Kitabı oku: «Göttergold», sayfa 7
Tara
Es war am frühen Morgen, als Ardevi und Nalumbin mit ihren Tragekörben den Wald verließen. Eine von Licht durchflutete Landschaft lag vor ihnen. Zwischen unzähligen hellen Steinen wuchsen rot blühende Zwergsträucher und dazwischen säulenartige Nadelbüsche. Ihnen entströmte ein würziger Duft. Ardevi hielt an. Seinem Korb entnahm er ein Tuch, das er unter einem der schlanken Büsche ausbreitete.
Mit seinem Stock stocherte und klopfte er in das dichte Gezweig. Dunkle, blauschwarz schimmernde Beeren fielen heraus und sammelten sich auf dem Tuch. Nalumbin wies er an, dasselbe zu tun und die Beeren von den abgeschlagenen Zweigen zu befreien. Wie Nadeln stachen sie in die Finger. Gegen Mittag beendeten sie die Ernte. Die mit Beeren prall gefüllten Tücher banden sie zu Beuteln. Danach setzten sie ihren Weg fort. Ziel war das Haus des Torfstechers Ribor am Schwarzmoos.
Beim Näherkommen hörten sie das Aneinanderschlagen von Webgewichten. Sie erblickten die Silhouette eines Mädchens, das beim Weben vor der Hütte saß. Weizenhelles Haar leuchtete ihnen entgegen. Eine schlanke, junge Gestalt, in graues Tuch gehüllt; eine rote Blüte über der Brust; die feinen Hände über dem Fadengespinst des Webstuhls, die wie Schmetterlinge dahinflogen. Verstohlen schaute Nalumbin zu dem schönen Mädchen. Aus Augen, grün wie junge Buchenblätter, traf ihn ein freundlicher Blick. Wie aus weiter Ferne und doch nah hörte er Ardevis Stimme:
„Lass sehen, Tara, wie weit du mit dem Band gekommen bist!“
Die Mädchengestalt erhob sich. Prüfend beugte sich Ardevi über den Webstuhl. Seine Hand befühlte den dicht gewobenen Stoff.
„Blau wie der Himmel und rot wie der Klee“, sprach er.
„Du hast gute Farben und Muster gewählt.“
Nun trat auch Nalumbin an den Webstuhl. Für einen Augenblick berührten sich die Schultern der beiden jungen Menschen. Nalumbin spürte die Zeit rinnen, unwiederbringlich. Schauder erfüllten ihn. Ribor kam herbei.
„Arwe geht es besser“, sagte er.
„Auf dir ruht der Segen der Götter, Ardevi!“
Ohne zu erwidern begab sich Ardevi ins Haus und stellte den Korb ab. Ribor, Tara und Nalumbin waren ihm gefolgt. Ardevi trat an Arwes Lager. Er befühlte seine Gelenke. Diesmal gab der Junge keinen Schmerzenslaut von sich. Tara sah einen Ausdruck von Zufriedenheit in Ardevis Gesicht. Mit einem Lächeln schaute sie zu Ardevi auf.
„Ich wünschte, ich könnte mehr tun, als nur ein Band für dich zu weben, zum Dank, dass du meinen Bruder gesund machst.“
„Noch ist er nicht gesund, Tara, es wird noch dauern, bis die Schwellungen ganz abgeklungen sein werden. Aber du kannst mich bei der Bereitung der Medizin unterstützen. Was wir jetzt brauchen, ist Wasser. Nalumbin kann dir beim Wassertragen helfen. Und du, Ribor, hol' Moorerde.“
„Da, nimm!“, sagte Tara und deutete auf die Krüge über dem Herd. „Ich zeige dir die Quelle.“
Nalumbin folgte ihr. Leichten Schrittes ging sie voran. An der Quelle knieten beide nieder und schöpften Wasser. Auf Taras hellen Armen schimmerten Wassertropfen im zarten Flaum. Nalumbins Auge umfasste den schönen Mädchenkopf, die Schultern und die rote Blüte am Kleid.
Ein Gefühl, wie er es noch nie erlebt hatte, überschwemmte ihn. Sein Herz schlug rascher. Er hob die Hand und wollte ihr über die Wange streichen. Aber er tat es nicht. Neben der plätschernden Quelle verströmten Moos und Kräuter ihren Duft. Nalumbin sog ihn ein, durchdrungen von Sehnsucht und Wehmut.
Als Tara mit Nalumbin in die Hütte zurückkehrte, war Ardevi dabei, Arwes Lager für die Behandlung herzurichten. Nalumbins Korb entnahm er einen Bronzekessel und ganze Bündel an Farnblättern. Den kranken Jungen setzte er auf eine grob gezimmerte Bank. Tara strich ihm über das Haar und drückte seine Hand.
„Es wird alles wieder gut“, flüsterte sie ihm zu.
Ein schwaches Lächeln huschte über Arwes Gesicht. Nun bedeckte Ardevi Arwes Lager mit den Farnblättern. Tara trat an den Herd und schürte das Feuer. Hell loderten die Flammen. Nalumbin goss Wasser in den Kessel und setzte ihn aufs Feuer. Ribor schüttete die Moorerde hinein. Mit einem Stock rührte er sie zu einem dicken Brei. Arwe wurde entkleidet. Behutsam legten sie ihn auf die Farnblätter, die ihn wie einen grünen Kranz umgaben.
„Wie ein Waldmännlein“, dachte Nalumbin , „so stelle ich es mir jedenfalls vor.“
Mit dem Handrücken prüfte Ardevi die Wärme des Moorbreies. Er nahm den Kessel vom Herd und stellte ihn neben Arwes Lager. Im Raum war es feuchtheiß. Es roch nach Krankheit und gleichzeitig Heilkräftigem. Nalumbin brach der Schweiß aus. Am liebsten wäre er ins Freie gelaufen. Die Anwesenheit Taras jedoch hielt ihn fest. Er hätte es, um in ihrer Nähe zu sein, an jedem noch so dumpfen, engen Ort ausgehalten. In seinen Augen leuchtete es, wenn sich ihre Blicke trafen. Ein paar Mal hatte ihn Tara angelächelt, scheu und zart.
Noch einmal prüfte Ardevi die Wärme des Moorbreies, bevor er ihn auf Arwes nackten Körper packte. An Fuß-, Knie-, Arm-, Hand- und Schultergelenken trug er die Masse besonders dick auf. Hin und wieder stöhnte Arwe unter ihrer Glut. Seine helle Haut verschwand unter dem schwarzen Schlamm, und nur das Gesicht leuchtete weiß hervor. Reglos lag er da, mit einem wollenen Tuch zugedeckt, atmete tief und ruhig. Seine Züge entspannten sich. Bald schon fiel er in leichten Schlaf.
Den Zweig, den Ardevi vom Wacholderstrauch abgeschnitten hatte, entzündete er nun an den Flammen des Herdfeuers. Mit dem brennenden Zweig in der Hand bewegte er sich im Kreis durch den Raum. Würziger Rauch durchzog die Luft und verdrängte den Krankheitsgeruch. Ardevi öffnete die Tür und forderte Ribor, Tara und Nalumbin auf, sich nach draußen zu begeben. Nach einer Weile trat auch er hinaus. Tara fuhr mit dem Weben des Bandes fort. Am Nachbarhaus knarrte die Tür. Heraus trat eine Frau: Dilata.
„Wie geht es Arwe, kann ich etwas für ihn tun?“ In der Hand hielt sie einen kleinen Beutel.
„Es sind Steine darin“, sagte sie. „ Heilsteine für Arwe.“
Sie öffnete den Beutel, nahm einen Stein heraus und hielt ihn ins Sonnenlicht. Er leuchtete in hellem Blau.
„Aus dem Land meiner Kindheit. Wir nennen diese Steine ‚Augen des Wassers'. Sie besitzen die Kraft der Erneuerung. Da nimm!“, sagte Dilata und überreichte Ribor den Beutel. Dabei fiel der Stein zu Boden, den sie in der Hand gehalten hatte.
Dilata bückte sich, um ihn aufzuheben. Ardevi hatte dieselbe Absicht. Dilata aber war schneller und nahm den Stein wieder an sich. Sie kniete vor Ardevi. Nach einigem Zögern ergriff sie nun entschlossen Ardevis Hand und ließ den Stein hineingleiten.
„Für dich“, sagte sie und lächelte ein vertrautes Lächeln. Ardevi sah es. Der blaue Stein lag angenehm in seiner Hand. Dilata sprang auf und verschwand in ihrem Haus, genauso unerwartet, wie sie erschienen war. Als sich die Tür hinter ihr schloss, hatte Ardevi das Gefühl, als würde der Himmel an Licht verlieren, als würde sich etwas verlieren, das sich aus der Tiefe entzündet hatte. Der Nachmittag rundete sich, der späte Sommer war auf seine Höhe gestiegen. Schwer und heiß lag die Luft über dem Land.
„Zum Abend hin werden Unwetter aufziehen. Zuvor noch, wenn die Sonne im Westen über dem Findelfels steht, nehmt Arwe das Moor ab“, sagte Ardevi.
„Führt ihn zum Waschen zur Quelle. Er wird gehen können. Die Farnblätter werft erst morgen weg, weit weg vom Haus, ins Moor, um die Krankheit zu bannen und zu wandeln. Wendet zwei Mal am Tage die Salbe an und bereitet frischen Trank. In drei Tagen komme ich wieder.“
„Ich danke dir, Ardevi! Ich wünschte, ich wäre ein reicher Mann, um dich angemessen zu entlohnen. Gib uns die Ehre, unser bescheidenes Mahl mit dir zu teilen“, bat Ribor.
„Tara hat Honigbrot gebacken, und ein paar Schluck Beerensaft sind auch noch da.“
Bei diesen Worten spürte Nalumbin, wie der Hunger wieder nagte, und er hoffte auch etwas von Taras süßem Brot abzubekommen. Tara verschwand im Haus, um Brot, Wasser und Saft zu holen und die Gäste zu bewirten. Mit Bedacht kaute Nalumbin Bissen um Bissen, nicht gierig verschlingend wie sonst, sondern auskostend, denn es war Taras Brot, das er aß. Ihre Hände hatten es geknetet und geformt. Er glaubte ihre Hände an seinem Mund zu fühlen.
Nach der Mahlzeit traten Ardevi und Nalumbin den Heimweg an. Aus der Fensterluke des Nachbarhauses blickte ihnen ein blaues Augenpaar so lange nach, bis sie einen Weg einschlugen, der im Schatten von Felsen verschwand. Immer wieder hatte sich Nalumbin nach der kleinen Siedlung am Moor umgewandt. Gewitterstimmung lag über erntegelben Feldern, reifendes Wildobst säumte den Pfad, der Wald war voller Beeren. Nalumbin ergriff eine bisher nicht gekannte Wehmut beim Entschwinden der Häuser. Der Himmel aber wurde dunkler, und Ardevi schlug einen rascheren Schritt ein. Bald würde dieser Tag in der Nacht versinken.
Sie erreichten die Höhle, bevor sich das Gewitter entlud. Beim Steigen mit den Körben über die Leiter wandte sich Ardevi nach Nalumbin um und sagte unvermittelt:
„Du hast gut getragen. Von mir aus kannst du heute Nacht noch einmal hier bleiben! Kümmere dich ums Feuer!“
Dankend befolgte Nalumbin die Anweisung. Ardevi blies die Flöte. Ein ungestümer Wind riss die Töne mit sich fort. Mit einem Trunk Wasser versuchte Nalumbin sein brodelndes Inneres zu kühlen. Alles, was an diesem Tag geschehen war, zog noch einmal an ihm vorüber. Erlebt hatte er in Ardevi einen Mann, ganz anders als zuvor.
Die Strenge und Verschlossenheit, die er ihm gegenüber gezeigt hatte, war an diesem Nachmittag im Schwarzmoos Einfühlsamkeit und Umsicht gewichen. Nalumbin hatte das Bild vor Augen, wie Ardevi dem kranken Arwe mit sanften Händen und gütigen Worten Erleichterung verschafft hatte. Alle Härte war von ihm abgefallen.
Da wurde in Nalumbin plötzlich der Wunsch wach, sich dem rätselhaften und sonst so verschlossenen Menschen anzuvertrauen, auch wenn Ardevi seltsamerweise kein einziges Mal nach dem Grund von Nalumbins Erscheinen und seinem Ziel gefragt hatte. Als Ardevi die Flöte beiseitelegte, fasste sich Nalumbin ein Herz und fragte:
„Kennst du den Weg nach Thaine?“
„Warum?“
Da sprudelte es aus Nalumbin heraus. Die Worte überstürzten sich. Er berichtete Ardevi vom Überfall auf seine Siedlung, vom Tod seines Vaters, von der Flucht vor den Räubern und von seiner Verletzung, die ihn für Tage und Nächte an der Rückkehr in sein Dorf gehindert hatte. Er zeichnete das Bild von der niedergebrannten, menschenleeren Lomer-Siedlung. Er erzählte vom Beschluss seiner Sippe, über das Weiße Gebirge ins Südland zu ziehen ...
Stumm hatte Ardevi während der Erzählung des Jungen ins Feuer gestarrt. Nur der Name ‚Arfund' ließ ihn den Kopf heben, als wäre dieser ihm bekannt, doch erwiderte er nichts. Seine Miene verschloss sich, wie so manches Mal zuvor, und so schwieg auch Nalumbin. Ardevis Augen wanderten hin und her zwischen dem Licht, das über die rußgeschwärzte Höhlendecke züngelte, und dem flackernden Feuer.
Nalumbin wusste, dass die weisen Männer aus Flamme, Geknister und der Richtung des Rauches die Zukunft ableiteten. Ob es ein solches Ritual war, das Ardevi vollzog, fragte er sich. Vor der Höhle sank die Dämmerung. Ein Seufzer entrang sich Nalumbin. Ardevi betrachtete den in Gedanken versunkenen Jungen.
Er spürte seinen Kummer, seine aufgewühlten Gefühle. Mit angezogenen Knien, die Arme um sie gelegt, saß dieser vor ihm. Die Erinnerung hatte Nalumbin mit einer solchen Wucht getroffen, dass es tief schmerzte. Eine unstillbare Sehnsucht nahm Besitz von ihm. Die Sehnsucht nach den Seinen, nach Aithes warmer Hand, nach Suri, deren blonde Löckchen er um ihr rosiges Gesicht fliegen sah. Wo waren sie jetzt? Waren sie noch am Leben? –
Es waren die immer wiederkehrenden bohrenden Fragen! Trauer stand in seinem Gesicht. Seine Schultern zuckten.
Ardevi sah es. Er erhob sich und entnahm einer Wandnische einen Krug. Er füllte einen Becher und reichte ihn Nalumbin, mit der Aufforderung, ihn in einem Zug zu leeren. Nalumbin gehorchte. Bald schon zeigte sich die Wirkung des Tranks.
Die Verkrampfung seines Körpers löste sich. Die Anspannung fiel von ihm ab. Bleierne Müdigkeit überkam ihn und entließ ihn bald schon aus der wirklichen Welt hinein in einen Traumschlaf, durch den die heimatlichen Bilder gaukelten. Dann aber schob sich leise das Bild eines blonden Mädchens dazwischen. Er sah die rote Blume, wie sie auf ihn zukam, größer und größer werdend.
Er sah die Augen, grün schimmernd, in denen goldene Fünkchen aufblinkten. Auch sie kamen näher, wurden größer und tanzten wie zarte, wärmende Flämmchen auf seinem nächtlichen Traumpfad ...
Die Tore von Thaine
Draußen, vor der Höhle, lockte der Tag, drinnen löste sich nur langsam die Nacht, während Ardevi am Steintisch den Göttern huldigte. Dann begann er mit der Bereitung der Grütze. Sie bestand aus Einkorn, Schmalz, Spindelwurz, Lauch und einem Bröckchen Salz. Kräuterduft stieg nicht nur beim Umrühren aus dem dampfenden Kessel über dem Feuer, sondern auch in Nalumbins Nase beim Erwachen. Wortlos reichte ihm Ardevi eine Schüssel voll mit der sämigen Suppe. Nalumbin schlürfte sie gierig.
Verstohlen betrachtete der Junge seinen Gastgeber, wie er mit regloser Miene ins Feuer starrte. Noch immer wurde kein Wort gesprochen. Nalumbin glaubte die Gedankenschwere hinter der Stirn des Mannes förmlich zu spüren. Was mochte wohl in ihm vorgehen? Welcher Sache oder wem galten seine Gedanken?
Als die Spannung kaum mehr zu ertragen war, entfaltete sich Ardevis kühles Gesicht und bekam Wärme. Der schroffe Zug um den Mund verschwand. Er hob den Kopf. Ein offener Blick traf Nalumbin, als er sagte:
„Du kannst mitkommen! Ich bringe dich deinem Ziel näher! Wir brechen auf, sobald die Sonne den Höhlenrand erhellt. Zuvor mach' sauber!“
Während sich Ardevi in der hintersten Felsnische zu schaffen machte, reinigte Nalumbin voller Aufregung und mit flatternder Hand den Kessel und die Gefäße mit den Wedeln des Schachtelhalms, die er anschließend ins Feuer warf.
Er hörte, wie Ardevi packte. Es raschelte, knisterte und klang hölzern, und manchmal klirrte es leise. Dann hörte er das Quietschen von Korbdeckeln. Und dann wusste er, dass sie Ware befördern würden. Wohin nur?
„Ich bringe dich deinem Ziel näher!“, tönte es noch immer in seinen Ohren. Sein Herz schlug schneller. Wo war das Ziel?
Ardevi erschien mit den Tragekörben. Er löschte das Feuer und machte Zeichen darüber. Die Körbe geschultert, verließen sie die Höhle über die Leiter und verbargen sie in ihrem Versteck. Dunkelgrüne Kühle erwartete sie, als sie in den Wald hineinwanderten, vorbei an üppigen Farnen und weichen Moospolstern.
Mit unruhigem Herzen stapfte Nalumbin hinter Ardevi her. Wohin würde Ardevi ihn bringen? Wann würden sich ihre Wege trennen? Es war dieser Gedanke, der ihm Kummer bereitete. Was würde danach auf ihn zukommen, wenn er wieder ganz auf sich allein gestellt wäre? Noch sättigte Ardevis nahrhafte Grütze seinen Magen, aber der Hunger würde ihm bald schon wieder auflauern.
Da war nichts, das er besaß, um es gegen ein Stück Brot zu tauschen. Und doch war er reich an Besitz, reicher als es sich die meisten Menschen vorstellen konnten. Er trug die Heiligtümer der Lomer und der Talischen bei sich. Sie aber waren über jeden Tausch erhaben. Sie gehörten den Göttern.
Er erinnerte sich an eine Erzählung von Jedaure über ferne Länder, weit, weit weg von kühlen Wäldern und schützenden Dächern. Jedaure hatte von Landschaften gesprochen, in denen nichts wuchs, kein Halm, kein Blatt; schattenlose Landschaften, in denen es nichts anderes gab als nur Sand, ausgedörrt von Sonne und ewigen Winden.
Er hatte das Bild gezeichnet von reisenden Händlern, wie sie durch die Einöde zogen, die sie „Wüste“ nannten, beladen mit wertvoller Ware. Doch ganz gleich, wie kostbar ihre Güter waren, sie nutzten ihnen nichts, wenn sie für sich und ihre Tiere kein Wasser fanden. Ganz gleich, ob aus Gold und Silber, ihre Waren hatten dann keinen Wert mehr, denn sie ließen sich nicht trinken. Es war allein das Wasser des Lebens, das dann zählte. Nun erst wurde Nalumbin die volle Bedeutung von Jedaures Bericht bewusst. Er selbst erfuhr es jetzt am eigenen Leib. Er war reich und doch bettelarm zugleich, so wie die Menschen in der Wüste ohne Wasser.
Es war Nachmittag, als die Wanderer den Wald verließen und eine steinige Hochfläche erreichten. Wolken verschleierten die Sonne. Hinter einer Biegung des Pfades, der leicht abwärts führte, sahen sie in der Ferne Rauch aufsteigen. Ardevi deutete darauf und sagte:
„Wir sind bald am Ziel. Die Siedlung der Firan! Dort werden wir uns trennen! Von dort aus musst du ohne mich weiter!“
Ardevi sah den schmerzlichen Zug um den Mund des Jungen. Seine Hand legte sich beruhigend auf Nalumbins Schulter. Es war eine Geste, die von Zuversicht sprach. Dann steuerte er mit raschem Schritt voran, in dem Entschlossenheit lag. Nalumbin folgte.
Der Wind frischte auf. Er trug die Geräusche eines geschäftigen Alltags herüber: Hammerschläge, rollende Wagenräder, Befehle aus Männerkehlen, Kinderlärm, Hundegebell und das Gemecker von Ziegen und Geblöke von Schafen und das Brüllen der Rinder. Die Wolken hatten sich zu einer grauen Decke geschlossen. Dünner Sprühregen fiel vom Himmel.
Als Ardevi mit Nalumbin den Rand der Siedlung erreichte, riefen ihm ihre Bewohner schon von Weitem ihren Gruß entgegen. Sogleich machte die Nachricht von seiner Ankunft die Runde. Retir, der Dorfführer wurde verständigt. Er empfing Ardevi auf dem Dorfplatz und hieß ihn willkommen. Die Frauen und Mädchen, die unter der Linde saßen und Schuhe und Umhänge flickten, ließen ihre Arbeit ruhen. Ihre Blicke galten nicht nur der kraftvollen Erscheinung Ardevis, sondern auch den beiden Tragekörben.
Was alles mochten sie diesmal enthalten? Die Mädchen in Nalumbins Alter starrten mit unverhohlener Neugier auf den gut gewachsenen fremden Jungen und tuschelten und kicherten. Aus Türen und Luken überflogen spähende Blicke den Hofraum. Kaum erkannt, dass es sich bei dem Besuch um Ardevi handelte, eilten die Firan aus Werkstätten, Häusern und Ställen herbei.
Ardevi und Nalumbin stellten die Körbe ab. Und wie schon zuvor bei Ardevis letztem Besuch reichte Retirs Frau dem Gast den Becher mit dem schäumenden Gärgetränk, der danach die Runde unter den Männern machte.
„Wer immer von euch diesen köstlichen Tropfen braut, er versteht sein Handwerk meisterlich!“, sagte Ardevi.
„Es ist kein Er“, sagte Retir.
„Es ist eine Sie. Meine Frau! Zusammen mit den Kindern sind ihr keine Wege zu weit und zu beschwerlich, um Holder, Schlehen, die roten Butten und den Honig herbeizuschaffen.“
Ardevi verbeugte sich vor Retirs Frau, öffnete den Deckel seines Korbes und überreichte ihr zum Dank ein paar blaugrün schimmernde Glasperlen. Retirs Frau errötete vor Stolz und schenkte nach.
„Da gerade die Rede von Wegen ist“, sagte Ardevi.
„Wann bringt ihr wieder Ware zur großen Thainesiedlung?“
„In frühestens zwei Tagen. Warum?“, fragte Retir.
„Könnt ihr meinen jungen Begleiter mitnehmen? Er will nach Thaine zu einem Mann namens Arfund. Kennt jemand von euch Arfund?“
Da trat einer von den Umstehenden zu Ardevi. Eine löwenartige, lehmfarbene Mähne umgab seinen Kopf. Unter einem gelblichem Bart versteckte sich der Hals auf breiten Schultern. Die wasserhellen Augen blickten scharf, als könnten sie selbst Wände durchdringen. Um seine Mitte trug er einen breiten Ledergürtel, an dem eine Reihe zauberkräftiger Gegenstände baumelten: gelochte Steine, Vogelkrallen, Fetzen von Schlangenhaut und kleine Beutel mit geheimen Inhalten.
„Ich kenne Arfund aus Zeiten, als ich noch die weiten Wege bereiste“, sagte der Mann.
„Damit ist es aber längst vorbei. Es sind die Knie, die nicht mehr so recht wollen. Doch bis nach Thaine schaffe ich noch immer unsere Warenlieferungen, zusammen mit Haber, dem Wagner.“
Ardevi griff erneut in seinen Korb. Während er dem Mann ein kleines Gefäß reichte, sagte er:
„Salbe ist drin. So scharf wie dein Blick. Schmier deine Knie zwei Mal am Tag damit ein! Du wirst sehen, es hilft. Wie ist dein Name?“
„Ruro!“, antworte der Mann. „Doch was bin ich dir und deiner Heilkunst schuldig?“
„Wenn du diesen Jungen mit nach Thaine nimmst, bist du mir nichts schuldig, Ruro. Er heißt Nalumbin und stammt aus den Waldbergen.“
Und zu Retir gewandt, sagte Ardevi: „Bist du einverstanden? Kann er mitfahren? Er wird sich nützlich machen, so wie ich ihn kenne!“
Retir nickte und sagte: „Dir einen Gefallen tun zu können, ist mir eine Ehre, Ardevi!“
Retir und Ardevi gaben sich die Hand, und damit war der Handel abgemacht. In höchster Anspannung hatte Nalumbin das Gespräch zwischen Ardevi und dem Sippenführer verfolgt. Das also war Ardevis Plan gewesen! Nalumbin fiel ein Stein vom Herzen. Bis vor wenigen Augenblicken hatte er noch geglaubt, den Weg nach Thaine, den er nicht kannte, allein antreten zu müssen, und doch war ihm geteilt zumute, auf der Kippe zwischen Dankbarkeit, Hoffnung und Wehmut. Es war soweit. Der Abschied von Ardevi rückte näher.
Nun wurden die Körbe geleert und die Waren verteilt. Diesmal waren es neben ein paar Salben vor allem getrocknete Kräuterbüschel, Heilsteine, Baumrinden und die langen Reiser der Erle.
Die Kräuterbüschel waren für die Ställe bestimmt. Sie dienten dem Schutz der Tiere gegen Flöhe, Wanzen, Mäuse und anderem schädlichem Getier.
Mit der Rinde der Erle würden die Firan Leder schwarz gerben. Die Reiser der Erle standen auch für Erneuerung, für die Überwindung aus dem Schattenreich in das Sonnenreich. Sie wurden über die Lager der Kranken gehängt.
Ardevi hatte die Pflanzen vor Tagen früh am Morgen gesammelt. Er hatte sich ihnen von Westen her genähert, das Gesicht nach Osten gerichtet. Zum Ritual hatten auch Zauberworte gehört, mit denen er dem Pflanzengeist erklärte, warum und wozu er sein Kraut benötigte, und in der Hoffnung, dass der Geist ihm nicht zürnen möge.
Noch am selben Nachmittag brach Ardevi auf, versehen mit Speck, Brot, Talg und Schmalz und einem prallvollen Lederschlauch mit dem edlen Gärgetränk von Retirs Frau. Der Korb, den Nalumbin getragen hatte, blieb vorerst bei den Firan. All die leeren Tongefäße, die Beutel und Schilfkästchen würden darin aufbewahrt werden. Ardevi würde sie bei einem späteren Besuch wieder mitnehmen, darunter auch die Töpfchen, die er im Schwarzmoos für die Heilung von Ribors Enkel zurückgelassen hatte und um deren Rückgabe er Ribor gebeten hatte.
Nalumbin begleitete Ardevi noch ein Stück weit aus der Siedlung. Unter einer alten, knorrigen Föhre nahmen sie Abschied.
„Ich kann dich nicht nach Thaine begleiten“, sagte Ardevi.
„Ich habe Ribor versprochen, dass ich mich während der nächsten Tage um den kranken Arwe kümmern werde!“
Ardevi reichte Nalumbin die Hand und drückte sie fest, dass es fast schmerzte. Dann stapfte er davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Mit einem wehen Zug um den Mund sah ihm der Junge lange nach, bevor er zu den Firan zurückkehrte, um sich nützlich zu machen. Würde er Ardevi jemals wiedersehen?
Nalumbin wurde in Retirs Haus aufgenommen. Retirs Frau bereitete ihm einen Schlafplatz unter dem tief herabgezogenen und schützenden Dach. Nach getaner Arbeit und nach einer bescheidenen Abendmahlzeit, zu der Nalumbin eingeladen war, verkroch er sich auf sein Lager.
Mit dem Aufsteigen der Mondin kehrte Ruhe in die Siedlung ein. Die Vögel waren verstummt. Hin und wieder schlugen die Hunde an. Nalumbins Gedanken schweiften in die Ferne zur Divonesiedlung und zu Cerin. Wie lange lag es zurück, seit er, ähnlich wie jetzt, unter Rudans Dach genächtigt hatte? Es schien ihm eine Ewigkeit her zu sein, und doch wusste er, dass es nur Tage waren. Fallain trat in seine Gedanken, und er sah sich mit ihm auf dem Rumpf des Bootes sitzend, wie er ihm ein Stück Talglicht und das Kästchen aus Schilfgeflecht geschenkt hatte. Und er hörte noch einmal seine Abschiedsworte.
„Ich bin gewiss, du wirst es schaffen!“
„Ja, ich werde es schaffen!“, flüsterte er vor sich hin. Er setzte seine ganze Hoffnung auf Arfund. Arfund war die Brücke zu den Seinen. Jetzt musste er nur den Mut aufbringen, um die Geister der Nacht, die da draußen irgendwo lauerten, aus seinem Denken zu vertreiben. Als sich ihm dann Retirs Hund zu Füßen legte, fiel die Angst von ihm ab, die sich bei Einbruch der Dunkelheit leise herangeschlichen hatte. Hatte der Hund seine Verlassenheit gespürt? Nun empfand er eine plötzliche Freude beim Gedanken an den übernächsten Tag, der ihm Thaine ein Stück näherbringen würde. Dann begann er zu träumen.
Die Gestalt Ardevis erschien ihm, wie er durch Wald und Flur schritt, auf der Suche nach heilenden Pflanzen, und er sah Cerin, wie dieser ihm beim Aufbruch aus der Divonesiedlung nachgewunken hatte. Dann schob sich das Bild eines schönen Mädchens dazwischen und wollte nicht weichen. Es war Tara.
Zwei Tage später trieben kalte Winde Schwaden von Nebeln vor sich her. Regenwolken hingen tief herab. Die Geräusche eines anbrechenden Morgens drangen aus der Siedlung. Der für Thaine bestimmte Karren stand bereit, voll bepackt, die Ochsen angespannt. Ruro und Haber riefen sich gegenseitig Befehle zu. Sie spannten eine Plane aus Tierhaut über den Karren. Nalumbin zog seine Kappe dichter in die Stirn. Retir verabschiedete den kleinen Trupp und bat um gute Tauscherlöse.
Was die Firan brauchten, waren Werkzeuge wie Hammer, Meißel, Sägen, Seile und Feilen, im Tausch gegen zugeschnittenes Bauholz, Wagenräder, Dachschindeln und hölzerne Tröge. So kurz geraten und stämmig Ruro war, so hochgewachsen und hager war im Gegensatz zu ihm sein Begleiter, der Wagner Haber.
Die Stirn über dem schmalen Schnurrbartgesicht verschwand fast ganz unter einer breiten Kappe. Auch die Glatze, die rosa glänzte, wenn er die Kappe abnahm, was selten vorkam. Seine Augen blickten freundlich und sein Mund umspielte ein gutmütiges Lächeln. Er mochte den Jungen, den sie nach Thaine mitzunehmen hatten. Gestern hatte er ihm den ganzen Tag in seiner Werkstatt geholfen, und er hatte sich im Umgang mit Holz als geschickt erwiesen.
Es war an der Zeit aufzubrechen. Die Peitschen knallten. Die Ochsen brüllten und zogen an. Der Wagen rumpelte aus der Siedlung. Die Männer und Nalumbin gingen zu Fuß. Die Last auf dem Wagen war zu groß, um noch drei Menschen mitzubefördern.
Das Zwielicht des nebligen Morgens lag wie ein Schleier über der Landschaft. Der Pfad stieg leicht an. Es begann heftig zu regnen. Der Pfad weichte auf, und die Tiere kamen nur mühsam voran. Die Räder hinterließen tiefe Spuren im Morast.
Nalumbin trottete hinter dem Wagen her. Der Hunger nagte. Er dachte an Ardevis Grütze von vorgestern und meinte ihren Geschmack auf der Zunge zu spüren. Er versuchte den Gedanken daran zu verjagen, aber es gelang nicht, und der Weg schien ihm endlos. Die Schuhe waren nasskalt und schmutzig.
Als dann irgendwann der Himmel heller wurde und die Wolken auseinandertrieben und sich plötzlich eine Flut von Sonnenlicht über Tier und Mensch ergoss, drang der Ruf Habers erlösend an sein Ohr:
„Zeit für Mittag!“
Ruro hielt die Tiere an. Auch sie bekamen Futter. Haber verteilte Brot, Schmalz, gekochtes Bohnenmus und getrocknete Äpfel. Im Nu war Nalumbins Missstimmung verflogen. Freude sprang ihm aus dem Gesicht. Haber sah es und dachte zurück an die Zeit, in der er in Nalumbins Alter gewesen war und ständigen Hunger gehabt hatte.
Ohne dass Ruro es merkte, schob er dem Jungen noch ein Stück Brot zu. Dies erinnerte Nalumbin erneut an Fallain, wie er ihm am Feuer der Händler das Brot zugeworfen hatte. Aus seiner Heimat kannte Nalumbin den Brauch, jedem Besucher Brot und Salz als Freundschaftsgeste und zum Zeichen der Friedfertigkeit zu reichen. In den Häusern der Lomer und der Talischen durfte der sich fortpflanzende saure Teig als Urstoff des Backens nicht ausgehen. Er wurde genauso gehütet wie das Herdfeuer.
Der Weg, der sie von der Firansiedlung aus stets nach Osten entlang der Hochflächen über der Divone geführt hatte, fiel nun in steilen Windungen zum Fluss ab. Dort, an seinen Ufern, wurde der Pfad deutlich breiter. Am frühen Nachmittag mehrten sich die Händler, die nach Thaine unterwegs waren. Andere wiederum befanden sich auf dem Rückweg. Die einen zu Fuß, mit Tragekörben oder Holzgestellen auf dem Rücken, die anderen mit Zugtieren und Karren. Es war eine bunt gemischte Gesellschaft, die sich auf Wegen traf, die aus allen Richtungen zur großen Marktsiedlung führten, vorbei an eingezäunten Gehöften im Umland von Thaine.
Eine Furt durch die am Fuß der Höhensiedlung fließende Divone ermöglichte ihre Überquerung für die Reisenden, die von der anderen Seite des Flusses von Osten her auf Thaine zusteuerten. An der gleichen Stelle erwies sie sich auch für flache Boote schiffbar. Dies war von großem Vorteil. Sie war der Dreh- und Angelpunkt der Handelswege, und jede feindliche Bewegung war von der Höhensiedlung aus rechtzeitig auszumachen.
Die Acker- und Viehbauern aus der Umgebung aber waren mit der Nahrungsversorgung Thaines stark gefordert. Die Einen gelangten zu Wohlstand und Reichtum, die Anderen gerieten mehr und mehr in die Schuld von Thaines Herren. Es war eine Zeit angebrochen, in der das Gold nicht mehr allein den Göttern gehörte.
Der Weg hinauf zum Bergsporn, auf dem die Siedlung lag, bedeutete für die Tiere mit dem schwer beladenen Wagen eine letzte Anstrengung. Ruro und Haber trieben zur Eile. Ihre Waren sollten unverzüglich ihre neuen Besitzer finden. Der Tauschhandel verlief nicht immer reibungslos, wie sie aus Erfahrung wussten. Ihr Plan war es, dass sie noch am selben Tag die Höhensiedlung verlassen würden.