alles anders. Sie war benommen und hat sich nie wieder richtig erholt. Vielleicht lag es an der Kälte oder … Ich weiß auch nicht. Lena hat sich nie dazu geäußert. Im Laufe der Jahre hat sie sich immer weiter in sich zurückgezogen.» Sie schüttelte den Kopf. «Sehr traurig. Sehr traurig für uns alle.»

«Sie haben bald Geburtstag, nicht wahr?», sagte Elana. Norbridge sog scharf die Luft ein, aber Kiona streckte die Hand nach ihm aus und beugte sich vor.

«Es ist schon gut», sagte Kiona. «Es macht mir nichts aus, darüber zu reden. Ja, meine Liebe, am zwölften Juni feiere ich meinen hundertsten Geburtstag. Ein Meilenstein, noch dazu an diesem Ort.»

Es war eine Besonderheit, die man unschwer an dem Familienstammbaum vor dem Wintersaal ablesen konnte: Fast jede Frau der Falls-Familie wurde hundert Jahre alt. Nicht neunundneunzig oder hunderteins, sondern genau hundert. Warum das so war, wusste niemand – weder Norbridge noch Leona oder sonst jemand im Hotel. Es war einfach so und gehörte zum Winterhaus wie der Schnee an Weihnachten und der Duft der Flurschen in den Gängen. Elizabeth hatte sich oft gefragt, was Kiona durch den Kopf ging, wenn sie an die bevorstehenden Monate dachte: Jeder Mensch weiß ja, was die Zukunft für ihn bereithält, auch wenn man nicht ständig darüber nachdenkt, aber ohne jeden Zweifel zu wissen, was der nächste Geburtstag bringt, war vermutlich kein schönes Gefühl.

«Haben Sie Angst?», fragte Elana.

Kiona lächelte leicht. «Ich hatte ein gutes Leben.» Sie zwinkerte Elizabeth zu. «Ich habe versucht, immer zuerst an andere zu denken, nicht an mich selbst, und ich muss sagen, dass dies in meinen Augen das perfekte Rezept für Glückseligkeit ist.»

Die Glocken des Hotels erklangen, um den Beginn des Konzerts in zehn Minuten anzukündigen.

«Pünktlich wie immer», sagte Norbridge, und alle lachten. «Ich muss jetzt los. Und du auch, Elizabeth, wenn du dir die Sonate anhören willst.»

«Und ich werde mich auf die Suche nach meiner Tochter machen», sagte Kiona. Sie schlug leicht mit der Faust auf die Armlehne des Rollstuhls und drehte sich zu Sampson um. «Volle Kraft voraus, junger Mann!»

«Aye-aye, Miss Falls», sagte er.

Elizabeth umarmte Elana zum Abschied. «Ich komme bald wieder. Und dann bringe ich dir neues Lesefutter mit. Der Sandelf wird dir bestimmt gefallen.»

Elana hob die Daumen. Sie schien fröhlicher zu sein, aber als Elizabeth sich auf den Weg zum Saal der Künste machte, konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Elana mit den Tränen gekämpft hatte.


KAPITEL 9
EIN GANG IN DER NACHT

Um halb elf, nach dem Konzert mit Sunny Chen und anschließend der versprochenen heißen Schokolade und nachdem Elizabeth Mr. Wellington und Mr. Rajput geholfen hatte, vier weitere Puzzleteile zu finden, und sie noch dazu einen weiteren Punkt auf ihrer Liste «Vor- und Nachteile am Leben im Winterhaus» ergänzt hatte – «Vorteil Nr. 48: Man lernt nette und berühmte Musiker kennen» –, saß sie an ihrem Schreibtisch und schrieb ihre E-Mail an Freddy zu Ende. Sie stimme ihm zu, schrieb sie, dass es in Bezug auf Riley Granger und die Dredforth-Methode vieles zu besprechen gebe, und dann berichtete sie ihm von allem, was ihr im Kopf herumging: von Elana, der Mine, Lenas überraschendem Auftauchen, den Puzzle-Männern, dem Rumpeln im Wintersaal sowie von der Schule und den Büchern, die sie kürzlich gelesen hatte.

Ich freue mich wirklich, dass du an Rosten kommst, schrieb sie zum Schluss. Ich meine natürlich, an Sorten. Nein, an Ostern. Aber im Ernst, es ist toll, dass wir uns so bald schon wiedersehen. Deine Freundin Habt Zeile (Das ist ein Anagramm für «Elizabeth», nur für den Fall, dass du aus der Übung bist!»)

Sie klickte auf «Senden», dann zog sie die Schublade auf und betrachtete das blaue Puzzleteil. Ich gebe es bald zurück, dachte sie, schob die Lade wieder zu und grübelte über das Rumpeln beim Abendessen nach. Nach dem Konzert hatte Norbridge ihr erzählt, dass der Seismograph etwas registriert hatte, das einem sehr schwachen Erdbeben gleichkam, und er meinte, er könne sich erinnern, dass dergleichen bereits drei Mal geschehen war, jedes Mal ohne ein weiteres Anzeichen von Gewitter, wie etwa einen Blitz.

«Vielleicht war es nur eine ganz natürliche Erdbewegung», sagte er. «Hitzekammern oder Eisbrocken oder irgendetwas Ähnliches. Hoffen wir, dass dies auch die Erklärung für deine Beobachtung an der Mine war.»

Elizabeth war darüber sehr beunruhigt, und während sie noch über die zahlreichen Höhen und Tiefen des Tages nachdachte, wurde ihr klar, dass sie nichts lieber wollte, als sich auf ihr Sofa zu setzen und sich von einem guten Buch die trüben Gedanken vertreiben zu lassen.

Sie nahm Dunkelheit am Ende des Tunnels von ihrem Nachttisch, ließ sich auf das Sofa plumpsen und fing an zu lesen.


Um Mitternacht stand Elizabeth auf. Sie verließ ihr Zimmer und wanderte durch die kalten, düsteren Gänge des Hotels, bis sie in der Bibliothek stand, wo alles dunkel und zerstört war. Das Winterhaus war verlassen – keine Gäste, keine Angestellten, keine Falls-Familie mehr; alle waren fort, und das große Hotel war still und leer.

Eine Stimme rief ihr zu, als sie mitten in der riesigen Ruine der Bibliothek stand. Sie rief ihren Namen: Elizabeth. Dann noch einmal. Und noch einmal. Dreimal insgesamt.

Ein blutrotes Licht erschien oberhalb der Treppe im zweiten Stock des hohen Saals.

Ich habe diese Bibliothek auch geliebt, sagte die Stimme. Viele Stunden habe ich hier verbracht. Genau wie du.

Obwohl sie nichts weiter sehen konnte als das schwache rote Licht, schaute Elizabeth aufmerksam nach oben und lauschte der Stimme, die dort aus dem Dunkeln kam. Sie ging zur Treppe und legte die Hand auf das Geländer. Ein mächtiges Verlangen, ganz nach oben zu steigen, überkam sie, während die Worte noch in ihrem Kopf widerhallten: Genau wie du.

Eine kleine Lampe auf einem Tisch neben der Treppe flackerte auf. Elizabeth empfand den unerklärlichen Wunsch, mit dem Finger darauf zu deuten und die Lampe durch einen Strom ihrer magischen Macht zu Boden zu werfen.

Ja, kam die Stimme wieder. Das verstehe ich. Diese Macht. Wer wollte sie nicht einsetzen?

Elizabeth streckte den Finger in Richtung Lampe aus und verspürte das vertraute Flattern in ihrer Magengrube. Dann fühlte sie, wie sich etwas Heftiges, Drängendes in ihr löste, etwas Mächtiges, das ihr große Befriedigung verschaffte.

Genau wie du.

Immer noch wies sie mit dem ausgestreckten Finger auf die Lampe und konzentrierte sich, bis sich ihr Blick verschleierte und ein Summen ihren Geist ausfüllte.

Genau wie du!, ertönte die Stimme noch einmal, und das Summen wurde so laut, dass sich Elizabeth unwillkürlich die Ohren zuhielt und …

Keuchend schreckte sie vom Sofa hoch und schaute auf die Uhr. Mitternacht. Der Albtraum verblasste.

Sie will mich in Versuchung führen, dachte Elizabeth, als sie sich aufsetzte und durchatmete, um wieder zur Ruhe zu kommen. Gracella führt mich in Versuchung. Aber trotzdem musste sie ständig daran denken, dass sie zu gern gesehen hätte, wie die Lampe auf dem Boden zerbrach.

Elizabeth stand auf und ging zum Fenster. Im schwachen Schein der Außenbeleuchtung vor dem Hotel sah sie, dass der Schnee noch dichter fiel als vorhin. Hohe weiße Hügel wuchsen aus der Erde und erstreckten sich bis in die kalte Dunkelheit des Lake Luna. Der schwarze Himmel wogte vor Schneeflocken. Elizabeths Herz schlug immer noch schnell, und sie überlegte kurz, dass sie jetzt ihren Schlafanzug anziehen, ein Glas Wasser trinken und ins Bett gehen sollte. Doch eine merkwürdige Ruhelosigkeit hatte sie gepackt, und noch während sie zu ihrer Zimmertür schaute, merkte sie, dass sie bereits den Griff herunterdrückte und hinaus auf den Gang trat. Sie wollte jemanden sehen, irgendjemanden, wollte ein bisschen Gesellschaft haben, ein kurzes Gespräch führen – und so ging sie zur Treppe und lief schnell hinunter in die Lobby.

An Weihnachten war die Hotellobby selbst mitten in der Nacht hell erleuchtet gewesen, aber an diesem Abend, bei diesem Sturm und mit verhältnismäßig wenigen Gästen herrschte in der großen Eingangshalle eine dämmrige Stille, genauso wie in Elizabeths Zimmer. Niemand war zu sehen, die Kerzenleuchter waren dunkel und die Laternen, die vor der Eingangstür Wache standen, warfen einen geisterhaft trüben Schein durch die hohen Fenster. Auf dem Pagentisch stand neben der silbernen Glocke ein Schild: BITTE LÄUTEN SIE, WENN SIE ETWAS BRAUCHEN. WIR SIND JEDERZEIT FÜR SIE DA.

Elizabeth wollte schon auf den kleinen Knopf oben auf der Glocke drücken, doch dann hielt sie inne und schaute zu dem Tisch mit dem Puzzle. Sie empfand einen Anflug von Neugier – so ähnlich wie das Gefühl, aber nicht annähernd so intensiv – und sie merkte, dass sie wie magisch von den Puzzleteilen angezogen wurde. Mr. Wellington und Mr. Rajput hatten das Schild aufgestellt, das immer da stand, wenn sie sich im Hotel befanden, aber im Augenblick nicht puzzelten: LAUFENDE ARBEITEN; BITTE NICHT BERÜHREN.

Das Puzzle lag vor ihr.

Nach einem kurzen Blick über die Schulter stützte sich Elizabeth auf den Tisch und betrachtete die Teile. Das Puzzle war schon fast fertig, und das zusammengesetzte Bild stimmte größtenteils mit der Illustration des steinernen Tempels auf der großen Blechdose überein, in der die Puzzleteile gelegen hatten. Elizabeth hatte oft über dieses Gebäude nachgedacht, seit sie das Puzzle zum ersten Mal gesehen hatte. Der Gedanke, dass Norbridges Großvater Nestor zusammen mit seinem Freund, dem mysteriösen Riley Sweth Granger, dort fünf Jahre verbracht und vermutlich uralte Geheimnisse enträtselt hatte, erregte und ängstigte sie zugleich. Sie konnte sich nicht vorstellen, an einem so trostlosen, entlegenen Ort zu leben.


Wieder fuhr sie mit dem Finger über die fremdartige Schrift über dem Eingang des Tempels, über das Wort, das «Glaube» bedeutete. Sie betrachtete die Ansammlung von hölzernen Einzelteilen, die verstreut auf dem Tisch lagen. Ihre Hand bewegte sich geradewegs auf ein schneeweißes Teil zu, das sie ohne zu zögern zu einem Bereich des Berges schob, wo es perfekt hinpasste. Erst dann wurde ihr klar, dass sie zum ersten Mal ein Stück eingefügt hatte, ohne dass Mr. Wellington und Mr. Rajput dabei gewesen waren.

«Wow!», sagte jemand hinter ihr, und Elizabeth wäre beinahe vor Schreck auf den Puzzletisch gefallen.

«Oh Mann!», rief sie, als sie sich umdrehte und Hyrum Crowley vor sich stehen sah, immer noch in seinem blau gestreiften Pullover. Er hatte die Hände erhoben, als wollte er sich ergeben. Ihr Schreck hatte ihn erschreckt, erkannte sie, als sie eine Hand auf ihre Brust legte. «Ich hätte beinahe einen Herzschlag bekommen!»

«Tut mir leid», sagte er mit Bedauern in der Stimme, die Handflächen immer noch ihr zugewandt, als ob er ihr zeigen wollte, dass er keine bösen Absichten hatte. «Du warst so bei der Sache, dass ich dich nicht stören wollte. Es tut mir wirklich sehr leid!»

Elizabeth atmete tief durch, um ihren rasenden Puls zu beruhigen. «Schon gut», sagte sie, während Hyrum an ihr vorbei zu dem Puzzle schaute. Sie wunderte sich, dass sie seine Anwesenheit nicht gespürt hatte; normalerweise wurde sie durch das Gefühl vorgewarnt, wenn sich jemand näherte. Vielleicht hatte ihre Aufmerksamkeit so ganz und gar auf dem Puzzle gelegen, dass ihr Geist für nichts anderes mehr empfänglich gewesen war.

«Wie machst du das?», fragte er. Seine Stimme, sein Ausdruck, ja seine ganze Haltung zeugten von seiner Ehrfurcht, als er das Puzzle betrachtete. «Das ist ein ganz erstaunliches Talent.»

«Ich weiß nicht. Es kommt einfach über mich.»

Hyrum schüttelte verwundert den Kopf und musterte das Puzzle. «Also, ich bin mir sicher, Mr. Rajput und Mr. Wellington sind heilfroh über deine Hilfe. Wenn das so weitergeht, schaffen sie es wirklich bis Ostern.»

«Es wird toll sein, mitzuerleben, wie sie das Puzzle vollenden.» Elizabeth dachte wieder an das eine Teil, das sie in ihrer Schublade versteckt hatte. Dann blickte sie sich in der dunklen Lobby um. «Sie sind noch auf? Es ist schon spät.»

Hyrum fuhr sich mit der Hand durch die schwarzen Haare. «Bei diesem Wind konnte ich nicht einschlafen.» Er wirkte verlegen. «Und dann habe ich angefangen, eins der Bücher meines Großvaters zu lesen, und danach kann man das Einschlafen ja erst recht vergessen! Ich habe gehofft, dass ich noch eine Kleinigkeit zu essen bekomme, aber wie es aussieht, ist der Laden dicht.»

«Wir können läuten, wenn Sie möchten.»

«Nein, schon gut.» Er hob den Kopf und schaute an die Decke. «Nachts, wenn niemand hier ist, sieht alles noch majestätischer aus.» Er seufzte ehrfürchtig. «Winterhaus.»

«Ich weiß», sagte Elizabeth. «Der beste Ort auf der Welt.» Nach einer kurzen Pause sprach sie weiter. «Mir gefällt es übrigens sehr gut in Havenworth. Es ist viel besser als an meiner alten Schule.»

«Professor Fowles ist ein großartiger Schulleiter und seine Schule großartig. Eines Tages möchte ich dort als Lehrer unterrichten.»

«Ich finde, bislang machen Sie ihre Sache großartig. Das denken alle.»

Hyrum zuckte mit den Schultern. «Ich hatte Glück, dass ich die Stelle hier bekommen habe. Ich wollte schon immer in diese Gegend zurückkehren, immerhin stammt meine Familie von hier. Oder zumindest mein Großvater. ‹Winterhaus, Winterhaus!› Das habe ich so oft von meiner Mutter gehört, als ich klein war.»

«Ihr Vater kommt nicht von hier?»

Hyrum schüttelte den Kopf. «Nein. Ich habe ihn nie kennengelernt. Er starb drei Monate vor meiner Geburt.»

Elizabeth wusste nicht, was sie sagen sollte. Es war eine Sache, wenn man die Eltern als Kind verlor, aber etwas ganz anderes – etwas Seltenes, Außergewöhnliches –, wenn man geboren wurde, nachdem der eigene Vater bereits tot war.

«Es tut mir leid», sagte sie. «Ich wollte Sie nicht traurig machen.»

«Schon gut», sagte Hyrum. Er lächelte ihr beruhigend zu, und in diesem Moment beschloss sie, ihm die Frage zu stellen, die ihr seit geraumer Zeit im Kopf herumspukte.

«Haben Sie jemals ein Buch Ihres Großvaters mit dem Titel Die geheime Unterweisung der Anna Lux gelesen?»

Überrascht legte er den Kopf schräg. «Das ist eine seltsame Sache mit diesem Buch. Meine Mutter sagte mir, dass nirgends mehr eine Ausgabe davon existiert. Großvater Damien hat es geschrieben und dann, kurz bevor es veröffentlicht werden sollte, hat er es sich wohl anders überlegt und den Verleger angewiesen, alle Exemplare zu vernichten. Niemand scheint den Grund dafür zu kennen, aber meine Mutter hat mir einmal erzählt, dass er darin eine magische Zeremonie beschrieben habe und dann entschied, dass niemand davon erfahren solle.» Er zuckte mit den Schultern. «Woher weißt du von dem Buch?»

Die Frage machte Elizabeth verlegen. «Leona hat es einmal erwähnt.»

«Ich habe im Internet schon Websites gefunden, wo Sammler nach dem Buch forschen. Wenn ein Exemplar auftauchen würde, wäre das eine große Sache.»

Elizabeth dachte an den ersten Satz des Buchs: Es war einmal ein Mädchen, das so sehr von Magie und Zauberei und allerlei rätselhaften Dingen fasziniert war, dass es beschloss, eine Hexe zu werden.

«Hallo Leute», ertönte da eine Stimme. Sie drehten sich um und sahen Sampson hinter dem Pagentisch stehen. «Ich dachte mir doch, dass ich jemanden hier draußen gehört habe.»

«Hast du heute Nacht Dienst?», fragte Elizabeth.

«Jawohl», sagte er und rückte im Näherkommen seine rote Kappe zurecht. «Der dolle und draufgängerische Diener darf durchhalten in …», Sampsons Augen zuckten nach links und nach rechts, während er nachdachte, «… in Düsternis und Dunkelheit!»

«Wow, Sie sind ja ein echt poetischer …», setzte Hyrum an und suchte nach dem passenden Wort, «ein echt poetischer Page!», sagte er mit einem Fingerschnippen. «Nein, ehrlich, das war toll. Besonders um diese Uhrzeit.»

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