Kitabı oku: «Göttergold»

Yazı tipi:


Doris Benz und Ben Schreger

GÖTTERGOLD

Historischer Roman

über die späte Bronzezeit


ISBN 978-3-99025-427-1

© 2020 Freya Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Layout: freya_art, Regina Raml-Moldovan

Lektorat: Dorothea Forster

Coverdesign: Ben Schreger

Bildverweise: Cover: Das Amulett auf dem Buchcover zeigt zum einen das Modell einer vereinfachten Darstellung der Sonnenscheibe des Sonnenwagens von Trundholm/Dänemark, fotografiert von Udo Lunddahl, und zum anderen die Darstellung einer bronzezeitlichen Bernsteinscheibe aus Dänemark aus dem Ölbild „Bronzezeit IV-II“ von Jens N H Erdmann. Beiden Künstlern gilt unser besonderer Dank für die Freigabe ihrer Werke.

Zum Sonnenwagen von Trundholm: Nordische Bronzezeit (15. bis 14. Jh. v. Chr. – Periode II); Fundort: Im Moor von Trundholm, Dänisches Nationalmuseum Kopenhagen

Zur Bernsteinscheibe: Nordische Bronzezeit (17. bis 13. Jh. v. Chr.– Periode II); Dänemark – Fundort unbekannt, Dänisches Nationalmuseum Kopenhagen

© Adobe Stock: Goldtextur スタジオサラ,

printed in EU

Inhalt
VORWORT
ERSTES Buch
Im Zeichen des Orakels
Das Sonnenfest
Des Schlachters Ruf
Fieberträume
Aufbruch
Ardevi
Zweites
Schwarzmoos
Tara
Die Tore von Thaine
Das Band
Der Stachel
Drittes
Sernagrund
Vom feurigen Fischer
Stimmen
Auf dem heiligen Berg
Die heilige Hochzeit
Die steinerne Stele
Sernagrunds Maskenträger
Im Schatten des Todes
Traumbilder
Abschied
Viertes
Hedars Haus
Schreie im Schwarzmoos
Das rote Tuch
Mitten in der Nacht
Augenblicke
Der Schwur
Fünftes
Reisewege
Jago
Die Felsen von Kar
Der Schlucht entgegen
Die Brücke
Ambera
Lichtblicke
Die Rückbesinnung
Aufwärts
Sturmkrieger
Rovera
Die Stimme des Wassers
Sechstes Buch
Morgendämmerung
Sternenstaub
Der Ruf
Ausklang
Nachwort
Anmerkungen
Danksagung
Schauplätze
Literaturliste
VORWORT

„Gott schläft im Stein, atmet in der Pflanze, träumt im Tier, wacht auf im Menschen!“, heißt es im Altindischen. Die stein-, kupfer- und bronzezeitlichen Kulturen Mitteleuropas mit ihren vorkeltischen Riten beziehen sich stark auf dieses Weltbild.

Längst schon sind sie aufgewacht, die Menschen, und haben sich der kostbaren Erze in den Steinen bedient. Und so war der Zeitsprung zwischen der Steinzeit und dem Metallzeitalter ein epochaler Schritt. Mit der Verhüttung und Weiterverarbeitung von Kupfer und Zinn zu Bronze ab 2200 v. Chr. entwickelte sich in Mitteleuropa wirtschaftlicher Reichtum und gesellschaftliche Macht. Waffen, Geräte und Schmuck aus Bronze waren die Errungenschaften einer neuen Zeit. Kriegerische Auseinandersetzungen um diese Metalle nahmen zu. Von nun an sollte das Gold den Göttern nicht mehr allein gehören.

Kupfer, Bronze, Zinn, Bernstein und Glas als Zahlungsmittel bedeuteten Umwälzungen in der Gesellschaftsstruktur. Der Handel florierte schon damals über riesige Distanzen von der Ostseeküste bis ins heutige Ägypten. Selbst ein so mächtiges Gebirge wie die Alpen stellte keine unüberwindbare Barriere für die Handelsbeziehungen zwischen Nord und Süd dar. Ein neues Wirtschaftssystem war geboren. Es bildete sich eine Oberschicht heraus. Großsiedlungen und aufwendige Befestigungsanlagen nahmen ihren Anfang. Besonders deutlich wird dies mit der Epoche der Spätbronzezeit von 1300 bis 800

v. Chr. Sie steht für das Bindeglied zur darauf folgenden Eisenzeit, in der das Streben nach Macht durch das neue, noch härtere Metall endgültig den Sieg davontragen sollte.

Die späte Bronzezeit zeugt von hoher Handwerkskunst, von beachtlichem mathematischem Wissen und von einer Ideenfülle, die uns auch heute noch staunen lässt. Mit vielfältigen Kultgegenständen wurde damals versucht über die begreifbare Welt hinauszuschauen. Die Ausläufer ihrer facettenreichen Ausdruckskraft finden sich noch heute in religiösen Fruchtbarkeits- und Jahreszeitenritualen. Und immer wieder ist es der Sonnenmythos, der sich, wie auch in anderen Kulturen, nicht nur in der Kunst offenbart hat, sondern auch in Religion, Philosophie, Heilwissen und Himmelsbeobachtung; dies alles vor dem Hintergrund des gewaltigen Naturgeschehens. Der Mensch hatte sich dem Götterwillen bedingungslos zu beugen. Ernteausfälle und Hungersnöte vertrieben ganze Sippen auf der Suche nach einer besseren Zukunft aus ihrer Heimat. Dann aber entschieden nicht mehr nur die Götter über Freud und Leid. Die Metalle machten ihnen ihre Erhabenheit streitig. Der Mensch strebte immer mehr nach Reichtum und der damit verbundenen Macht und begann seine Zäune zu übersteigen ...

Begeben wir uns nun auf die Reise in die ausgehende Epoche der Spätbronzezeit im 9. Jh. v. Chr., in eine Zeit, in der das Gold den Göttern nicht mehr allein gehören sollte ...

Bei der Entstehung des vorliegenden Romans konnten wir zurückgreifen auf unsere eigenen Vorstudien. Richtungsweisend aber war der konstruktive Kontakt zu Dr. Jürg Rageth vom Archäologischen Dienst Graubünden in der Schweiz. Ihm, als dem weltweit bekannten Experten für bronzezeitliche Forschung, sind wir für die Begleitung unserer Texte zu ganz besonderem Dank verpflichtet!

Die Autoren

Niedereschach und Schorndorf im Jahr 2020

„Nicht die Form der Welle ist es, die sie zur Welle macht,

die Kraft ist es, die sie bewegt ...“

– Keltische Weisheit –

Erstes Buch
Im Zeichen des Orakels

Auch in diesem Jahr erhob sich das Wetter: Der Regen wurde zum größten Feind für die Bewohner des Beleintales in den südlichen Waldbergen. Das Tal, das sich von der Großen Ebene des Stromes Rhenair im Westen bis zum Sonnenberg im Osten hinzog, barg an seinem Ende das Stammesdorf der Lomer. Der Winter hatte noch bis ins Frühjahr hinein ihre Siedlung in eisigem Griff gehalten. Danach tat ein regenreicher Frühsommer sein Schlimmstes, und so kam es, dass fast die gesamte Saat von Emmer und Dinkel und Gerste verfaulte. Es gab eine Hungersnot. Viele Kinder überlebten nicht. Die Sorge um die Zukunft des Stammes griff um sich, und lähmende Angst erfasste die Herzen der Lomersippe.

Die nur aus wenigen Häusern bestehende Siedlung befand sich auf einer Anhöhe über dem Talgrund, umgeben von Feldern und Kleeweiden, die an dichten Wald grenzten, der überwiegend aus Buchenbäumen bestand. In den Häusern mussten die Vorräte aus dem letzten Jahr streng eingeteilt werden, und die Gesichter der Bewohner kündeten davon – wie die regenschweren und dunklen Wolken über den Dächern. Unter einem dieser Dächer lebte Jor, der Sippenführer.

Er öffnete einen Holzkasten und entnahm ihm einen Tonkrug mit Honigwein. Während er in Erwartung seines Gastes den Verschluss aus Birkenpech öffnete und zwei Becher zur Hand nahm, fiel sein Blick durch eine offene Luke auf den Dorfplatz. Dort ragte die Stammeslinde in den grauen Himmel. Sie rief Erinnerungen wach an die vielen heiteren Feste lange zurückliegender Jahre. In diesen Tagen jedoch war alles mager und verhalten ausgefallen. Am Essen musste gespart werden, auch im Hinblick auf die bevorstehende Sonnenfeier. Stattdessen hatten die Lomer unter dieser mächtig ausladenden Lindenkrone nur wenige und stille Bittfeste zelebriert.

In diese schweren Gedanken hinein klopfte es an die Tür. Es war Pjat, das Oberhaupt der Talischen. Die Lomer nannten sie so, da die Siedlung der Talischen zwar nur wenige Steinwürfe entfernt, jedoch um ein paar Baumlängen tiefer lag als das Dorf der Lomer. Trat man vor die Einfriedung der Lomersiedlung, so konnte man auf die Hausdächer der Talischen hinabblicken und die Windrichtung am Rauch aus ihren Firstluken ablesen. Regen troff Pjat von Kappe und Umhang und hinterließ beim Eintreten kleine Pfützen. Jor begrüßte den Gast und forderte ihn auf, am Herdfeuer Platz zu nehmen. Nun ergriff Pjat das Wort: „Nicht das erste Mal ist es, dass wir uns ratlos gegenübersitzen und einer auf des anderen Entscheidung wartet.“

„Die Verantwortung ist zu groß, um solche Entscheidungen allein zu treffen“, bemerkte Jor.

„Wartet Jedaure auf uns?“

Jor bejahte. Sein nachdenklicher Blick glitt erneut aus dem Fenster.

„Jedaures Rat ist meine ganze Hoffnung, denn unter meinen Leuten sind nicht alle einer Meinung. Es gibt da Zweifler.“

„Nicht nur unter euch, Pjat, auch bei uns sind Stimmen laut geworden, die in Frage stellen, ob das Leben an den Seen jenseits des Weißen Gebirges wirklich einfacher ist? Nicht alle trauen den Berichten der Händler, die erzählen, dass es dort sehr mild sei und das Wetter meist gut. Wie ein schmales Band soll sich der lange See von den Bergen bis in die fruchtbaren Ebenen des Südens ziehen, in denen Früchte und Getreide doppelt so groß wachsen und in der halben Zeit reifen sollen wie bei uns. Kann man dem Glauben schenken? Ich wünschte es mir, aber ein Abschied von hier, der ist mehr als schwer. Dieses Tal ist seit Langem unsere Heimat. Aus jeder Pflanze, jedem Baum, jedem Tier, aus jeder Quelle und jedem Stein weht hier der Geist unserer Ahnen.“

„Nun gut, Jor! Es gibt gewiss immer wieder Aufschneider unter den Händlern. Aber etwas Wahres muss ja wohl daran sein.“

„Wer weiß?“, spann Jor die Gedanken von Pjat fort. „Ich denke da an die Begegnung mit Laraun aus der großen Höhensiedlung über dem Rhenair. Er sprach davon, dass ein paar seiner Leute ebenfalls ihre Auswanderung erwägen, obwohl es sich dort – wie wir wissen – deutlich leichter lebt als bei uns. Wir sind einfache Bauern, die Bergsiedlung aber beherbergt viele Handwerker. Ihre Waren haben einen guten Ruf und sind begehrt. Wir mit unseren einfachen Geräten können da nicht mithalten. Außerdem ziehen bei ihnen die Händler durch, und der Warentausch hat immer schon Wohlstand mit sich gebracht. Wen wundert’s, dass Laraun also der Meinung ist, die heimische Erde mache eher satt als alle Versprechungen der Welt.“

„Womit er nicht ganz unrecht hat!“, bekräftigte Pjat.

„Ihre Speicher sind besser gefüllt als unsere. Noch ist das so. Aber was ist, wenn das nasse Wetter auch ihnen die Ernte verdirbt? Dann wird sich der Tauschhandel von wertvoller Ware gegen Nahrungsmittel zuspitzen. Einfache Leute wie wir stehen dann am Ende mit leeren Händen da.“

„Sei es wie es will, doch bevor es so weit ist, müssen wir handeln, nicht nur reden“, sagte Jor mit auffordernder Geste.

„Wir müssen endlich Klarheit haben. Die Götter allein kennen unseren Schicksalsweg, und Jedaure ist die Brücke zu ihnen. Komm!“

Sie erhoben sich und traten aus der Tür. Der Regen hatte aufgehört. Feiner Nebel zog in Schwaden durch die Gassen. An einem Haus, in dessen Türbalken ineinander verschlungene Kreise und ein fünfzackiger Stern eingeritzt waren, machten sie Halt. Holunderbüsche umrahmten den Eingang. In ihren Blütendolden sprühten winzige Tröpfchen wie aus einem Sternenhimmel im Zwielicht des Nebels hervor. Bald würde die Sonne die feuchten Schwaden verzehren.

Auf Jors Klopfen hin erschien eine hohe Gestalt mit schlohweißem Haar und Bart. Es war Jedaure, der alte weise Mann, der im Lauf der Zeit über die Siedlung der Lomer hinaus bekannt geworden war. Woher er wirklich stammte, wusste niemand genau zu sagen. Ebenso wenig, warum er sich als gebildeter Mann bei den Bauern, die ihn verehrten, im Beleintal niedergelassen hatte. Er half ihnen, die Zeiten für Aussaat und Ernte zu bestimmen. Er weissagte ihnen, er leitete ihre Opferrituale, und er gab ihnen aus den Himmelszeichen nützliche Ratschläge. Beim Herannahen erkannte man ihn am Klingeln seines Kettengehänges am Gürtel.

Die Stammesführer traten ein und trugen dem Weisen ihr Anliegen vor. Da ergriff Jedaure einen Lederbeutel und forderte sie auf, ihm zu folgen. Zu dritt verließen sie Haus und Dorf. Ihr Ziel war ein mächtiger Hügel, der den Blick auf die beiden Siedlungen freigab. Biegsame Weiden wuchsen dort. Jedaure schnitt Zweige von ihnen und band sie zu zwei großen Ringen. Er legte sie so zu Boden, dass sie sich überschnitten. Nun entnahm er dem Beutel eine Handvoll Zierscheiben aus Bronzeblech. Die Scheiben trugen in der Mitte eine Ringöse, an der jeweils ein Anhänger von menschenähnlicher Gestalt befestigt war. Mit den Scheiben in der linken Hand – es waren sieben an der Zahl – kniete sich Jedaure vor den beiden Ringen nieder. Dann begann er mit geschlossenen Augen zu sprechen, das Gesicht nach Osten gerichtet:

„Regen, Regen, wenig Brot,

alles Werden ungewiss,

bar von Hoffnung in der Not,

alles wankend, alles trauernd

um der Kinder frühen Tod.

Raub und Grauen, Krieg und Schande,

alles aus dem rechten Lot.

Im Dunkel liegt der Weg,

erloschen ist das Morgenrot.“

Er hob den Arm zum Himmel und bat:

„Entsiegelt euch, ihr großen Götter

zu Einem, das uns helfen kann,

euch gilt mein Ruf, führt ihr uns an!“

Der Arm sank nieder. Die rechte Hand ergriff eine der Scheiben. Voller Ehrfurcht vernahmen Pjat und Jor die Stimme, die fortfuhr:

„Zeigt mir den Weg, zeigt mir die Brücke,

die alles überwinden hilft,

vereint in diesem Augenblicke!“

Jetzt warf Jedaure die erste Scheibe. Sie landete vor einem der beiden Schnittpunkte.

„Die Mitte ist der Weg, die Mitte ist die Brücke,

und nur der Brückenschlag von beiden Seiten

kann sicher uns zu neuen Ufern leiten.“

Es folgte die zweite Scheibe. Sie traf in den rechten Ring.

„Ein Lichtgedanke – nur ein Wort,

ihr Götter, sendet in die Kreise,

dass Segen ruhe auf der weiten Reise.

Lasst fallen euren dichten Schleier,

und zeigt euch im Orakelspiel

als Antwort auf das ferne Ziel.“

Die dritte und vierte Scheibe folgten dicht aufeinander. Sie fanden ihren Platz in der Schnittmenge der beiden Ringe. Jedaure verfiel in einen Sprechgesang, dessen Sinn Pjat und Jor nicht verstehen konnten, so angestrengt sie auch lauschten. Die fünfte und sechste Scheibe waren an der Reihe. Eine traf mitten in den linken Ring, die andere landete außerhalb. Die Blicke der Dorfhöchsten begegneten sich kurz, aber vielsagend, danach starrten sie wieder gebannt auf Jedaures Hand, die sich anschickte, die letzte und siebte Scheibe zu werfen.

„Sei verbunden diesem Bunde,

himmelan und zeitenlos,

ruhend in der Götter Schoß,

siebte, letzte, heilige Zahl,

du bestimm‘ in dieser Runde,

ob zu lassen dieses Tal,

ob zu rüsten und zu reisen?

Ach, ihr Götter gebt uns Kunde,

ist die Ferne uns verheißen?“

Pjat und Jor stockte der Atem. Wo würde sie landen? Sie fiel genau in die Überschneidung der beiden Ringe. Drei Scheiben befanden sich nun darin. Pjat und Jor wagten sich nicht zu rühren. Jedaure öffnete die Augen. Lange Zeit herrschte Schweigen. Dann machte sich Jedaure leise murmelnd daran, die Lage der Figuren an den Ringösen zu deuten. Die beiden Dorfführer erschauerten angesichts der Bedeutung dieses Augenblicks. Gebannt starrten sie auf Jedaure, und so bemerkten sie die Jungengestalt nicht, die sich hinter einem der Büsche verborgen hielt und deren Augen das Geschehen erspäht hatten.


Es war kurz vor dem Sonnenfest, als Nalumbin, der Sohn von Jor, seinen Blick von einem Felszacken aus in die Ferne schweifen ließ. Am südlichen Horizont erhob sich die mächtige Kette des Weißen Gebirges. Zwei Sonnenläufe waren vergangen, seitdem er Jedaures Orakelspiel heimlich belauscht hatte. Die Vorstellung, über das Weiße Gebirge zu ziehen, begeisterte ihn; endlich zu sehen, welche Landschaften dahinter lagen. Über die Gefahren einer Überschreitung des gewaltigen Gebirges war er sich mit seinen vierzehn Sommern nicht im Klaren.

Jetzt aber galt sein Interesse den Vorbereitungen zum kommenden Sonnenfest. Endlich war er alt genug, um mit den Erwachsenen auf den Sonnenberg zu ziehen. Es sollte sein erstes und zugleich letztes Fest auf dem Berg sein; ein Berg, dessen Gipfel in seiner Form an den kraftstrotzenden Nacken eines Stieres erinnerte. Die Götter hatten entschieden, dass die Bewohner von Nalumbins Dorf gemeinsam mit den Talischen fortziehen würden.

Eine seltsame Spannung lag über der Siedlung, und nicht einmal die wärmende Sonne, auf die man so lange gewartet hatte, konnte sie durchbrechen.

Nalumbin vertauschte seinen Standort mit dem Wipfel eines Baumes über der Siedlung. Er sah, wie seine Mutter und Schwester vor dem Haus saßen und aus Zweigen und Blumen Kränze und Girlanden flochten und wie sein Vater das Feuerbecken vorbereitete, in das er anderntags das noch glühende Holz aus dem Herd legen würde.

Es sollte auf den Berg getragen werden, der aufgehenden Sonne entgegen. Mit ihren Strahlen würde sie die Glut neu beleben. Körbe mit Feldfrüchten und Saatgut und Deckelgefäße mit frisch geschöpftem Wasser aus der Quelle wurden auf Karren verladen. Neue Kleidungsstücke, Fibeln und Broschen kamen hinzu. Auch Bündel von sorgsam ausgewähltem Holz für das Festfeuer, das kein Blitz getroffen haben durfte.

Als dann die Talischen aus der Nachbarsiedlung eintrafen, lag nicht nur der Duft von frisch gebackenem Brot über dem Ort, sondern auch eine Stimmung, die die Vorfreude auf das Fest dämpfte. Sie alle wussten, dass es ihr letztes Sonnenfest auf dem heiligen Berg sein würde. Und da spürte auch Nalumbin den Abschiedsschmerz, der wie eine unsichtbare Hand nach der soeben noch hoch fliegenden Freude griff. Als er sah, dass die Talischen sogar ihren Pflug auf eine von Ochsen gezogenen Schleife geladen hatten, da erkannte er, wie groß ihre Sorge um die künftige Fruchtbarkeit ihrer Äcker und damit um ihrer aller Überleben sein musste.

Hatten sie die Absicht, den Pflug morgen auf den Berg zu schaffen, dass auch er am Segen der Sonne teilhaben konnte?

Es war Abend, als Nalumbin mit zwei anderen Jungen das Vieh von der Waldweide in den Pferch der Siedlung trieb. Die Sonne entsandte ihre letzten Strahlen in die Wipfel der Stammeslinde inmitten des Dorfplatzes, während die Gassen zwischen den Häusern bereits im Schatten der kommenden Nacht lagen.

Die bis zur Erde herabreichenden Dächer mit ihren spitzen Giebeln stachen schwarz in den rot glühenden Himmel. Aus einem der Häuser drang leiser Gesang. Auf dem Rückweg sah Nalumbin durch die offene Tür, wie Jendur, der Töpfer, im Schein seines Herdfeuers den Trichterrand eines wohlgeformten Tonkruges verzierte.

In Gedanken versunken war Nalumbin vor dem Haus stehen geblieben, als ihm eine vertraute Stimme ins Ohr flüsterte:

„Ist es nur der Schein von Jendurs Feuer, der deine Augen zum Glänzen bringt, oder spiegeln sich Sorge und Schmerz in ihnen?“

Es war Jedaure. In den Zeiten seines Heranwachsens hatte Nalumbin ihn häufig aufgesucht, um seinen Wissensdurst zu stillen. Auch wenn der weise Mann über die pausenlose Fragerei des Jungen oft ungehalten war, so mochte er ihn dennoch und war stets bereit zu antworten.

„Jedaure, wird der Weg übers Gebirge schwierig sein?“, fragte der Junge.

„Wenn die Götter gnädig sind, ist kein Ziel zu fern. Aber wehe dem, der ihren Zorn zu spüren bekommt. Dann schleudern sie Steine, Schnee und Eis von den Bergen. Die Windgeister fegen über Höhen, zerbrechen Brücken und Stege, entwurzeln Bäume und jagen durch Schluchten, die so tief sind, dass das Auge vergeblich nach ihrem Grund sucht. Und die Kälte streckt ihre eisigen Finger nach allem aus, was lebt. Und dennoch ziehen die Menschen seit ewigen Zeiten über die Berge und versuchen durch Opfergaben die Götter milde zu stimmen und deren Wohlwollen zu erlangen.“

„Ziehen sie auch zum Langen See?“

„Auch zum Langen See.“

„Jedaure! Erzähl mir vom Südland!“, bat Nalumbin.

„Das will ich gerne tun. Bei einem Schluck Gärigem jedoch wird der Geist wacher und die Zunge lockerer. Also, lauf rasch in mein Haus und bring mir einen Becher davon!“

Nalumbin ließ sich dies nicht zwei Mal sagen. Voller Spannung auf Jedaures Bericht eilte er davon. Seine Neugier galt nicht nur dem Südland, sondern auch Jedaures Behausung mit all den seltsamen Dingen. Er kannte den Platz, an dem sich das Gewünschte befand, denn bei so manchem Gespräch hatte sich Jedaure des Kruges bedient und den Becher geleert. Beides, Krug und Becher, standen auf einem ausladenden Wandbrett neben dem Herd. Die Nähe des Feuers hielt das Getränk angenehm warm und damit verträglich. Nalumbin schenkte ein. Es zischte und roch säuerlich und gleichzeitig nach süßreifen Waldbeeren.

Mit dem vollen Becher in der Hand verharrte er. Er konnte nicht anders, denn der Anblick der Sammlung an fremdartigen Gebilden auf dem Brett fesselte ihn auch diesmal. Da waren ein winziger Kessel auf vier Rädern, ein verzierter Schwertgriff, Kamm und Rasiermesser, Spiralringe – alles aus Bronze, und versehen mit geheimnisvollen Zeichen. Neben Kettengehängen aus Tierzähnen, geschnitzten Masken und Kugeln aus farbigem Glas behaupteten sich kleine Figuren aus Horn und Wurzeln, als wollten sie jeden Augenblick lebendig werden.

Dazwischen versteckte sich ein Kästchen, dessen Außenseiten und Deckel weiches, faseriges Leder überzog. Ein Schmetterling und ein vierblättriges Kleeblatt waren auf dem Deckel eingeprägt; Kunstwerke aus mattgrauem, mit Hammer und Punzen bearbeitetem Metall, die Nalumbin schon immer bewundert hatte. Diesmal stand der Deckel offen, und die seit Langem unbeantwortete Frage nach seinem Inhalt erübrigte sich jetzt.

Voller Ehrfurcht berührte Nalumbin das hellbraune Leder, während sein Auge einen flachen Stein von ungewöhnlicher Farbe erfasste. Es war nicht der Schein des Feuers, der den Stein im Kästchen rosa schimmern ließ, es war der Stein selbst. Bis auf die Farbe unterschied er sich nicht von dem harten körnigen Gestein, wie es mit seinem grünlichen Grau in den Waldbergen vorkam, und in dem sich der Wald widerspiegelte.

Das Besondere aber an dem Stein waren seine Ritzzeichen: Die Köpfe von zwei vogelartigen Wesen, die mit großen kreisrunden Augen in entgegengesetzte Richtungen schauten; sie saßen auf lang gezogenen, geschwungenen Hälsen, die am Rand des Steins endeten. Zwischen beiden Köpfen ließ sich ein Kreissymbol aus vier Ringen erkennen. Die fremdartigen Bilder muteten seltsam an. Warum hatten die Vogelwesen keine Körper? Jetzt erst bemerkte Nalumbin, dass die Kante unter ihren Hälsen abgebrochen zu sein schien.

„Nalumbin! Wo bleibst du? Ich warte nicht länger!“ Es klang ungeduldig. Es war Jedaures Ruf.

Ein letzter Blick noch beim Verlassen von Jedaures Haus! An der Wand blinkten im Feuerschein Schallbleche und eine Lure auf! Mit dem überschäumenden Becher in der Hand rannte Nalumbin hinüber zu Jendurs Werkstatt, bemüht, nichts von dem edlen Tropfen zu verschütten. Als dann Jedaure einen tiefen Zug nahm, wiederholte Nalumbin die Frage, die ihm nach wie vor auf den Lippen brannte: „Warst du schon einmal im Südland?“

„Nein, aber ein alter Freund mit Namen Arfund ist mehrmals übers Weiße Gebirge in den Süden gezogen. Nicht nur in seinen jungen Jahren. Er kennt die Wege wie kein anderer. Über seine Reisen hat er mir viel und so ausführlich berichtet, dass ich am Ende meinte, selbst unterwegs gewesen zu sein. Noch immer sehe ich das Bild vom Langen See vor mir, das er mir geschildert hat: Tiefblaues Wasser zwischen steil aufragenden Bergen, die sich nach Süden bis zu den fruchtbaren, sonnigen Ebenen hinziehen. Zu jeder Jahreszeit ein Hauch von Frühling. Frisches Grün, saftige Uferwiesen! – Ich habe dir doch schon öfters von den Nachbarbergen unserer Waldberge im Nordosten erzählt ...“

„Du meinst die Tafelberge, deren Gipfel so aussehen als hätten die Götter sie auf halber Höhe abgeschnitten?“, fiel Nalumbin Jedaure ins Wort.

„Ja, so ist es! Östlich von diesem Gebirge, am Divone­fluss, gibt es Siedlungen, die an den alten, in alle Himmelsrichtungen führenden Handelswegen liegen. Hier befördern die Händler ihre Geräte, Waffen und Schmuck, aber auch Feuerstein, Gold, Glaspaste, Rohkupfer und lebensnotwendiges Salz. Dort, in der Thainesiedlung, diesem wichtigen Ziel- und Ausgangsort, ist mein Freund Arfund sesshaft geworden. Vor drei Sommern hat er mich besucht. Unser ganzes Dorf hat ihn angestaunt – er ist eine wilde Erscheinung. Erinnerst du dich noch?“

Oh, ja! Nalumbin erinnerte sich genau an den Besucher von damals. Nie zuvor hatte er einen solch abenteuerlich aussehenden Mann gesehen. Derbe Gestalt. Ein breiter, gedrungener Rücken, stämmige Beine und Arme. Gekleidet in Fell und zerfranstes Leder. Um den Hals ein Bündel von Raubtierzähnen, das ihm dieses wilde Aussehen verlieh.

„Auch die Völker des Südens scheuen den Weg nicht über das Weiße Gebirge, ebenso wenig wie mein Freund Arfund“, fuhr Jedaure fort.

„Zu den großen Handelsstätten bringen sie kostbare Keramik, Öl und feine Gewürze, die man nur mit Gold aufwiegen kann. Auch neues Handwerk in der Herstellung von Gerätschaften gelangen über diese alten Wege zu uns.“

Mit einer Handbewegung deutete Jedaure auf die offene Töpferwerkstatt. Dabei begann das Kettengehänge aus den vielen kleinen Bronzeringen an seinem Gürtel zu klingeln und er fuhr fort:

„Sieh her! Meine Ringe! Auch das Zinn, das zur Herstellung von Bronze benötigt wird, kommt von weit her aus den Landschaften im Westen an den Küsten des Großen Meeres. Du siehst, wie die Dinge sich vereinen. Das Ferne wird nah und das Nahe wird fern.“

Aus der Werkstatt drang Sprechgesang. Jedaure und Nalumbin sahen, wie sich Jendur nach getaner Arbeit auf den Boden setzte. In sich versunken, beschwor er nun mit seltsamen Lauten den schönen Krug, der vor ihm stand.

„Wird Jendur diesen Krug morgen opfern?“

„Ja, das wird er tun. Auf dem Sonnenberg wird er ihn im Schein der Mondin in eine Felsspalte werfen. Der Krug wird zerbersten, und jede Scherbe wird der Göttin geweiht sein. Doch hör! Jendur besingt den Krug. Er dankt der Göttin für die Erde, aus der er ihn schaffen konnte. Sein Loblied wird in jeder Scherbe klingen bis hin zum kleinsten Splitter. Keines Menschen Hand wird den Krug, wenn er erst zerbrochen ist, je wieder für sich nutzen können. Was für diesen Krug gilt, gilt auch für das Gold. Gold, das gehörte früher nur den Göttern. In diesen Tagen aber mehren sich die Schurken, die es den Göttern streitig machen. Der Glanz des Goldes widerspiegelt sich auf schlimme Weise in ihren Augen. Sie sind geblendet von Reichtum und Macht. Wehe uns, wenn diese Macht missbraucht wird. Dann ist das Unheil nahe, denn die Götter werden zürnen. – Doch jetzt lass' uns mit Freude auf den morgigen Tag blicken! Zum ersten Mal wirst du auf dem Sonnenberg durchs Feuer springen. Es ist das Feuer, in dem der Sonnenfunke wohnt!“

Diese aufmunternden Worte ließen das Bild des Herdfeuers in Jedaures Haus aufflackern. Nalumbin sah das Wandbrett mit dem Lederkästchen, das sich ihm unerwartet offen gezeigt hatte, und ohne nachzudenken, ob er ein Recht hatte, nach dem Sinn seines Inhalts zu fragen, brach es auch schon aus ihm heraus: „Jedaure! Das schöne Kästchen mit dem Schmetterling und dem Kleeblatt! Ich hab' hineingeblickt! Der Deckel war offen! Ich wollte nicht neugierig sein, aber der Stein mit den Vogelköpfen, er hat mich angeschaut! Was hat er zu bedeuten? Woher kommt seine rötliche Farbe?“

Es kam keine Antwort. Als Nalumbin den Blick hob, sah er in ein Gesicht, dessen Miene sich verfinsterte, so wie auch das Tageslicht schwand. Jedaures Hand umklammerte den treuen Begleiter, seinen Stab, als suche sie Halt. Nalumbin fühlte sich unwohl in seiner Haut. Warum hatte er sich nicht beherrscht und geschwiegen? Hatte er Jedaure mit seiner Neugier verärgert? Nalumbin fühlte sich schuldig. Er fror. Dann, nach geraumem Schweigen, sagte Jedaure:

„Du musst jetzt gehen!“

Als hätte Jedaure es geahnt, hörte der Junge auch schon die Stimme seines Vaters:

„Nalumbin! Komm endlich her!“, rief es durch die dunkle Gasse. „Der Karren belädt sich nicht von allein!“

„Ich komme, Vater!“

Eine Geste des Abschieds, dann ein letzter Blick in Jedaures Gesicht, und Nalumbin konnte nicht anders, als unschlüssig stehenzubleiben. Er sah, wie Jedaures Züge sich nach einem Schluck aus dem Becher plötzlich entspannten, und wie der Kummer einem nachsichtigen Lächeln wich. Da fielen Kälte und Unwohlsein von Nalumbin ab.

„Im Kästchen liegt die Erinnerung an meine Heimat, an längst Vergangenes. Im Stein hat es sich verkörpert!“

„Nalumbin! Wie lange sollen wir noch auf dich warten?“ In Jors Stimme schwang ein drohender Unterton.

„Geh', Junge!“, befahl Jedaure.

Im Begriff zu folgen, wandte sich Nalumbin noch einmal um. Sein Gesicht war von Schatten umspielt, und die Stimme zögerlich, beinahe ängstlich:

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