Kitabı oku: «Kalte Zukunft», sayfa 9
Die Villa war ein regelrechter Stützpunkt, und Giacomo schloss nicht aus, dass sie eigens für diese Mission erbaut worden war, denn sie war noch nicht von dem rankenden Wein befallen, der überall an den kleineren Gebäuden nahe des Anlegestegs emporspross. Die Anordnung und Planung der Räumlichkeiten erinnerte ihn an eine Militärkaserne. Alles war so angelegt, dass eine reibungslose Missionsplanung gewährleistet war. Allmählich gefiel es ihm.
»Ich wurde ermächtigt, Sie auf Ihr Zimmer zu führen.« Scholz war für einen Augenblick verschwunden gewesen und hatte Giacomo staunend zurückgelassen, nun stand er wieder vor ihm. »Wenn Sie möchten, können Sie vorher noch eine Mahlzeit in der Küche einnehmen. Alle weiteren Erklärungen folgen morgen.«
Giacomo lehnte ab, Hunger verspürte er keinen. Scholz geleitete ihn über einen Korridor zu seinem Zimmer mit der Nummer 17.
»Ich wünsche ein angenehme Nachtruhe.« Mit diesen Worten verschwand er und ließ Giacomo alleine zurück. Warum schloss man ihn nicht ein? fragte er sich. Die Antwort waren in die Tür eingelassene Bewegungsmelder, die sofort anschlagen würden, sollte er den Raum verlassen – sie auszutricksen war ohne technische Hilfsmittel so gut wie unmöglich.
Sein Quartier war stilvoll eingerichtet und verfügte neben einem großen Himmelbett über einen 3D-Fernseher sowie einen begehbaren Kleiderschrank, in dem sich eine komplette Herrengarderobe einschließlich Schuhe befand.
Im Badezimmer wusch sich Giacomo das Gesicht unter kaltem Wasser. Plötzlich kamen ihm erste Zweifel, ob seine Entscheidung richtig gewesen war. Die Villa war beeindruckend und der erste Eindruck bestätigte die Professionalität der Auftraggeber, doch konnte er eine unterschwellige Besorgnis nicht mehr leugnen. Alles schien eine Spur zu groß für ihn zu sein. Mit welchen Leuten hatte er sich da nur eingelassen, und worum mochte es bei dem Auftrag gehen? Früher hatte er nie darüber nachgedacht und alles so hingenommen, wie es war. Damals hatte er rundliche Firmenchefs von gegenüberliegenden Parkdecks mit einem Scharfschützengewehr ausgeschaltet oder Industriespionage betrieben. Mit einer derart einfachen Tätigkeit konnte er in diesem Fall wohl kaum rechnen.
Im Schlafzimmer stellte er sich breitbeinig vor das Panoramafenster und genoss den Ausblick. Er war hier, daran konnte er nun nichts mehr ändern. Bald schon würde die Sonne aufgehen, Zeit zum Schlafen. Ohne sich auch nur die Mühe zu machen, aus seinen Klamotten zu schlüpfen, legte er sich aufs Bett und schlief sofort ein. Ein Segen, der ihm nie verwehrt blieb.
Kapitel 19
11. Mai 2023
Deutschland
Frankfurt am Main
Schwacher Sommerregen prasselte gegen das Fenster seines Schlafzimmers und weckte ihn, noch bevor der Wecker anspringen konnte. Shane O’Brien erwachte und fühlte sich seit langer Zeit wieder richtig ausgeschlafen. Nicht wie in den vergangenen Wochen, wo er schweißgebadet alle halbe Stunde hochgeschreckt war, nur um in eine Pistolenmündung zu blicken, die gar nicht existierte – nicht mehr existierte … Das Erlebnis war real, das Bild hatte sich in seine Netzhaut eingebrannt. Immer, wenn er die Augen schloss, blickte er in diesen schwarzen Abgrund.
Er hatte es nicht kommen sehen, nicht damit gerechnet, dass Wagner auf ihn schießen würde. Noch heute fragte er sich, was der Attentäter damit bezweckt hatte. Er würde es wahrscheinlich nie erfahren, und diese Ungewissheit nagte an ihm, raubte ihm den Schlaf, den Freiden, den er mit sich geschlossen zu haben glaubte.
Die Dusche konnte an diesem Morgen überhaupt nicht genug warmes Wasser für ihn bereithalten. Er war wach, aber nicht wirklich da, lebte in der Vergangenheit, träumte lieber von den Dingen als sie zu erleben. Wie lange schon war er nicht mehr Schwimmen gewesen, hatte sich vom Wasser tragen lassen? Es wurde Zeit, sein Leben wieder in die Hand zu nehmen.
Heute war Donnerstag. Oder Freitag? Jedenfalls standen ihm zwei freie Tage kurz bevor und er nahm sich vor, sie in vollen Zügen zu genießen. Wenn man dem Tod ins Auge geblickt hatte, wurde einem plötzlich bewusst, wie einzigartig und vielfältig das Leben doch war. Ein Geschenk! Als er in der Sahara langsam verblutet war, hatte er sich an das Leben geklammert, im Stillen geschrien und an dem letzten Rest des schwindenden Lichts festgehalten. Er hatte gekämpft und gesiegt, sich an der Rettungsleine seiner Existenz emporgearbeitet, bis er wieder ins Licht getreten war. Er hatte überlebt!
Fast zwei Monate hatte dieser Kampf angedauert; in dieser Zeit waren die Intensivstation und danach ein Einzelzimmer im Frankfurter Privatklinikum seine Heimat gewesen. Vor etwa einem Monat hatten sie ihn schließlich entlassen. Die Wunde war gut verheilt, auch wenn sie hin und wieder noch schmerzte. Die Ärzte nannten es Phantomschmerzen – es tat trotzdem höllisch weh!
Während er ans Bett gefesselt gewesen war, hatte er viel Zeit gehabt, über das Geschehene nachzudenken. In all den Stunden des Dahinvegetierens war ihm jedoch keine brauchbare Eingebung gekommen. Er tappte weiterhin im Dunkeln, konnte Wagner nicht in Zusammenhang mit der Sabotage der Fotovoltaik-Anlage bringen. Es ergab einfach keinen Sinn. Hawkes Enterprises war überzeugt, dass Wagner im Auftrag der Extremisten gehandelt hatte, die das Solarkraftwerk ein für alle Mal von der Erdoberfläche tilgen wollten Aber dem Unternehmen schien es auch zu genügen, dass Wagner in Haft saß. Damit war das Ganze für sie erledigt. Fall abgeschlossen!
Als man Shane am Krankenbett seine Habseligkeiten gebracht hatte, war die Disc mit darunter gewesen. Niemandem war aufgefallen, dass sie nicht ihm gehörte – wie auch? Shane war felsenfest überzeugt, dass die Disc der Schlüssel war: der Schlüssel zu Allem. Doch als er sie zum ersten Mal in seinen Rechner eingelegt hatte, war rein gar nichts passiert. Die Disc enthielt Daten, sogar eine ganze Menge, allerdings waren diese nicht nur passwortgeschützt, sondern auch auf eine spezielle Weise verschlüsselt, was seine privaten Hackerfähigkeiten bei Weitem überforderte. Wenn er herausfinden wollte, was sich darauf befand, würde er auf fremde Hilfe zurückgreifen müssen. Was bedeutete, jemand Außenstehenden ins Vertrauen zu ziehen.
Er befand sich in einer Zwickmühle, und zudem fühlte er sich schuldig, weil er wissentlich Beweismaterial unterschlagen hatte. Sollte er etwas Relevantes in Bezug auf Hawkes Enterprises herausfinden, würde er selbstverständlich dafür sorgen, dass dem Unternehmen die Informationen zugespielt wurden. Vielleicht war das der ideale Vorwand, um Estella wiederzusehen, die ihn zwar nach der Verlegung ins Frankfurter Klinikum pflichtschuldig besucht, sich danach aber nie wieder hatte blicken lassen. Weder sie noch Patrick waren erreichbar, und dabei hatte sich Shane so auf ein Treffen mit seinem alten Freund und Mentor gefreut.
Patrick war für ihn dagewesen, als es ihn am schwersten getroffen hatte: nach dem Tod seines Vaters. Es verging kein Tag, an dem Shane nicht an ihn gedacht hätte, und auch seine Mutter Mary hatte für immer einen Platz in seinem Herzen gefunden. Oft zogen längst verblasste Erinnerungen an das alte Weberhaus in Canterbury an Shanes innerem Auge vorbei. Dann sah er sich selbst an der Treppe stehen und auf die Rückkehr seines Vaters warten, der oft wochenlang auf diplomatischen Missionen das Ausland bereiste. Auch heute noch, nach dreißig Jahren, ertappte sich Shane manchmal dabei, wie er in seinem eigenen Haus auf dem Treppenabsatz stehen blieb und in den Hausflur hinabschaute – doch sein Vater würde nie mehr zur Tür hereinkommen.
Nach dem Tod seiner Eltern hatte sich Shane entschlossen, das malerische Haus zu verkaufen. Zu viele Erinnerungen waren damit verbunden – gute wie auch schlechte. Er war erleichtert gewesen, als die neuen Besitzer eingezogen waren.
Schlurfend verließ er das Schlafzimmer, ließ ausnahmsweise das Arbeitszimmer aus, um direkt in die Küche zu gehen. Neben der Treppe an der Wand hingen einige Fotos, die ihn und seine größten Erfolge verewigten. Da war er auf dem Siegertreppchen der britischen Schwimmmeisterschaften, dort vor der Universität Oxford, wo er sein Diplom in ›Internationalen Beziehungen‹ in der Hand hielt.
Es gab viele Momente in seinem Leben, auf die er stolz sein konnte, doch mit zunehmendem Alter verloren diese Erfolge an Bedeutung. Er hatte etwas erreicht, vielleicht nicht das, was er eigentlich hatte erreichen wollen, aber immerhin etwas. Er ging seiner Arbeit nach und das ausnahmslos effizient. Wem konnte er schon erzählen, dass er irgendwann einmal die Schwimmmeisterschaften gewonnen oder ›Internationale Beziehungen‹ studiert hatte? Marginalen, nichts weiter! Er hätte die Bilder ebenso gut abhängen können.
Doch jedes Mal, wenn er die Rahmen berührte, wurde er durch eine eigenartig nostalgische Gefühlsregung davon abgehalten. Diese Momente waren ein Teil seines Lebens und er hatte alles Recht der Welt, stolz darauf zu sein. Oder wurde er auf ›seine alten Tage‹ etwa noch sentimental? Shane schnaubte verächtlich und versuchte die Schmerzen in seiner Brust zu ignorieren, die beim Betrachten der Bilder schlagartig eingesetzt hatten. Es war nicht gut, wenn er sich aufregte.
Was in der Sahara geschehen war, hatte ihn verändert. Es fiel ihm nicht leicht, sich das einzugestehen, aber er war nicht länger der Mann, der vor knapp drei Monaten unter der sengenden Wüstensonne Afrikas niedergeschossen worden war. Nebensächlichkeiten, denen er früher nicht einmal ein müdes Lächeln geschenkt hätte, bestimmten jetzt sein Leben. Es war ernüchternd, frustrierend. Im Spiegel erkannte er sich nicht mehr wieder. Als wäre ihm der Teil seiner Persönlichkeit genommen worden, dem er seine Standfestigkeit, seine festen Überzeugungen verdankte. Du bist ein Kriecher geworden, ein alter, sentimentaler Kriecher, dachte Shane.
Er öffnete den Kühlschrank: prall gefüllt. In welch einem Luxus er doch lebte! Nichts davon war selbstverständlich, nicht mehr … seit er das Krankenhaus verlassen hatte, erledigte seine Haushälterin für ihn die Einkäufe. Sie hatte auch während seiner Abwesenheit nach dem Rechten gesehen und das, obwohl mindestens zwei Gehaltszahlungen ausgestanden hatten. Shane hatte das Versäumte inzwischen selbstverständlich nachgeholt und sich entschuldigt, doch die alte Dame hatte ihn nur angelächelt und gesagt, dass sie keinen aufrichtigeren Menschen kenne als ihn. Ein Strauß Blumen und ein Präsentkorb hatten ihr Gesicht zum Strahlen gebracht.
Shane setzte Teewasser auf und ging mit einer Halbliterpackung Milch hinüber ins Wohnzimmer, wo er den Fernseher einschaltete. »Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit den Tagesthemen«, tönte es aus den Lautsprechern. Obwohl vor einigen Jahren befürchtet worden war, dass die Öffentlich-Rechtlichen hinter den zahlreichen erfolgreichen Privatsendern würden zurückstecken müssen, war genau das Gegenteil eingetreten. Womöglich lag es daran, dass die fähigen Nachrichtensprecher durch unfähige attraktive Nachfolgerinnen ersetzt worden waren – wie sein Journalistenkollege Uwe stets zu sagen pflegte: »Das Auge guckt schließlich mit.«
»In einer Sitzung des Bundestags wurde gestern Abend erstmals über einen Austritt aus der ›Europäischen Union‹ debattiert.« Shane verschluckte sich, während sein Gehirn das Aufgenommene verarbeitete, an seiner Milch. »Bundeskanzler Theodor Arndstadt und Vizekanzlerin Albrecht beriefen eine Sondersitzung ein, die im Laufe des heutigen Tages beginnen soll.
Bereits letzten Monat wurden offizielle Forderungen betreffend der Wiedereinführung der ›Deutschen Mark‹ laut. Nicht nur rechtsextremistische Gruppierungen und Parteien befürworten die Äußerungen der Politiker. Aber sowohl Arndstadt als auch Albrecht sprachen sich öffentlich dagegen aus und betonten, dass sie es niemals so weit kommen lassen würden. Beide vertreten einen liberal-demokratischen Standpunkt, den zu verteidigen …«
Shane hörte nicht mehr hin. Vor zehn Jahren hatte er selbst noch angenommen, die EU würde die einzelnen Mitgliedsstaaten schwächen, was vor allem daran gelegen hatte, dass zu diesem Zeitpunkt noch keine tiefgreifenden Reformen in Kraft getreten waren. Heute hingegen war die EU stabil, hatte schwere Finanzkrisen, wie beispielsweise die von Griechenland, mit Bravour überwunden und steuerte nun auf einem gradlinigen Erfolgskurs. Shane sah keine Veranlassung, das Gleichgewicht durch unausgegorene Ideen ins Wanken zu bringen.
In der Redaktion war sicherlich gerade die Hölle los. Eilig schlang er sein Sandwich herunter, zog sich an und verließ ohne Umschweife das Haus – das entspannende Wochenende konnte er sich abschminken.
Der Regen hatte aufgehört und nur noch ein Nieseln erfüllte die frische, nach Blumen duftende Luft. In seinem Vorgarten blühten rote und weiße Rosen und verbreiteten ein unvergleichliches Aroma.
In der Garage wartete der Aston Martin sehnsüchtig darauf, wieder gefahren zu werden. Ein gutes Auto war wie ein Pferd: Erhielt es nicht genügend Bewegung, ging es ein.
Fast schon zärtlich strich Shane über die Holzverkleidung im Innenraum, ehe sein Finger den Startknopf berührte und der kräftige Motor summend zum Leben erwachte. Es gab einen guten Grund, warum er Aston Martin treu geblieben war und nicht in irgendeiner anderen Luxuskarosse durch die Gegend fuhr: Der britische Automobilhersteller beharrte auf dem traditionellen Bild eines Autos. Während sich das Design anderer Wasserstofffahrzeuge an Raumschiffen alter Science Fiction-Serien zu orientieren schien, blieb der Aston Martin, was er war: ein Auto, nicht mehr und nicht weniger. Auch wenn die Motorisierung eine vollkommen andere als noch vor zehn Jahren war, blieben das Chassis und die Inneinrichtung von damals erhalten.
Er ließ das Wohngebiet Sachsenhausen hinter sich, folgte der Darmstädter Landstraße und fuhr in Richtung Innenstadt über die Untermainbrücke. Vor ihm ragten die Frankfurter Hochhäuser in den Himmel. Eine Weltmetropole, die alle Bereiche über Finanzen, Messen, Handel, Medien bis hin zu Kultur und Literatur abdeckte. Als Shane die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen hatte, war Frankfurt seine neue Heimat geworden und seitdem hatte er seinen festen Wohnsitz nie gewechselt. Frankfurt bot ihm alles, was er brauchte.
Ohne den dichten Verkehr wäre die Stadt perfekt, dachte er, während er versuchte, auf die linke Spur überzuwechseln. Keine Chance, ein geschwindigkeitsberauschter Mercedesfahrer brauste rücksichtslos an ihm vorbei, mit weiteren Fahrzeugen im Gefolge. Mit eingeschaltetem Radio folgte Shane daher gesittet der rechten Spur, bis das Redaktionshaus in Sichtweite kam.
Kapitel 20
Giacomo Salvadore war ein gestandener Mann und Schwerverbrecher, doch das, was er soeben erfahren hatte, brachte selbst ihn aus der Fassung. Mit seiner Vermutung, die Sache wäre eine Nummer zu groß für ihn, hatte er gar nicht so falsch gelegen. In Wirklichkeit war sie jedoch mehrere Nummern zu groß. So groß, dass ihm der Auftrag wie ein Jackett 64er-Größe haltlos von den Schultern hing. Die Möglichkeit, das Jackett umzutauschen beziehungsweise es zurückzugeben bestand nicht mehr. Die Widerrufsfrist war abgelaufen.
Mit angehaltenem Atem verließ er das runde Besprechungszimmer und die fünfzehn Augenpaare, die ihm zweifellos hinterherstarrten. Scholz war bereits zur Stelle und schloss behutsam die schwere Mahagonitür.
»Wie ist es gelaufen?«, erkundigte er sich beiläufig beim Hinuntergehen. Für ihn gehörte Giacomo nun zur Familie, und um die Familie kümmerte man sich.
»Bestens!«, erwiderte Giacomo ironisch, aber nicht so, dass man es negativ auffassen konnte.
»Schon in Ordnung, ging mir auch so, als ich eingeweiht wurde. Wir tun alle, was wir tun müssen. Einfach ist es trotzdem nicht immer.«
Giacomo nickte zustimmend, ohne richtig hingehört zu haben.
»Setz dich erstmal.« Scholz drückte ihn auf einen Barhocker in der Küche und reichte ihm einen Drink: Scotch mit Eis! Zwar eine Todsünde, aber es beruhigte Giacomos Nerven.
»Noch ein Glas Wasser, bitte!«
»Oh ja, natürlich.« Scholz umrundete den Tresen und kramte in einem der Küchenschränke, um ein weiteres Glas zum Vorschein zu bringen. »Wenn ich fragen darf, Giacomo, welchen Part wirst du übernehmen? Ich weiß, ich gehöre nicht zum Team, aber ich werde mit für die Koordination verantwortlich sein. Die Chefs werden mich sicherlich noch aufklären, aber es kann nie schaden, Details von den Leuten persönlich zu erfahren.«
Er redete schnell und ohne Pause, eine Angewohnheit, die er erst seit heute Morgen an den Tag legte oder besser gesagt, der er seit heute Morgen freien Lauf ließ. Giacomo konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Scholz etwas vor ihm verbarg. Etwas an den Zügen des Deutschen machte ihn stutzig, und wenn er genauer darüber nachdachte, erschien das schnelle Reden fast schon aufgesetzt. Gestern noch war die Wortwahl des Mittelsmannes gewählt gewesen und hatte eine kühle Distanziertheit zum Ausdruck gebracht, was auch mit seinem Erscheinungsbild übereingestimmt hatte. Sie waren zwei Fremde gewesen – doch kaum vierundzwanzig Stunden später behandelte ihn Scholz wie einen ›Familiare‹, obwohl Scholz überhaupt kein Italiener war.
Wenn Giacomo es sich recht überlegte, gab es hier ohnehin nur drei Italiener, sich selbst eingeschlossen. Die beiden anderen saßen oben im Besprechungszimmer.
Unwillkürlich musste er an die zurückliegende Konferenz denken, wenn man diese unrechtmäßige Zusammenkunft überhaupt so nennen konnte. Während ihm die bunt zusammengewürfelten Fremden seinen Auftrag erläutert hatten, hatten sie ihn ungeniert taxiert und mit messerscharfen Blicken seine Reaktionen studiert. Es waren Menschen, deren Lebensinhalt darin bestand, andere Menschen zu analysieren, um aus deren Verhalten Rückschlüsse auf zukünftige Entscheidungen ziehen zu können. Das war es, was seine neuen Auftraggeber verband – denn ihre Nationalitäten hätten verschiedener nicht sein können: Europäer, Amerikaner, Russen, Asiaten, Afrikaner … Die Frage schien eher, wer nicht vertreten war und was fünfzehn Männer aus allen Teilen der Welt dazu veranlasste, ein gemeinsames Ziel zu verfolgen.
Giacomo kannte die Antwort seit wenigen Minuten, und das Wissen darum lastete ab jetzt wie eine schwere Bürde auf ihm, so als würde er es schon Jahre mit sich herumschleppen.
»Ich bin für die technischen Aspekte zuständig«, sagte er nach einer Weile des Schweigens.
»Ein Physiker also.«
»Ich habe fünf Jahre studiert. Willst du wissen, warum ich mein Geld lieber mit dem Töten anderer Menschen verdiene und nicht, wie ich eigentlich sollte, an der Universität?«
»Immer raus damit, rede es dir von der Seele. Ich bin ein guter Zuhörer, wollte mal Psychologie studieren.« Phillip Scholz verstummte, als er Giacomos genervten Gesichtsausdruck bemerkte. »Entschuldigung, erzähl weiter.«
Der Italiener nahm einen Schluck Wasser, dann spähte er durch die restliche Flüssigkeit im Glas, um fasziniert an der Lichtbrechung hängen zu bleiben.
»Ich hatte vor, in Experimentalphysik zu habilitieren, um an der Universität lehren zu dürfen. Mein Gehalt wollte ich bestmöglich anlegen, denn mein langfristiges Ziel war ein eigenes unabhängiges Forschungszentrum. Die ersten drei Jahre meines Studiums verliefen noch wie geplant: Ich arbeitete hart und schloss meinen Bachelor summa cum laude ab. Mein Traum schien Wirklichkeit zu werden, doch sollte es die Regierung sein, die mir einen Strich durch die Rechnung machte.
Während meiner ersten Wochen im siebten Semester kam es zu drastischen Veränderungen in der Bildungspolitik. Die Förderung, die ich vom Staat erhalten hatte, war schon immer knapp bemessen gewesen, doch durch die neuen Reformen rutschte ich förmlich über Nacht auf die Straße. Lehrbücher sind teuer, vor allem, wenn man in die höhere Materie einsteigen will. Ein Buch war mit einer kompletten Tankfüllung zu vergleichen. Ich musste mich zwischen Nahrung und Bildung entscheiden.
Du kannst dir wohl vorstellen, dass ich mich für die Bücher entschied; das Studium an dieser Stelle abzubrechen hätte bedeutet, ohne Ausbildung dazustehen, denn ohne Masterabschluss besaß das Physikstudium keinen Wert. Allerdings kommt der Mensch auch nicht ohne Nahrung aus.«
Giacomo verstummte.
»So geht es vielen von uns«, sagte Scholz vorsichtig. »Die Politiker behaupten, unzureichende Bildung führe zu Kriminalität. Aber wer sorgt denn dafür, dass viele erst gar nicht zur Schule gehen können?«
Giacomo stimmte ihm zu. »Du hast recht. Meine Eltern haben mich rausgeworfen, als ich siebzehn Jahre alt war. Ich wusste nicht, an wen ich mich wenden sollte, habe es aber trotzdem geschafft, an der Universität angenommen zu werden. Und dann? Ich war gezwungen, zu stehlen, weil der Staat mir mein letztes Hemd auszog.«
Giacomo erschrak, wie ehrlich er war. Wie kam er dazu, einem fast Fremden so offen aus seinem Leben zu berichten?
»Wir sitzen alle im selben Boot«, versicherte ihm Scholz aufrichtig.
Warme Sonnenstrahlen fluteten die Küche und tauchten sie in ein gemütliches Licht. Die Fenster an der Ostseite der Villa wurden für einige Augenblicke so stark angestrahlt, dass sie fast undurchsichtig schienen. Giacomo, der allmählich wieder klar denken konnte, stieg vom Barhocker und begab sich zu einer kleinen Sitzecke, wo er für eine Weile die Augen schloss.
»Ich weiß, was dir gerade durch den Kopf geht«, behauptete Phillip, während er nach etwas Essbarem suchte.
»Und? Woran denke ich?« erwiderte Giacomo, ohne die Lider zu öffnen.
»Du bist in Gedanken noch immer bei der Konferenz und fragst dich, ob das, was unsere Auftraggeber vorhaben, gerechtfertigt ist. Habe ich recht?«
Giacomo wurde hellhörig. Es wirkte zu sehr nach einer Fangfrage, und er war zu lange im Geschäft, um in eine so offensichtliche Falle zu tappen.
»Sie zahlen gut. Es ist nicht an mir, zu urteilen.«
»Richtig erkannt, Signor Salvadore.« Die Stimme gehörte einem der Männer aus dem Konferenzzimmer. Er musste auf dem Treppenabsatz gelauscht haben und kam nun herunter. »Es gibt Menschen, die Befehle erteilen, und solche, die sie ausführen. Sie gehören zur zweiten Kategorie; es freut mich, dass Sie das akzeptieren.«
Er betrat den Raum und richtete sein Wort kurz an den Deutschen. »Halte dich mehr zurück, Phillip, du überschreitest gehörig deine Kompetenzen!« Ein drohender Unterton schwang mit.
Ohne Übergang wandte er sich wieder Giacomo zu, der sitzengeblieben war und ihn mit unbeweglicher Miene ansah.
»Signor Salvadore – oder darf ich Sie Giacomo nennen?« Giacomo bejahte. »Innerhalb der nächsten vier Tage werden die drei weiteren Mitglieder Ihres Teams eintreffen. Ich schlage vor, Sie studieren bis dahin deren Dossiers genau, denn Sie werden die Operation leiten, weshalb es besonders wichtig ist, dass Sie sich mit Ihren Teamkollegen vertraut machen. Ihre exakten Instruktionen erhalten Sie dann von einem Kontaktmann. Phillip wird Sie nächste Woche aufs Festland begleiten, wo das versprochene Labor auf Sie wartet. Wir erwarten, dass Sie eine saubere Lösung finden werden.«
»Eine saubere Lösung«, wiederholte Giacomo. »Natürlich.«
Der Mann reichte ihm eine Mappe. Giacomo schlug sie auf und erblickte, wie er es erwartet hatte, eine rot eingekreiste Photographie.
»Dann wirst du die Bandage wohl wieder lösen müssen«, meinte Scholz augenzwinkernd, näherte sich der Sitzecke und riskierte einen kurzen Blick.
Sekunden später verhärteten sich seine Gesichtszüge, was Giacomo im Gegensatz zu seinem Auftraggeber nicht entging. Er schloss daraus, dass Scholz die Person kannte.
Nachdenklich betrachtete Giacomo das Bild des etwa Fünfzigjährigen mit den feinen, aber doch sichtbaren Falten genauer. Er musste Europäer sein: Deutscher, Franzose, Engländer?
Aufmerksam las er die zweite Seite.
Name der Zielperson: Shane O’Brien.
Alter: 53.
Aufenthaltsort: Frankfurt am Main, Deutschland.
»Wird erledigt«, sagte er nur und klappte die Mappe zu.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.