Kitabı oku: «Schon immer ein Krüppel», sayfa 2

Yazı tipi:

Benniä

Zu schreien konnte ja sowas von befreiend sein. Und natürlich auf etwas einzuschlagen, wenn denn etwas da gewesen wäre. Doch der Raum war leer. Die Wände waren weiß. Mein Poster von Black Sabbath: verschwunden. Die alte Couch meiner Oma: verschwunden. Tische, Stühle, alles weg. Keine Mikro-Ständer. Keine Gitarren. Kein Schlagzeug. Und wie gerne hätte ich jetzt so ein Schlagzeug auseinander genommen! Selbst die klapprige Stehlampe und der versiffte Campinggrill ... verschwunden. Nicht mal leere Bierkisten oder Weinflaschen gab es noch. Früher hätte man sich einen zweiten Proberaum nur mit Pizzakartons bauen können. Nun gab es nichts mehr, nichts.

Also beschränkte ich mich vorerst aufs Schreien und ging nach und nach dazu über, bei jedem Schrei mit meiner Krücke wie ein Wahnsinnger auf den Boden einzuschlagen. Elektrischer Strom schoss durch meine Adern, die dick wie Makkaroni sichtbar meine Haut umspannten und vor Wut pulsierten. Auslöser meines Tobsuchtsanfalls war diese SMS. Abgeschickt von Timi, einem meiner rückgratlosen Bandkollegen, Ex-Bandkollegen! Allein die Begrüßung:

Moinsen benii, hab deine nachricht erst spät gecheckt, mach dir kein stress. proberaum gibts nicht mehr. haben wir aufgelöst.

Spät gecheckt? Die Info erreichte mich zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt, nämlich während unserer regulären Proberaumzeit. Alle hatte ich angeschrieben. Den Bass, das Schlagzeug, Timi ... keine Reaktion. Den letzten Moment, auf den muss man warten. Danach kommt dann nicht mehr viel, der ultimative Mittelfinger.

hast sicher eh keine zeit grad zum mukken und kümmerst dich erstma um die gesundheit. aber cool das du wieder da bist. man sieht sich reingehaun!

Man konnte diese SMS lesen so oft man wollte, sie wurde nicht besser und mir nur immer klarer, weshalb wir Timi zwar singen, aber niemals Texte schreiben ließen. Der Typ war ein verdammter Analphabet. Nur hätte man ihm das mal gesagt, also ihm vor den Kopf geknallt, dass er ein Analphabet ist, er hätte unbeeindruckt gelächelt und gekommen wäre: »Höhö, du hast gerade ›Anal‹ gesagt.«

Keine Zeit, schreibt dieser tumbe Hirn-Asket. Noch nie hatte ich so viel Zeit in meinem Leben wie jetzt! Scheiße, ich war, wer weiß wie lang noch, krankgeschrieben, im Grunde arbeitslos, nur ohne zum Amt zu müssen. Ich war quasi gesegnet, privilegiert durch Behinderung, aber für wie behindert bitte hielt mich Timi? Oder war tatsächlich ich das Problem? Weshalb wollte ich auch proben, wofür? Wer sollte mich auf eine Bühne setzen und warum, wenn nicht aus Mitleid? Hatte irgendjemand vor mir schon mal auf einem Barhocker das Haus gerockt? Nein, lieber den Krüppel in einen leeren Proberaum humpeln lassen, da kann er schreien und wüten. Also schrie und wütete ich, bis...

»Oh mein Gott, Benni! Bist du es wirklich?«

Ralf war im Grunde ein netter Kerl. Das sah man ihm nicht an, wenn er mit einem Baseball-Schläger, fest im Griff seiner beiden Pranken, im Türrahmen stand und schnaufte. Ihm gehörte der Getränkehandel unterhalb der Proberäume und natürlich kannten wir uns, wir kauften schließlich unser Bier bei ihm.

Oft war er auch Zielscheibe unseres Spottes. Lustig gemacht hatten wir uns. Ihm fehlte ein Fähnchen an der Achtel, das wusste jeder. Auf den ersten Blick war er nicht außergewöhnlich. Außergewöhnlich groß und breit vielleicht. Ein sanfter Riese, der Getränke verkaufte. Aber Ralf war der verfickte Forrest Gump, also nicht der Hellste in der Birne. Freunde hatte er wenige, dafür suchte er an jedem Kunden Angriffsfläche für ein persönliches Gespräch. Er zögerte keine Sekunde, beim Abkassieren von vier Flaschen Sternburg gleich die gesamte Tragik seiner Lebensgeschichte kostenlos obendrauf zu packen, wobei er versucht war, diese für seine Zuhörer nach Möglichkeit mit vielen unterhaltsamen Details auszuschmücken. Jedem Kunden ließ er ein so herzliches Willkommen angedeihen, dass es quasi zum Zuhören und Staunen verpflichtete. Meist hatte all das aber nur den einen Effekt, also den, dass man ihm kein Wort glaubte. Man hielt ihn schlicht für bescheuert und tat an der Kasse mitunter so, als würde man Ralfs Stimme gar nicht bemerken, um dann nicht antworten zu müssen. Manche nickten auch fasziniert, während sie hinterrücks eine ganz eigene Story ersannen, die ihnen zur Flucht verhelfen würde. Doch der Tenor zu Ralf war eben der: Im Grunde war er ein netter Kerl.

»Danke«, sagte ich also, als er mir ein Bier spendierte und mich in eines dieser typischen Gespräche verwickelte.

Ralf erzählte mir von der Weltreise, die er mit seiner Mutter machen würde, sollte sie den Krebs überstehen. Er selbst sei ja schon ein paar Mal um die Welt gereist, daher wisse er auch, in welche Richtung man gehen müsse.

»In welche denn?«, fragte ich beiläufig.

Ralf zuckte nur mit den Schultern.

»In eigentlich jede«, lautete seine Antwort.

Irgendwann war das Bier auch leer und demonstrativ sah ich nach der Uhrzeit.

»Was, im Ernst? Schon so spät? Dann muss ich los, ich darf meinen Bus nicht verpassen.«

Ralf wünschte mir noch alles Gute und ich ihm eine schöne Weltreise.

Ein paar Tage vergingen, die ich ausschließlich in meinem Zimmer verbrachte. Ich schmollte, spielte irgendwelche Melodiefetzen auf meinen Gitarren rauf und runter, las unmotiviert in langweiligen Büchern und surfte ab und an im Internet. Abends schaute ich Filme und trank billigen Wodka. Ich hatte noch einen beachtlichen Vorrat an beidem in meinem Zimmer deponiert.

Ohne Band wusste ich einfach nicht mehr wohin mit mir. Ich saß im Rollstuhl oder ging wie ein alter Mann an Krücken. Ich war neunzehn Jahre alt und musste Einlagen tragen. Meine Beine waren dünne Stelzen, die gesamte Muskulatur im Eimer. Mein Arsch hing wabbelig an mir herunter wie die alternden Titten einer Frau. Alles nur totes Gewebe. Ein schöner Anblick war es jedenfalls nicht. Mit meinem Schwanz ließ sich ebenso wenig anfangen. Wie ich mich selbst, so ließ auch er sich hängen. Daran war nichts zu rütteln. Ich hatte es versucht. Fast jeden Abend hatte ich mich an ihm zu schaffen gemacht, ihn gerieben, gequetscht und gepeitscht, es brachte einfach nichts. Das Ding lag im Koma.

Ich begann Gedichte zu schreiben. Mein Bruder hätte mich ohne zu zögern damit aufgezogen. Gedichte schreiben? In meiner Generation nicht eben cool.

Alles Geschriebene verstaute ich umgehend im Schreibtischschubfach. Für meine Band hatte ich früher schon Texte geschrieben, aber das war anders, nicht zu vergleichen. Ohne Musik verloren meine Worte an Kraft. Eingebettet in die Stille klangen sie leblos und deplatziert. Doch ich empfand eine Art Erleichterung beim Schreiben. Es half mir beim Nachdenken.

Mein lyrisches Interesse wuchs an, führte mich über Benn, Trakl, Baudelaire bis hin zu Novalis oder Rilke. Worte, die keiner Musik bedurften. Worte, die ihre ganz eigene Melodie mit sich führten und ihre Schönheit in mir entfalteten.

Widerwillig meldete ich mich zur Physiotherapie an. Mir war so gar nicht nach körperlicher Betätigung. Ich hatte meinen damaligen Zustand bereits akzeptiert und glaubte nicht an Besserung.

Der Alkohol ging zur Neige und nüchtern betrachtet, hielt ich es für das Beste, zunächst das Penisproblem zu lösen. Das stand ganz oben auf der Liste. Es war aber zu intim, um darüber zu sprechen. Ich weiß nicht, was genau mich daran hinderte, Scham oder Stolz?

Während meiner Reha wurde mir erklärt, der Penis sei wie ein Muskel: Ohne Stimulation würde er verkümmern. Ich solle deshalb künftig über eine Penispumpe nachdenken. Aber scheiße verdammt, wo sollte ich so eine Pumpe auftreiben, ohne darüber sprechen zu müssen? Diese Art Bestellung in einer Apotheke aufzugeben, schien mir deplatziert. Und für meinen über sechzigjährigen Hausarzt, der mich bisher bei Erkältung und Fieber behandelte, wäre dieses Anliegen ein medizinisch unlösbarer Sonderfall gewesen, der nicht ohne ein erhebliches Maß an Peinlichkeit und Schamesröte zu bewältigen gewesen wäre.

Viel schlimmer als alles andere war aber der Gedanke daran, mich einem Mädchen anzuvertrauen. Doch die Chance auf eine Freundin war ohnehin sehr gering. So im Rollstuhl. An Krücken. Ohne Pumpe. Unfähig einen Ständer zu bekommen. Meine Eltern, wüssten sie von meinen Sorgen, würden mir mit Sicherheit weismachen wollen, dass es doch auf den Charakter ankäme.

»Du hast doch so viele Talente«, würden sie sagen. Dabei war in meinem Alter Sex doch das einzige Talent, was zählte.

Und viel mehr als eine Pumpe fehlte mir die Band. Ein Talent, das ich hatte, aber nicht mehr zum Ausdruck bringen konnte, um mich an dem letzten Rest meines behinderten Selbstbewusstseins zu klammern. Als Mensch war ich nicht gerade von mir überzeugt. Erhobenen Hauptes durchs Leben gingen andere. Ich sah ungern in den Spiegel, misstraute mir selbst, lachte, wenn ich traurig war und allgemein an den falschen Stellen. Ich wusste weder, was ich denken sollte, noch was ich davon sagen konnte. Ich war zurückhaltend, gewissermaßen langweilig und vielleicht ein bisschen altmodisch. Ich hatte nichts Besonderes an mir. Ein Allerweltsgesicht. Immer noch keinen richtigen Bartwuchs. Schiefe Zähne und eine knollige Nase. Und meine Matte trug ich zu einem Zopf zusammengebunden. Ich war ein ausgemachter Freak, ein Nerd irgendwie.

Die meisten Menschen hatten ein Problem mit Nerds, weil sie so unverschämt einer Leidenschaft nachgingen, die so wenig nutzbringend erschien. Sie wurden wütend oder auch neidisch, wenn jemand ein bisschen Glück in etwas fand, für das man sich nicht fünfmal die Woche um sechs Uhr morgens aus dem Bett quälen musste. Da traf es sich gut, wenn sich ihre kleingeistige Haltung auf einen Typen mit bäuerlichen Gesichtszügen anwenden ließ. Ein Gesicht, rundgelutscht wie meines. Nicht markant wie die der ihnen bekannten Stars, eher wie die eines Teddybären.

Deshalb brauchte ich die Band. Ob man ein Instrument spielen konnte, spielte keine Rolle. Das Stigma des Losers verschwand erst, wenn man auch in einer Band war, sozusagen die erste Hürde zum erfolgreichen Rockstar genommen hatte. Welche Faszination so ein Kollektiv aus saufenden Jugendlichen in Lederjacken doch ausüben konnte. Vor allem auf das weibliche Geschlecht, obwohl wir ja nur vorgaben, Rockstars zu sein. Und das auch noch ziemlich offensichtlich. Wir hatten nicht einen Gig. Aber jede Menge Selbstvertrauen.

Inmitten dieser trügerischen Atmosphäre gelang es sogar mir, ab und an ein Mädchen ins Bett zu kriegen. Ohne Band war ich allerdings nur ein Typ der Gitarre spielte, einer von vielen. Oberflächlich, nicht wahr? Aber waren wir uns dessen nicht alle bewusst? Markenklamotten, machten sie uns wirklich zu besseren Menschen? Wir trugen sie trotzdem, oder? Was verkaufte sich besser, die Kunst oder der Künstler? Inhalt oder Image? Warum ausgerechnet diese Wurst im Einkaufswagen? Na, wegen dem Biosiegel! Und die Milch, wegen der glücklichen Kühe auf der grünen Wiese, wie es uns die Verpackung suggerierte? Worum ging es in dem Film nochmal? Egal, wie wurde er bewertet? Und wie lange haben wir verdammt noch mal Milchschnitte gefressen, weil es uns Sportler in Werbeclips so vorgemacht hatten?

Mir persönlich kam das ganze Leben immer wie eine löchrige Fassade vor. An vielen Stellen schimmerte der Betrug einfach hindurch. Alle gaben ständig nur vor etwas zu sein, niemand war etwas. Und obwohl es oft so offensichtlich war, nahmen wir alles und jeden so an, wie es das Trugbild von uns erwartete. Als ließen wir uns gern etwas vorgaukeln. Anstatt hinter die Maskerade zu blicken, hießen wir sie herzlich willkommen. Lieber eine bekömmliche Lüge als eine schwer verdauliche Wahrheit. Sich wahrhaftig der Welt stellen zu wollen, das grenzte ja schon an Selbstkasteiung.

Michelle, meine Physiotherapeutin, war anders. Diesen Eindruck hatte ich gewonnen, als sie im Handumdrehen mein Phlegma in Motivation zu verwandeln wusste. Das erste Treffen lief ganz ohne Training ab. Wir unterhielten uns, lernten uns kennen. Wie es zu meiner Lähmung kam, war nicht Gegenstand des Frage-Antwort-Spiels. Was ich mir von der Therapie erhoffte, was ich von mir erwartete, wollte sie wissen. Ob ich überhaupt Lust hätte, sogar was ich stattdessen lieber machen würde.

Ich schätzte sie auf Anfang Vierzig. Ihr Gesicht war durch tiefe Falten vom Leben gezeichnet, aber ihre Augen waren um einiges jünger. Sie war schlank, sportlich und hatte ein viel zu breites, aber sehr sympathisches Grinsen. Ich erzählte von mir, gab mir keine große Mühe jemand anderes zu sein und sie notierte alles in einem kleinen Notizblock.

»Ziel der Therapie ist also, dass du, sagen wir, einen Song von den Beatles im Stehen auf der Gitarre spielen kannst«, so lautete ihr Fazit.

»Sagen wir von den Box Tops«, erhob ich Einspruch.

»Na gut, Hauptsache, ohne zu stolpern.«

Sie schien mir eine offene und ehrliche Haut zu sein. Plötzlich freute ich mich auf die nächsten Therapiestunden. Einen Song im Stehen spielen, das klang gut.

»Also, bis zum nächsten Mal, Benjamin«, verabschiedete sich Michelle und gab mir die Hand.

»Ach, weißt du, eigentlich sagen alle Benni.«

Es war schon irgendwie komisch. Immer hatte ich das Kürzel meines vollen Namens ›Benjamin‹ gehasst, regelrecht verabscheut. Weder meinen Freunden noch meinen Eltern, konnte ich es abgewöhnen, diese verstümmelte Variante meines Namens zu nutzen, um mich anzusprechen. Gerade meine Mutter machte mich wahnsinnig damit, da sie immer, wenn sie nach mir rief, einen weiteren überflüssigen Umlaut hinzufügen musste, nämlich ein ›ä‹. Benniä. Welch ein Missklang! Schon dieses ›Benni‹ reichte ja aus, um mich auf die Palme zu bringen, aber dieses ›ä‹, es quälte mich, kratzte wie brüchige Fingernägel an Wänden in meinen Gehörgängen und fraß sich beißend durch jede Gehirnwindung. ›Benniä, da ist jemand für dich am Telefon! Benniä, Abendessen! Benniäää!!! Du kommst noch zu spät zur Schule!‹

Und nun bot ich meiner Therapeutin, die mich artikuliert beim vollen Namen nannte, an, mich Benni zu nennen. Und das auch noch freiwillig. Michelle grinste. Und was für ein Grinsen das war, bis über beide Ohren!

»Also gut. Bis dann also, Benni.«

Duschen zu gehen, war für mich der absolute Horror. Eine richtige Dusche gab es nämlich nicht. Es gab eine Wanne und einen Duschkopf. Ich hob mich immer von einem Hocker aus über den Wannenrand. Soweit, so gut. Über den Weg raus aus der Wanne hatte ich mir beim ersten Mal keine Gedanken gemacht. Ich fühlte mich in sämtlichen Situationen unsicher und überfordert.

Wenn ich an mir herunter sah, hätte ich schreien wollen. Ich fand meinen Körper völlig lächerlich. Dürre Storchenbeine, nur noch Haut und Knochen. Mein Hoden, formlos zwischen meinen Oberschenkeln, wie eine Torte, geschmolzen in der Mittagshitze. Darüber mein Schwanz, das klägliche Sahnehäubchen. Zum Glück blieb mir der Anblick meines Hinterns erspart, der zur Gänze plattgesessen nur noch bedauernswert an mir herunterhing.

Neulich beim Baden hatte ich wie ein Neugeborenes einfach ins Wasser geschissen. Es kam einfach aus mir heraus. Irgendwann klopfte Hagen an der Tür, was ich so lange machen würde, er müsse auch mal ins Bad. Ich habe ewig gebraucht, dieses peinliche Missgeschick zu vertuschen. Ich pinkelte über Nacht ins Bett, doch ein Bett neu zu beziehen, das war mir in meiner Situation unmöglich. Ich hatte es versucht. Meine Mutter versprach, es für sich zu behalten. Auf ihre Versuche, mich mittels lächerlicher Lügen, die nur eine Mutter glauben konnte, aufzuheitern, reagierte ich gedankenverloren mit Beschimpfungen und Genervtheit. Warum konnte sie auch nicht einmal die Klappe halten? Einfach zu etwas schweigen und gut!

Die Menschen schrei'n

und sie gewinnen rasch an Größe,

doch sind sie klein,

wehe dem, der nicht auf Augenhöhe.

Was gabst du Narr

auch nur allein dir diese Blöße?

Wann wird dir klar,

was dich verletzt, sucht deine Nähe?

Das Unterding

Ich verabredete ich mich mit einem Freund aus der Berufsschulzeit. Es ging mir vor allem darum, wieder Alkohol ins Haus zu kriegen. Und wenn schon mal jemand auf dem Weg war ... Eigentlich wollte ich keinen Besuch, schon gar keinen, der redete. Ich wollte nur trinken. Jede Konversation kam mir so zwanghaft vor, als fühlten sich alle dazu verpflichtet, mich zu besuchen und nach meinem Befinden zu fragen.

»Und am Donnerstag kann man immer um seine Drinks würfeln! Na, wie find‘ste das? Absinth haben die so viel, das kannste dein Leben lang nicht durchprobieren. Man, es gibt dort einfach alles. Allein schon die Atmo!«

Seit drei geschlagenen Stunden redete Kai. Schon seit drei Stunden trank ich und hörte zu. Es ging um einen neuen Club, der in der Stadt eröffnet hatte. So euphorisch, wie er davon berichtete, musste es ziemlich grandios dort sein. Allerdings übertrieb Kai auch gerne mal. Das war Teil seiner Persönlichkeit. Er war leicht zu begeistern, geriet ins Schwärmen und ließ sich nicht stoppen.

»Wenn du durch die Tür gehst: alle Wände schwarz! Bordeauxfarbene Vorhänge. Eine grün beleuchtete Bar. Und an der Decke ein Wahnsinnskronleuchter, so ein Teil aus Schädeln und Knochen. Genügend Sitzplätze, schöne, gemütliche. Und riesige Tanzflächen, wenn man nach unten geht. Eine Bühne gibt‘s dort auch. Da müssen wir zusammen hin!«

Ich tat interessiert, nippte an meinem Bier und schwieg. Große Lust hatte ich keine, was sollte ich in einem Club? Warum erzählte mir Kai von den Tanzflächen?

»Ach weißt du, würde ich da mit dem Rollstuhl überhaupt reinkommen?«, versuchte ich mich herauszuwinden. »Oder was ist mit den Toiletten? Komme ich da überhaupt zurecht?«

Kai hatte sofort eine Antwort parat: »Keine Ahnung, was die Toiletten betrifft. Aber rein kommste auf alle Fälle. Da gibt‘s nur eine kleine Stufe vorm Eingang, die kriegen wir dich schon hoch. Und ich seh dort ständig so nen anderen Typen im Rolli, der muss ja auch irgendwie aufs Klo. Nur zu den Dancefloors wird es nicht gehen, aber ich nehme an, eh nicht so interessant, was?«

In der Reha machten wir andauernd solche Witze, unter Krüppeln waren diese aber viel lustiger.

»Wie heißt der Club überhaupt?«, wollte ich wissen.

»Das Unterding«, antwortete Kai. »Steht in so ‘ner verkrakelten Leuchtschrift über dem Eingang. Freitags ist übrigens immer Metal- und Rockabend. Ist doch was für dich! Und Konzerte soll es auch dort geben. Es läuft kein Radio, kein Pop, Hip-Hop oder irgend so ‘n Scheiß. Ist halt wirklich mal was Ordentliches, was für Leute wie uns.«

Ich nickte und rang mir ein Lächeln ab. In Gedanken war ich wieder allein und Kai schon gegangen.

»Alles okay, Benni?«

»Was? Oh ... ja, alles bestens«

»Du sahst so nachdenklich aus.«

»Ach, es ist nichts. Wollen wir ein bisschen nach draußen? Man kann die Sterne sehen.«

»Klar. Wozu hat man denn so eine Terrasse?«

Kai blieb also noch drei weitere Stunden, in denen er keine Anzeichen von Erschöpfung erkennen ließ, während er endlose Monologe abhielt. Am Ende des Abends blieben mir noch vier Flaschen Bier und ein lächerlicher Rotweinrest. Bald würde ich also wieder Besuch nötig haben.

Am nächsten Tag fühlte ich mich wie gelähmt. Scheiße, was für ein Kater. Ich lag im Bett mit voller Blase und konnte mich nicht rühren. Bei jeder noch so kleinen Bewegung fühlte es sich so an, als würde es mich zerreißen. Alle vier bis fünf Stunden ›kathetern‹, gaben mir die Ärzte mit auf den Weg. In der Reha war das kein Problem. Der Schlaf war dort leichter, die Katheter gleich neben dem Bett und eine Schwester entsorgte sie am Morgen. Zuhause wollte ich diese Dinger nicht offen herum liegen lassen. Einen Urinbeutel auf dem Boden herumwabern haben, das lehnte ich ganz entschieden ab.

Aber wie gerne hätte ich mal wieder so richtig ausgeschlafen, einfach mal zehn Stunden im Bett verbracht! Seit dem Eintritt ins Berufsleben war an Schlaf nicht zu denken. Aufstehen, immer viel zu früh, arbeiten, immer viel zu viel, Zeit absitzen, immer noch viel mehr. Dazwischen alles Notwendige, essen, trinken, duschen, dann die Reste zusammenkratzen und versuchen, dem Tag eine Bedeutung abzugewinnen, dem ewigen Geldverdienen. Zur Bandprobe also, mal wieder eine Platte hören. Am Wochenenden Leute treffen, Freunde, sich verlieben vielleicht, aber wie? Möglicherweise doch lieber Alkohol, Party, Sex auf der Toilette, Aufputschmittel, durchfeiern, irgendwas das da noch rein passt in diesen Rhythmus. In der Musik kommt es oft auf die Pausen an. Und im Leben? Auf die Wiederholungen?

Zumindest eine Erleichterung verschaffte mir meine Behinderung: das Wissen, zumindest in nächster Zeit nicht arbeiten zu müssen. Eine Pause inmitten der Endlosschleife Leben. Sah ich von der Lähmung ab, war beinahe so etwas wie Zufriedenheit zu spüren. Ganz einfach. Hin und wieder beschlich mich der Gedanke, dass die Arbeit der eigentliche Grund meiner Frustration gewesen sein könnte. Eine Frustration, die sich wie ein Krebsgeschwür in mir niederließ und alle anderen Bereiche meines Lebens überschattete. Die Liebe. Die Musik. Alles.

Ich hasste meinen Job. Er interessierte mich einen Scheiß. Geld brauchte ich. Alle brauchten wir Geld. Und wer nichts hatte, verkaufte eben sich selbst, ging arbeiten. So fühlte es sich an. Wie Prostitution. Jeden Tag raus, seine Arbeit tun, die abhängig machte. Zu Menschen freundlich sein, die man verachtete. Kaffee saufen, der nicht schmeckte. Und das alles für sich selbst, sich selbst ... aber wer war man selbst? Jemand, der fremd war, den man bemitleidete. Sicher niemand, der man sein wollte.

Meine Interessen entwickelten sich schlicht in die falsche Richtung. Sie fielen in die Bereiche, die man im Allgemeinen nicht als richtige Arbeit anerkannte. Nur, warum eigentlich nicht?

›Ich möchte Musiker werden.‹

›Dein Ernst? Aber willst du denn nicht mal was Richtiges lernen? Irgendwas musst du doch auch können.‹

Unglaublich, nicht? Wenn man tapezierte, hobelte, schleifte, bohrte oder meinetwegen auch Schaltkreise erstellte und Systeme für computergesteuerte Anlagen installierte, konnte man etwas. Wenn man aber ein Stück Musik komponierte, Partituren schrieb, Melodien kunstvoll aneinander fügte, Spannungsbögen setzte, es vertonte, arrangierte, eventuell einen Text behutsam in dessen rhythmisches Gewand bettete, dann konnte man nichts Richtiges.

Als Verkäufer, Kosmetiker, Eisenbahner, Gerüstbauer, Informatiker, Pharmakant, Mediziner, Fleischer, Manager, Raumausstatter, sogar als Sportlehrer konnte man etwas. Als Musiker konnte man nichts Richtiges. Und woher diese Wahrnehmung? Weil man als Künstler erst dann etwas konnte, wenn man auch Erfolg hatte! So war es doch.

Helene Fischer, die muss doch etwas können, sonst wäre sie ja nicht so berühmt! Dieter Bohlen, der hat es doch zu was gebracht! Dumm kann der nicht sein.‹

Kunst maß man immer am Erfolg. Wenn aber der Vater als Klempner seit Jahren keinen Job mehr fand oder Onkel Soundso seine Bäckerei aufgeben musste, dachte man doch im Traum nicht daran zu sagen, dies sei die Folge von fehlendem Können gewesen. Wenn den Tante-Emma-Laden keine alte Sau mehr besuchte oder den Schneider oder den Schuster. Nein, dann waren die großen Firmen schuld, die Wirtschaftssituation war dann einfach schlecht. Oder die Leute wussten einfach den Wert der Arbeit nicht mehr zu schätzen. Für Künstler wurde auf dem Arbeitsmarkt natürlich der rote Teppich ausgerollt. Sie hatten einen so hohen gesellschaftlichen Wert, nicht wahr?

Bei wem hing das Gemälde, aus dem Atelier an der Straßenecke, über der Wohnzimmercouch? Wie viele kauften die Tonträger ihrer Lieblingskünstler im Plattenladen, anstatt sie zu downloaden oder zu streamen? Wie viele stöberten in abgelegenen Buchhandlungen nach Autoren, auf deren Werken nicht so ein hässlicher Spiegel-Bestseller-Aufkleber das Preisschild verdeckte?

Und wie viele B- und C-Promis und deren Ehepartner und Haustiere rotzten eben solche Bestseller auf den Markt und vergoldeten sich damit noch das Arschloch? Na, das waren doch ganz tolle Schriftsteller, oder etwa nicht?

Ich quälte mich endlich, in trüben Gedanken versunken, aus dem Bett, um ins Bad zu gehen und das Übliche zu tun. Pinkeln. Mir den Morgenschiss mit Gummihandschuhen bröckchenweise aus dem Hintern popeln. Zähneputzen. Aber bevor ich die Toilette erreichen konnte, überkam mich ein heftiger Schwall Übelkeit und ich erbrach mich ins näher gelegene Waschbecken. Bierkotze. Zum Glück dünnflüssig, lief gut wieder ab.

Doch als sich Speiseröhre und Magen zu etwas ganz und gar Unangenehmen verkrampften, sah meine Blase sich genötigt, sich spontan zu entleeren. Ich stand komplett unter Wasser. Voller Entsetzen spürte ich den warmen Rinnsal mein linkes Bein hinablaufen. Tatsächlich, ich hatte eingepisst. Instinktiv griff ich mir zwischen die Beine. Ich musste mit Einlagen schlafen, deshalb fühlte es sich nun an, als wäre ein vollgesogener Schwamm in meinen Shorts. Mir stand der Schweiß auf der Stirn.

Ich ließ meine Gehhilfe fallen und stützte mich mit einer Hand am Waschbecken ab, um dann mit der anderen die nassen Shorts loszuwerden, was ohne nennenswerten Gleichgewichtssinn nach einem spastischen Anfall ausgesehen haben musste. Von oben herab blickte ich in meine Shorts, als plötzlich ein brauner Klumpen dampfender Scheiße unangekündigt dort hineinfiel. Ich war fassungslos. Verzweifelt hinkte ich zur Toilette, rollte eine ganze Rolle Klopapier aus, ging in die Knie und versuchte den hinterlassenen See aus Urin zu beseitigen, nachdem ich meine Shorts direkt in den Mülleimer geschmissen hatte. Noch während ich versuchte den stinkenden Ozean mittels vierlagigem Zellstoff aufzusaugen, verließ ein zweiter Klumpen meinen Körper, der es sich als braune Insel auf den Badfließen gemütlich machte. Ich beobachtete ihn durch meine Beine hindurch und fing ganz unvermittelt an zu weinen. Was konnte demütigender sein? Ich war nervlich total am Ende. Kleinmütig bemühte ich mich alles in Ordnung zu bringen, als meine Mutter plötzlich an die Badezimmertür klopfte.

»Benniä?«, erkundigte sie sich lautstark. »Ist alles in Ordnung bei dir? Ich habe etwas poltern hören.«

»Oh verflucht, Mama, verschwinde von der Tür! Kann man denn nicht mal in Ruhe scheißen gehen!?«

»Entschuldige«, brachte sie perplex hervor. Gewann aber schnell wieder die Fassung. »Ist auch wirklich alles gut?«

»JETZT HAU ENDLICH AB, SCHEISSENOCHMAL!«

Ich hörte meine Mutter wieder die Treppen heruntergehen und schleppte mich aufs Klo. Deprimiert beschaute ich die hinterlassene Katastrophe. Mein Blick fiel auf die Fensterbank neben der Toilette, wo ein Päckchen Zigaretten lag. Ich beschloss, erstmal eine zu rauchen. Der erste Zug ging tief in meine Lungen und tat unglaublich gut. Praktisch, dass jede Etage ihr eigenes Badezimmer hatte.

Mit jedem Zug verflüchtigte sich der Schock über das großflächige Desaster. Was eine einfache Zigarette so alles bewirken konnte. Als ich sie aufgeraucht hatte, zündete ich mir eine weitere an, danach noch eine. Und noch eine. Und noch eine, bis mir dann wieder die Tränen kamen. Ich heulte und rauchte ununterbrochen, stundenlang. Aber ich blieb ungestört, immerhin.

Das folgende Wochenende war ich mit Kai im Unterding verabredet. Ich nahm den Bus mit Krücken, bevor er auf die Idee kommen würde, mich im Rollstuhl hin und her zu schieben. Kai nervte wie nichts Gutes mit seiner angestrengten Lässigkeit.

»Ich helf dir nicht, okay? Wenn du Hilfe brauchst, musste was sagen, klar? Ich muss dir ja jetzt nicht dauernd dazwischen gehen bei Dingen, die du locker selbst geregelt kriegst. Es gibt ja Leute, die dann ständig fragen, aber du weißt ja, bei mir musste selber den Mund aufmachen. Es macht mir nichts aus dir zu helfen, das nicht! Weißt ja Bescheid. Aber ich werd keinen Finger rühren, wenn du nicht ausdrücklich Hilfe verlangst. Also du musst nicht betteln, ein Blick in meine Richtung genügt.«

Ich starrte fassungslos in Kais Richtung. Obwohl ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte, brachte er mich innerlich zum Kochen mit seiner andauernden ›Ich-weiß-schon-wie-man-mit-Behinderten-umgeht‹-Scheiße.

»Ach, Mist!«, sagte er. »Ich halt vielleicht einfach mal die Fresse, was?«

»Ja, unbedingt«, antwortete ich, dann lachten wir beide.

Mein Hemd war schweißgetränkt, als ich ankam. Auf dem Weg von der Haltestelle bis zum Club musste ich zweihundert Prozent geben. Ich spürte jeden einzelnen Muskel in den Beinen, von denen es ja nicht mehr allzu viele gab, die ihre Funktion noch wahrnahmen.

Und da waren wir also. Über die Stufe am Eingang, wäre ich auch locker mit dem Rollstuhl gekommen. Und schon bereute ich meine Entscheidung. Nun würde ich den Rest des Abends keine freie Hand mehr haben. Wir traten ins Innere des Unterdings, nahmen den schweren Vorhang hinter der Eingangstür beiseite und wurden von Nick Caves ›Song of Joy‹ in Empfang genommen. Die Musik lief in dezenter Lautstärke, sodass man sich gut unterhalten konnte. Niedrige Sessel und Sofas, die um ovale Tische herum standen, versperrten den Weg zur Bar.

Zwei Skelette wiesen durch einen Torbogen den Weg zu den Dancefloors, der spiralförmig nach unten in den Keller führte. Abseits davon machte grünes Licht auf die Toiletten aufmerksam. Ich folgte Kai ungelenk zum Tresen. Er bestellte ein Bier und einen Cocktail mit merkwürdigem Namen, der eher auf die Wirkung als auf den Geschmack schließen ließ. Final Destination. Ich nahm das Bier. Immer ein guter Anfang. Der Genuss von Wein war in Clubs selten eine Offenbarung. Wein war etwas für intime Abende zu zweit. Oder noch besser: allein. Dazu King Crimson‘s ›In the court of the Crimson King‹ und vielleicht irgendwas mit Käse.

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