Kitabı oku: «Was ist Glaube?», sayfa 3

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|27| 2. Glaube als Identitätskriterium einer Gemeinschaft
Forschungsgeschichte

Schon Adolf Schlatter hob hervor, dass der Glaube Unterscheidungsmerkmal und Identitätsbegriff ist: Der Glaube hob sich »als das hervor, was den Unterschied zwischen denen macht, die in, und denen, die außer der Gemeinde sind. Nicht als die Genossenschaft der Hoffenden oder Liebenden oder Wissenden, sondern als die der Glaubenden trat sie [sc. die Gemeinde] auf.«89 Schlatters Formulierung erinnert an zentrale Aussagen der sogenannte »New Perspective on Paul«, die freilich andere Exegeten als Schlatter zu ihren Wegbereitern zählt (z. B. Albert Schweitzer). Die v. a. in der angelsächsischen Exegese verbreitete neue Sicht auf Paulus weist mit Nachdruck auf die soziologischen Voraussetzungen und Implikationen der paulinischen Lehre von der »Rechtfertigung aus Glauben« hin. Sie tut dies in Abgrenzung zu einer vermeintlich anthropozentrischen und antijüdischen Paulusinterpretation, die ihren Ausgangspunkt bei Augustin nehme und über Luthers Frage nach dem individuellen Heil in Bultmanns existentialer Hermeneutik kulminiere.

So polemisierte Krister Stendahl scharf gegen die Innerlichkeit und Introspektive der westlichen Geistesgeschichte seit Augustin und bezeichnet sie als »Western plague«90. Paulus’ Rechtfertigungslehre sei keine Polemik gegen jüdische Werkgerechtigkeit, sondern diene lediglich seiner Absicht, den Heiden Zugang zum Gottesvolk zu ermöglichen. Nach E. P. Sanders zeichnet sich die paulinische Theologie durch zwei Komponenten aus: das »Heidenproblem« und »Ausschließlichkeit der […] Soteriologie«; sie »sind für die Entthronung des Gesetzes verantwortlich«.91 Die Logik der paulinischen Soteriologie habe auch soziologische Konsequenzen: »Wenn das Heil nur in Christus kommt, darf niemand einem anderen, wie auch immer beschaffenen Heilsweg folgen.«92 Der Glaube an Christus ist der neue Heilsweg; allein die Zugehörigkeit zu Christus verschafft Heil. James Dunn, auf den der Begriff »New Perspective on Paul« zurückgeht, hält fest, dass Paulus seine Aussagen zur Rechtfertigung aus Glauben aus der Sicht der Heidenmission getroffen habe. Im Zentrum paulinischer Theologie liege die Frage, ob und wie Heiden |28| von Gott angenommen werden können – und die Überzeugung, dass Gottes Gerechtigkeit allen zuteilwird, die glauben. Paulus gehe es in seiner Verkündigung um nichts weniger, als die Schranken zwischen Juden und Heiden zu durchbrechen.93 Die in der jüdischen Frömmigkeit und Identität zutiefst verwurzelte Auffassung von der exklusiven Erwählung Israels äußert sich nach Dunn insbesondere im Halten der Gebote, die jüdische Prärogative verbürgen: Beschneidung, Speisehalacha und Sabbatobservanz. Paulus kritisiere diese »identity markers« jedoch nur dann, wenn sie sich gegen Gottes Gnade stellten, was in Galatien der Fall gewesen sei. Erst so sei es zur theologisch wie soziologisch bedeutungsvollen Antithese von »Glaube« und »Gesetzeswerken« gekommen.94

Zu der Frage, in welchem Verhältnis die frühchristlichen Gemeinden zur jüdischen Gemeinde standen, sind zunächst zwei sich prinzipiell ausschließende Meinungen zu nennen: Einerseits steht die These im Raum, dass die ersten Christen gänzlich unter der Autorität der Synagoge geblieben seien und dass Paulus von einer untrennbaren Verknüpfung zwischen dem Christusglauben und der Verpflichtung zur Halacha ausging.95 Demgegenüber halten andere dafür, dass Paulus seine Leser zu einem finalen Bruch mit der jüdischen Gemeinschaft aufgerufen und die christliche Reformbewegung bewusst in eine »Sekte« umgeformt habe, deren Ethos durch den Glauben definiert sei.96

Die Mehrheit der Forscher nimmt jedoch an, dass Paulus weder die Heidenchristen unter das Dach der Synagoge ziehen noch deren Abspaltung von der Synagoge provozieren wollte. Zwar verstand sich Paulus bis zuletzt als »Hebräer von Hebräern« und kämpfte »rastlos für die Einheit von Juden- und Heidenchristen«; doch die »fundamentale Relativierung von Elementen, die der überwiegenden Mehrheit seiner jüdischen Zeitgenossen unaufgebbar erschienen« führte dazu, dass er »vielleicht am meisten dazu beigetragen [hat], dass es zur Trennung zwischen der immer mehr heidenchristlichen Kirche und dem Judentum kam«.97 Das Christusereignis verschob das bisher gültige Koordinatensystem: Nunmehr kommt dem Glauben allein die entscheidende soteriologische und ekklesiologische Bedeutung zu.

Zu einem entsprechenden Ergebnis gelangt auch Axel von Dobbeler, der in dezidierter Abwendung von Bultmann und noch unbeeinflusst von der neuen Paulusperspektive eine »Ekklesiologie des Glaubens« entwirft: »Pistis |29| ist für Paulus ein zentrales Kennzeichen der christlichen Gemeinden, das Abgrenzung sowohl gegenüber Heiden, als auch gegenüber Juden ermöglicht, der Gruppe ihre Identität verleiht und so deren wesentlicher Stabilisationsfaktor ist.«98 Es handle sich bei der »pistis nicht um ein neues Selbstverständnis, sondern um ein neues Gruppen- bzw. Gemeinschaftsverhältnis der vor Gott (im Blick auf Erwählung und Gerechtigkeit) Gleichgestellten«.99

Exegese

Die ekklesiologische Eigenart des Glaubens liegt in seiner (exklusiven) Ausrichtung auf Jesus Christus begründet, welche eine Identität stiftet, »die alle alltagsweltlichen Status- und Ethosdifferenzen hinter sich lässt«, und »eine Gemeinsamkeit herstellt, die die Differenz zwischen Juden und Heiden umgreift […] und die Christen von den nichtchristlichen Juden und Heiden signifikant unterscheidet«.100 Schon in seinem ersten Brief bezeichnet Paulus die Christen mithilfe eines absoluten Partizips als »die Glaubenden« (1Thess 1,7; 2,10.13). Diesen Sprachgebrauch behält er auch in den folgenden Briefen bei. »Das Wort Glaube bekommt […] besonders in seinen Partizipialformen […] eine ekklesiologische Funktion, was sprachgeschichtlich die spätere Verbreitung des Begriffs zu einem Synonym für Religion vorbereitet, aber keineswegs schon vorwegnimmt.«101

Die Frage, ob die Zulassung der Heiden(christen) zum endzeitlichen Gottesvolk von der Einhaltung der Gebote abhängig zu machen oder ob der Glaube alleiniges Kriterium sei, stellte sich der urchristlichen Mission, sobald sie sich den »Völkern« zuwandte (vgl. Röm 1,16: »zuerst den Juden, dann den Griechen«). Dabei scheint schon früh eine beschneidungsfreie Heidenmission praktiziert worden zu sein (vgl. Apg 10,1–11,18); wie den »Gottesfürchtigen« erließ man den Heiden(christen) die Pflicht, sich beschneiden zu lassen, und senkte so die Schwelle zu einer vollgültigen Teilhabe am Heilsgeschehen. Diese Praxis trug wesentlich dazu bei, dass die Zahl der Heidenchristen stetig wuchs, verursachte aber auch Auseinandersetzungen mit toraobservanten Juden und Christen und forderte zum weiteren theologischen Nachdenken heraus.102 Ein Reflex dieses Nachdenkens ist der bereits zitierte |30| »Lehrsatz« Röm 3,28, der mit großer Wahrscheinlichkeit eine bereits vor Paulus vorhandene Grundeinsicht aufgreift.103 In diesem Vers spiegelt sich zwar die soziale Dynamik der Rechtfertigungsbotschaft wider (vgl. Röm 3,29–30), doch trägt die theologische bzw. soteriologische Perspektive deutlich den Ton. Denn voraus geht Paulus’ Analyse der menschlichen Situation vor Gott, die alle unter der Macht der Sünde und Ungerechtigkeit sieht und die Werke des Gesetzes für soteriologisch irrelevant erklärt (Röm 1,18–3,20). An der im Forschungsüberblick referierten »New Perspective on Paul« wurde zu Recht kritisiert, dass sie die radikale Ausweglosigkeit des Menschen heruntergespielt und die theologische Gewichtung der paulinischen Rechtfertigungslehre (wie sie in Röm 3,28 zum Ausdruck kommt) unterschätzt habe.104

Maßgeblich ist in diesem Zusammenhang auch die typologische Bedeutung der Rechtfertigung Abrahams als der Rechtfertigung des Gottlosen (Röm 4,5): Ohne die Besonderheit der jüdischen Erwählung zu leugnen, betont Paulus die universale Vaterschaft Abrahams, die vor der Unterscheidung zwischen »beschnitten« und »unbeschnitten« grundgelegt wurde und die allen Glaubenden ohne Unterschied gilt (Röm 3,22; 10,12). Dem Glauben Abrahams kommt somit im Rahmen der identitäts- und stabilitätsstiftenden Funktion des Glaubens eine besondere Rolle zu. Er präfiguriert nicht nur den Glauben des einzelnen Menschen, sondern ist zugleich bestimmendes Merkmal für die Zugehörigkeit zum Gottesvolk. »Da nun die Schrift voraussah, dass Gott die Völker aus Glauben gerecht machen würde, hat sie dem Abraham das Evangelium im Voraus verkündigt: ›In dir werden alle Völker gesegnet werden‹ [Gen 12,3]. Also werden die aus dem Glauben Lebenden gesegnet, zusammen mit dem glaubenden Abraham« (Gal 3,8–9). »Sofern die pistis nämlich ein ekklesiologischer Begriff ist, will Paulus in diesen Stücken zum Ausdruck bringen, dass Abraham der Typus des neuen Gottesvolkes ist. Abraham ist also gewissermaßen das präexistente Glied der Ekklesia, er ist ekklesiologische Gestalt.«105

|31| Der Begriff »Glaube« fasst also die Identität und Lebensweise der paulinischen Gemeinden zusammen. Im Modus des Glaubens sind wir nach Paulus Teil des Gottesvolkes, »Hausgenossen des Glaubens« (Gal 6,10) und Mitglied in der familia Dei: »Denn ihr seid alle Söhne und Töchter Gottes durch den Glauben in Christus Jesus« (Gal 3,26).

Wenn Paulus den Glauben Abrahams aufs Engste mit der Völkerverheißung verbunden sieht, dann lässt dies kein Verständnis des Glaubens im Sinne einer reinen Innerlichkeit zu. In der Sprache der Reformation hieße das: Das Wort, das zum Glauben ruft, ergeht immer als »leibliches Wort«, also als äußerliches, mündliches und öffentliches Wort. Die seit dem 18. Jahrhundert geläufige Rede vom Glauben als einer »Privatsache« geht wohl darauf zurück, dass sich der Glaube angesichts der »mörderischen Öffentlichkeit« der Religions- und Bürgerkriege ins Private und Innerliche zu retten suchte.106 Doch ist der Öffentlichkeitscharakter für den Glauben schon immer konstitutiv gewesen, und seit den Anfängen des Christentums dokumentiert er sich in den Zusammenkünften der »Gemeinschaft der Glaubenden«. »In allen [neutestamentlichen] Texten ist vorausgesetzt, dass es sich um eine irdische Gemeinschaft handelt, die den Ruf zur Nachfolge und zum Glauben gehört hat, die sich an vielen Orten sammelt und um ihre Zusammengehörigkeit weiß.«107

Verstehenshorizont

Die in den Texten des Paulus erkennbar werdende Bestimmung des Glaubens als nach innen verbindendes und zugleich nach außen abgrenzendes Kennzeichen christlicher Identität lässt nach dem »intertextuellen Gewebe« zurückfragen, in welches diese Rede vom Glauben eingebunden ist, aber auch nach charakteristischen Abweichungen und Neugestaltungen von geläufigen Vorstellungen seiner Zeit.

Im Judentum galt Abraham durchweg als Stammvater (vgl. Röm 4,1) und Identifikationsfigur des Volkes Israel. Seine Beschneidung, das »Zeichen des Bundes« (Gen 17,11), den Gott mit ihm und seinen Nachkommen geschlossen hat, wurde nach dem Exil »zur exklusiven nota Iudaica«108 und sein bis zum Äußersten gehender Gehorsam (Gen 22) wurde zum Symbol der Treue, wie Gott sie gegenüber seinen Geboten erwartet.109 Philo (ca. 15 v. Chr. – 50 n. Chr.) |32| und andere vertraten gar die Auffassung, dass sich Abraham an die vollständige (wenngleich noch »ungeschriebene«) Tora hielt.110 Die Beschneidung und die damit untrennbar verbundene Toraobservanz sonderten die Juden von den Völkern ab und erzeugten ein tief gegründetes Bewusstsein der Zusammengehörigkeit. Der paulinische Argumentationsgang, dass dem Glauben aufgrund seiner zeitlichen Priorität gegenüber der Beschneidung auch sachliche Priorität zukommt, hat im Judentum keine Parallele und erweist die Neuheit und Kühnheit der paulinischen Deutung.

Die auch von Paulus verwendete Bezeichnung »die Glaubenden« bzw. »die Gläubigen« ist in jüdischen Texten einerseits als theologisch-ethischer Identitätsbegriff in Abgrenzung zu den Gottlosen aus dem eigenen Volk111 sowie als soziologischer Identitätsbegriff in Abgrenzung zu Andersgläubigen (Heiden)112 anzutreffen.

Im pagan-hellenistischen Bereich galt die pistis als ein maßgebliches Element, »das den sozialen Verband der Großfamilie (oikos) konstituierte und stabilisierte; die pistis band die Hausgenossen in enger Solidarität und Loyalität zusammen.«113 Im Imperium Romanum genoss die »Treue« als höchstes Staatsprinzip besonderes Ansehen und »fungierte […] offenbar über einen weiten Zeitraum hinweg und zumal im 1. Jh. n. Chr. innerhalb wie außerhalb Roms als eine Art identity marker römischer Kultur und Herrschaft«.114 Plutarch beispielsweise kommt in seiner Biographie des Titus Flaminius auf die Hochschätzung der fides in Rom zu sprechen. Dieser hatte entscheidend zur Befreiung Griechenlands aus der Hand der Makedonier beigetragen und schließlich Griechenlands Freiheit proklamiert. Plutarch berichtet, wie der Chor der Mädchen in einer Hymne (aus der Zeit um 190 v. Chr.) den Göttervater Zeus (Jupiter), die Göttin Roma, Flaminius und auch die (deifizierte) Fides preist: »Wir verehren die Pistis der Römer, die gewaltige, zu schützen mit Eiden […]«115 So wurde die fides »ein zentraler Begriff im röm[ischen] Leben u[nd] Denken. […] Fast alle Arten von Bindungen, von Abhängigkeits- und Loyalitätsverhältnissen (zwischen den Römern selbst u[nd] gegenüber anderen Völkern, ebenso zu den Göttern) waren durch F[ides] charakterisiert.«116 Auf diesem Hintergrund kann man zu Recht fragen, ob die überproportionale |33| Dichte der Glaubensterminologie im Römerbrief einen dort geläufigen Topos adressatenspezifisch aufnimmt.117 Zumindest wird Paulus’ Erhebung des Glaubens zum Zentralbegriff des christlichen Ethos und Gottesverhältnisses bei seinen Rezipienten nicht ohne Resonanz geblieben sein.

|34| 3. Glaube als »göttliche Geschehenswirklichkeit«
Forschungsgeschichte

Paulus denkt den Glauben also nie ohne seinen Gemeinschafts- und Öffentlichkeitscharakter; er fasst ihn nirgends im Sinne einer reinen Innerlichkeit oder radikalen Individualisierung auf. Doch Paulus geht nach Meinung einiger Exegeten noch einen Schritt weiter: Glaube ist ein eschatologisches Phänomen. Allerdings nicht in dem bei Bultmann zu findenden Sinne, nach dem »die konkrete Realisierung der Glaubensmöglichkeit des Einzelnen […] selbst eschatologisches Geschehen« sei.118 Hier wird der Gedanke des Eschatologischen verkürzt auf einen eschatologischen Augenblick, der dem Einzelnen gewährt wird und in dem er zu sich selbst und zum Glauben findet: »In jedem Augenblick schlummert die Möglichkeit, der eschatologische Augenblick zu sein. Du musst ihn erwecken.«119

Ausgehend von seinen Beobachtungen zum paulinischen Gebrauch der pist-Terminologie, zieht Ernst Lohmeyer weitreichende Schlüsse. Den Glaubensbegriff kennzeichne eine eigentümliche »Doppelheit«: er sei sowohl menschliche »Tat« als auch »metaphysisches Prinzip«120; als solches sei er »im gleichen Sinne Offenbarung, wie Christus es ist«. Die enigmatische Wendung »Christusglaube« klärt sich nach Lohmeyer daraus: »Es ist nicht nur der Glaube, den Christus hat, auch nicht nur der, den er gibt, sondern vor allem der Glaube, der er selber ist.«121 Nach Lohmeyer erhebt Paulus den Glauben »zu einer objektiv gültigen und transzendenten Macht« und reduziert den Gläubigen zum »reine[n] Schauplatz«. »Man könnte scharf sagen: nicht ich glaube, sondern es glaubt in mir.«122

Auch wenn Lohmeyers Zuspitzungen und seine philosophische Terminologie bisweilen kritisiert wurden, griffen eine Reihe von Exegeten seine exegetischen Erkenntnisse auf und führten sie weiter. So urteilt Fritz Neugebauer: »Man muss E. Lohmeyer hier besser verstehen, als er sich ausgedrückt hat. So darf ich vorausschicken, dass man das, was E. Lohmeyer mit ›metaphysischem Prinzip‹ sagen will, besser als eschatologisches Geschehen bezeichnet, |35| sofern es in diesem Zusammenhang darum geht, dass der Glaube kommt und geoffenbart wird.«123 In Abgrenzung zu Bultmanns hermeneutischer Methode – der »konsequente[n] existentiale[n] Interpretation«124 – hebt Neugebauer hervor, dass von der pistis »wie von dem eschatologischen Heilsereignis selbst gesprochen werden kann«, dass also »der Glaube mit dem Christusereignis kam und geoffenbart wurde«.125

Auch Hermann Binders Studie zum paulinischen Glaubensbegriff richtet sich gegen die anthropologische Verengung der Theologie Bultmanns, gelangt so jedoch zum anderen Extrem: Pistis sei nirgends Tat, Verhalten oder Haltung des Menschen, sondern stets »das von Gott herkommende Geschehen im Neuen Bund, das den Charakter einer transsubjektiven Größe, einer göttlichen Geschehenswirklichkeit« habe.126 Glaube sei eine »geschichtlich-heilsgeschichtliche Größe, die Gott kommen ließ« und die »ohne jegliche menschliche Bezogenheit zu ihr« existiere, »also ein von Christi Macht durchwirkter Bereich, der vorhanden ist, bevor man ihn betritt oder bezeugt«.127 Obwohl Binder bei Ernst Käsemann eine ähnliche Sicht der Dinge vorzufinden meint, da dieser den Machtcharakter der »Gottesgerechtigkeit bei Paulus« herausarbeitet, bezichtigt Käsemann ihn einer »geradezu absurde[n] Vereinseitigung«128. Demgegenüber belegt eine Nebenbemerkung seines Schülers Peter Stuhlmacher, dass Käsemanns Perspektive zur Gottesgerechtigkeit durchaus auf den Glauben übertragen werden kann: »Für die theologische Begrifflichkeit des Paulus ist es weithin charakteristisch, dass in ihr Macht und Gabe eine spannungsvolle Einheit bilden. Es gilt zu sehen, dass hiervon auch der Glaubensbegriff nicht ausgenommen ist.«129

Diese Interpretationslinie sollte m. E. nicht vorschnell verabschiedet werden,130 ist sie doch in der Lage, eine Reihe von notorisch schwierigen Äußerungen des Paulus zum Glauben zu erhellen.

Exegese

Ein markanter pistis-Beleg in den Paulusbriefen eröffnet einen weit über das individuelle und gemeinschaftliche Glauben hinaus reichenden heilsgeschichtlichen |36| Horizont, welcher die pistis als Repräsentantin einer neuen Heilszeit darstellt. In Gal 3,23–25 identifiziert Paulus Glaubensereignis und Christusereignis: »Bevor aber der Glaube kam, wurden wir alle gemeinsam im Gefängnis des Gesetzes in Gewahrsam gehalten – auf den Glauben hin, der sich in der Zukunft offenbaren sollte. So ist das Gesetz zu unserem Aufpasser geworden, bis hin zu Christus, damit wir aus Glauben gerecht würden. Da nun der Glaube gekommen ist, sind wir keinem Aufpasser mehr unterstellt.« Hier ist unverkennbar das Kommen des Glaubens mit dem Kommen Christi gleichgesetzt;131 die messianische »Jetztzeit« (Röm 11,5) ist Glaubenszeit. Sogar Bultmann räumt ein: »Ist Gl 3,23–26 die Vorbereitung und das ›Kommen‹ der pistis skizziert, so ist nicht die Entwicklung des Individuums gezeichnet, sondern die Heilsgeschichte.«132

Offensichtlich versteht Paulus die pistis hier als machtvolles »eschatologisches Geschehen«133, das eine Zeitenwende markiert und der bis dato geltenden Vormachtstellung des Gesetzes entgegentritt, um dieses ein für alle Mal abzulösen. Glaube und Gesetz treten als personifizierte Größen zu einem bestimmten Zeitpunkt des »heilsgeschichtlichen Dramas« auf die Bühne.134 Ihnen ist eine kosmische Dimension eigen, die die Wirklichkeit als ganze bestimmt, zugleich aber eine personale Dimension, die den ganzen Menschen bestimmt. Durch die Offenbarung des Glaubens hat Gott die Weltwirklichkeit radikal verwandelt und unter ein neues Licht gestellt. Daraus ergeben sich die Bezeichnungen, mit denen die pistis versehen wurde: »eschatologisches Heilsereignis«135 »göttliche Geschehenswirklichkeit«, »transsubjektive Größe«136 oder »überindividuelles Gesamtphänomen«137.

Individuelle Teilhabe realisiert sich durch den Eintritt und das Sich-Einreihen |37| in das Heilsgeschehen im Glauben, wobei letztlich »das Zum-Glauben-Kommen […] ein Hineingenommenwerden in das Heilsgeschehen in Christus« ist.138 Gerade im Blick auf den paulinischen Glaubensbegriff ist es also falsch, Heilsgeschichte und Existenz als Gegensätze einander gegenüberzustellen. Vielmehr bilden sie eine spannungsvolle Einheit: Glaubende Existenz ist eschatologische Existenz.139

In der sehr dicht formulierten Passage Röm 3,21–22 kommen diese beiden Dimensionen zum Ausdruck, und zwar nicht nur in Bezug auf den Glauben, sondern auch auf die Gerechtigkeit Gottes. Die gängigen Übersetzungen und die Mehrheit der Kommentare neigen dazu, diesen Sachverhalt zu verschleiern. Zur Veranschaulichung sei der Wortlaut dieser Verse daher in einer noch unbestimmten Wiedergabe der umstrittenen Begriffe zitiert: »Nun aber ist ohne Gesetz ›Gottesgerechtigkeit‹ offenbart worden […] ›Gottesgerechtigkeit‹ durch ›Jesus-Christus-Glaube‹ zu allen, die glauben.«

Zunächst zum Stichwort »Gottesgerechtigkeit«: Paulus’ Rede von der Offenbarung der Gottesgerechtigkeit am Wendepunkt der Zeiten (»nun aber«) betont deren eschatologischen Horizont (Röm 3,21), während die Übereignung der Gerechtigkeit an die Glaubenden (Röm 3,22) den Teilhabecharakter hervorhebt.140 Beide Seiten, die individuelle und die überindividuelle, prägen Paulus’ Gedanken der Gottesgerechtigkeit. Dabei ist seine »Anthropologie« von seiner »Kosmologie« her zu verstehen. Diese Doppelheit herausgearbeitet zu haben, ist das Verdienst Ernst Käsemanns. Er zeigte, dass sich Theologie und Geschichtsverständnis des Apostels nicht zuallererst auf den Einzelnen richten, sondern auf die Errichtung der Herrschaft Gottes in der Welt.141 Der Begriff Gottesgerechtigkeit bezeichne bei Paulus nicht nur die (dem Glaubenden) geschenkte Gerechtigkeit, sondern »Gottes Heilshandeln« und seine »heilsetzende[ ] Macht«142, nicht nur Gabe Gottes, sondern auch die »sich eschatologisch in Christus offenbarende Herrschaft Gottes über die Welt, […] jenes Recht, mit welchem sich Gott in der von ihm gefallenen und als Schöpfung doch unverbrüchlich ihm gehörenden Welt durchsetzt«.143

|38| Andererseits leuchten in Röm 3,21–22 auch die beiden Pole der pistis auf: Gottes Gerechtigkeit wird den Glaubenden zugeeignet, nicht durch die Macht des Gesetzes, denn das Gesetz hat nach Paulus seine heilsvermittelnde Stellung verloren. Die Gabe der Gerechtigkeit erfolgt vielmehr durch den »Christusglauben«, der das Gesetz abgelöst und dadurch Glaubensmöglichkeit und Glaubenswirklichkeit eröffnet hat. Dies ist die eine Dimension der pistis, aus der sich die andere schlüssig ergibt: Implizierte vormals die Teilhabe im Bereich des Gesetzes das Tun der Gesetzeswerke, so verlangt nun der Christusglaube, dass man sich im Modus des eigenen Glaubens von ihm in Besitz nehmen lässt. Wurde vor der eschatologischen Zeitenwende die Gerechtigkeit Gottes erhofft und erwartet für alle, die mit Werken umgehen (vgl. Röm 4,5), so erlangen nun nach Paulus Gerechtigkeit alle, die glauben. Was Käsemann über die Gerechtigkeit sagt, gilt auch für den Glauben: »Universalismus und äußerste Individuation sind […] Kehrseiten desselben Sachverhaltes.«144 Das trifft m. E. sowohl auf die Interpretation der Gottesgerechtigkeit als auch auf die Interpretation des Christusglaubens zu. Die Rede von einem »eschatologischen Augenblick« würde diese Einsicht in die apokalyptische Dimension der paulinischen Theologie entstellen.

Einige weitere sprachliche Beobachtungen bekräftigen zum einen, dass Paulus »Glaube« und »Christus« als Heilsereignis und Existenzgrundlage versteht und aufs Engste zusammenrückt bzw. identifiziert. »Im Glauben« und »in Christus« »sind sinngleiche Wendungen«145, insofern beide das von Gott offenbarte Heilsgeschehen umschreiben, in dem die Christen »stehen«146 und auf Grundlage dessen bzw. durch welches sie Gerechtigkeit empfangen. Die Interpretation des paulinischen Gedankens von der »Rechtfertigung aus bzw. durch Christusglauben« (Röm 3,22.26; Gal 2,16; Phil 3,9) sollte diese heilsgeschichtliche Dimension nicht zugunsten eines exklusiv anthropologischen Fokus vernachlässigen.147 Zum anderen belegen die Paulusbriefe, dass für den Apostel auch der Gegensatz zwischen »Glaube« und »Gesetz« nicht auf den individuellen Lebensvollzug oder ein gruppenspezifisches Ethos beschränkt bleibt, sondern sich auf das den Kosmos umgreifende göttliche Heilshandeln bezieht: »Glaube ist also ›Offenbarung‹ wie das Gesetz Offenbarung ist; und |39| wenn es einst für den Pharisäer hieß: ›Aus dem Gesetz‹, so heißt es jetzt für den Apostel: ›Aus Glauben‹.«148

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