Kitabı oku: «Schon immer ein Krüppel», sayfa 3

Yazı tipi:

Kai und ich ließen uns auf einer Eckcouch nahe der Bar nieder und redeten über Musik. Er hatte sich bereits seinen zweiten Drink geholt. Final Destination, number two! Auch irgendwie sonderbar.

»Benni ey, was bist‘n du so auf den Achtzigern hängengeblieben? Hast du nicht mal Bock auf was Neues?«

»Den Siebzigern«, korrigierte ich, »manchmal auch den Sechzigern und ich habe eher Bock auf was Gutes.«

Der Laden war mittlerweile recht voll und am Tisch gegenüber bemerkte ich Eddi, den rollenden Stammgast von dem Kai mir erzählte. Schon bald sollten wir die besten Freunde werden, doch einstweilen nahm ich ihn lediglich als störende Konkurrenz wahr. In meinem näheren Umfeld hatte es keine anderen Rollstuhlfahrer gegeben und Eddi war so einer, der mit Rollstuhlfahren auffiel. Ein Extremist, süchtig nach Publikum. Er saß in seinem Gerät wie auf einem Podest.

Aus den Augenwinkeln beobachtete ich ihn. Er war wohl einem schlechten Vampirfilm entsprungen und hat sich dabei die Wirbelsäule gebrochen. Weißes Gesicht, schwarzes Make Up, Lippenstift. Und bis zum Gehtnichtmehr auftoupierte Haare. Er kippte einen Wodka nach dem anderen und begleitete seine Monologe mit wilden Gesten, als dirigiere er ein unsichtbares Orchester. Der Kreis seiner Zuhörer bestand aus zwei Kerlen - ebenso schwarz, aber weniger peinlich, zwei wirklich hübschen Mädchen und einer, die dick war. Dicke Menschen waren wie mein Musikgeschmack, einfach nicht mehr in Mode. Ein paar Kilo reichten schon, um ewig Außenseiter zu sein. Gewissermaßen war ich lieber gelähmt als dick. Und ich schämte mich für mein oberflächliches Mitleid, das nicht unangebrachter sein konnte, als das gegenüber Behinderten.

Plötzlich erwischte mich Eddi, wie ich gedankenverloren zu ihm hinüber stierte, doch ich tat, als würde ich ihn gar nicht bemerken, sondern nur der Wand hinter ihm mein tiefstes Interesse schenken. Sein Blick ließ von mir ab, als sich eines der Mädchen zu ihm in den Rollstuhl setzte, direkt auf seinen Schoß. Sie umarmten sich, er bekam einen Kuss auf die Wange. Dass er sich nicht schäbig vorkam, so derart im Mittelpunkt zu stehen. Oder zu sitzen. War ein Rollstuhl am Ende doch attraktiver als Krücken?

Immer mehr Menschen zog es hinab zu den Tanzflächen. Hier oben schlurkste der Abend hingegen

unmotiviert voran. Aus der Anlage troff ein Sound á la Sisters of Mercy und Clan of Xymox. Immer die gleichen dumpfen Beats, gezupfte Melodien. Träumereien. Gesang, der dich hypnotisierte: Dir wird langweilig, stinkend langweilig...

Ich suchte die Toiletten auf und sah mich mit ungeahnten Schwierigkeiten konfrontiert. Es konnte verdammt eng sein in so einer WC-Kabine. Ich lehnte die beiden Gehhilfen gegen die Toilettentür und hatte Mühe, sie mit dem Rucksack, den ich auf dem Rücken trug, nicht wieder umzureißen. Und überhaupt, wohin mit dem Rucksack? Auf dem Rücken konnte ich ihn nicht lassen. Auf den Boden würde ich ihn nicht stellen. Der war nass aus Gründen, vor denen ich mich lieber verschloss. Letztlich hängte ich ihn an der Türklinke auf, setzte mich und wühlte nach meinen Kathetern. Ich benutzte die Beutel nicht mehr, ließ alles direkt in die Schüssel laufen, der Schlauch war ja lang genug. Außerdem musste ich die Einlage wechseln, die ich trug. So ganz taufrisch war die nicht mehr. Ich hatte also einen benutzten Katheter und eine vollgetropfte Einlage. Was ich nicht hatte, war ein Mülleimer. Ich könnte natürlich alles in Klopapier einwickeln und dann zurück in den Rucksack stopfen. Bei dem Katheter war das aufgrund seiner Elastizität etwas problematisch, außerdem weichte das an ihm haftende Gleitgel das Papier durch, aber scheiß drauf, ich wollte bloß keine Spuren hinterlassen.

Die Situation in der Kabine wurde ziemlich abenteuerlich, vor allem beim Hochziehen der Hosen, nachdem alles mehr oder weniger schlecht verstaut war. Ständig polterte ich gegen die Innenwände und mühte mich ab, einen Sturz in die Toilette zu vermeiden.

Bedachte man den Verlauf der Ereignisse, war klar, dass alles auf einen größeren Unfall abzielte, der sich dann auf dem Rückweg ereignete. Urplötzlich stürzte es mir entgegen, das Grauen auf Rädern, Eddi der Rollstuhlvampir, direkt aus dem Damen-WC, dicht gefolgt von einer seiner Vampiressen. Crash! Einen kurzen Augenblick drohte ich zu fallen, doch der angetrunkene Fahrer umklammerte mich und ich landete weich auf seinem Schoß. Er und das Mädchen lachten.

»Wow, entschuldige bitte, ich hab dich gar nicht kommen sehen. Don‘t drink and drive, was?«, witzelte er, während ich blitzartig seinem Schoß zu entkommen versuchte.

In null Komma nichts stand ich wieder an meinen Krücken und sah dem Raser mit ungeschminktem Missfallen in die geschminkten Augen.

»Tut mir echt leid. Ich hoffe, du hast dir nix getan. Was hast‘n du eigentlich?«

Na toll, jetzt laberte er mich also auch noch voll.

»Ach, nichts passiert«, gab ich entnervt von mir. »Was kümmert‘s dich, was ich hab?«

»Okay, schon gut«, meinte er, obwohl es nicht gut war. Nicht für mich. Immerhin hatte er mich gerade angefahren. Sein Mädchen stand derweil hinter ihm, schwieg nur und glotzte mit ihren schönen großen Augen. »Na dann viel Spaß noch.«

Beide verschwanden sie wieder in der Bar, lösten sich in Rauch auf, während ich noch im Toilettengang herum und unter Schock stand. Dieses Mädchen, bildhübsch! Möglicherweise hatte sie so einen Behindertenfetisch. Wenn das der Fall war, sollte ich das nächste Mal unbedingt auch den Rollstuhl nehmen.

Ich fand wieder zu Kai, der während meiner Abwesenheit unzählige Cocktails in sich reingeschüttet hatte. So zumindest ließ sein Zustand es vermuten. Der derzeitige Drink: ein Head-Shot! Sehr treffend.

Wie er da so herumkauerte, in seiner typischen Kaitrunkenheit. Er war schon ein schräger Vogel. Ich kannte ihn nun eine ganze Weile, wir hatten zusammen die Ausbildung begonnen. Damals trafen wir uns, um gemeinsam zur Berufsschule zu fahren. Ich hatte keinen Führerschein und er nahm mich auf seinem Moped mit, da mein Zuhause auf dem Weg lag. Anfangs noch für ein bisschen Benzingeld. Später, als wir Freunde wurden, lehnte er mein Geld ab. Ich steckte es ihm während der Fahrt heimlich in die Jackentasche. Keine Ahnung, ob er sich je darüber wunderte.

In der Zeit am Internat teilten wir uns ein Zimmer. Und ich lernte ihn immer besser kennen. Er war ausschließlich schwarz gekleidet, bis auf seine Krawatten, die entweder, knallrot, -gelb, -grün, -lila oder sogar -pink, waren. Er besaß eine kleine Schatulle voller Ringe. An jedem Finger trug er einen, wobei er sie jeden Tag austauschte. Er lackierte sich die Fußnägel, zupfte sich die Augenbrauen, war ständig bemüht sein Haar mit Pomade zu bändigen, seine Koteletten aber ließ er völlig uneingeschränkt wuchern. Das alles tat er ebenso selbstverständlich wie andere ein T-Shirt mit Jeans und Turnschuhen kombinierten. Kai war einfach ganz er selbst und damit ein Sonderling. Ich konnte ihn sehr gut leiden.

Nach zwanzig Minuten allerdings, die ich ihm dabei zusah, wie er im Unterding komatös auf seinem Sitz hin und her rutschte, reichte es mir. Ich rief ein Taxi und ließ uns nach Hause fahren.

»Bennnnnnniä! Das müssn wir fjedenfall wieder machn! Du bistn echttollertyp! Weisudas?«, lallte er, als das Taxi ihn absetzte und er mir beim Aussteigen Kleingeld in den Fußraum warf.

Als ich zu Hause ankam, fühlte ich mich seltsam wach, aufgewühlt und voller Tatendrang. Ich dachte an diesen Schleimer im Rollstuhl, vor allem aber an das Mädchen. Und an ihre dichten schwarzen Haare, die in sanften Wogen über ihre Schultern fielen. Ach, ihre Schultern, so zart und doch so schneidig. Die Beine, die schönen schlanken Beine. Und ihre Brüste, die durch die Korsage meiner Sinneswahrnehmung entgegen gepresst wurden. Die schimmernden Lippen, die glasigen Augen, so weit und tief und ... oh verdammt, das Leben war ungerecht!

Am liebsten hätte ich meine überschüssige Energie mit Sex entladen, zumindest aber mit Masturbation. Aber wozu der Aufwand? Die vergangenen Experimente hatten gezeigt, dass es sinnlos war, ich war hoffnungslos schlaff. Doch Betrunkensein machte mutig und in meinem Falle sogar optimistisch. Also tat ich, wonach die Situation verlangte, und startete meinen Rechner. Irgendwo im Internet würde sich ein Filmchen finden, das meiner Lust entgegen kam. Tatsächlich war die Auswahl so vielfältig wie erstaunlich. Es gab ja mittlerweile wirklich alles, auch Pornos mit Dicken, mit richtig Fetten, Mit richtig, richtig Fetten. Pornos mit Bäumen, Obst, Gemüse. Sextoys, realistisch, fantasievoll, mal als grobgeäderter Pferdepimmel, mal als Raupe oder Delfin. Orgien mit mehreren Frauen, mehreren Männern, scheißenochmal, Tiere waren auch dabei. Pornos mit Schwarzen, mit Weißen, sie ließen sich sogar nach Nationalität auswählen. Asiatisch. Deutsch. Russisch. Nach Anatomie! Kleine Schwänze. Große Schwänze. Unnormal große Schwänze. Kleine Titten. Große Titten. Verschieden große Titten. Gar keine Titten. Nur Titten! Und nach verschiedenen Praktiken. Blowjob. Deepthroat. Gang-Bang. Safer-Sex. Analsex. BDSM. Masturbation. Nach Fetisch. Körperschmuck, ja, nein, tätowiert, gepierct? Und nach Kulisse! Whirlpool. Forrest. Hotel. Motel. Kittchen. Stepfather‘s marriage bed. Und, ich konnte es kaum glauben, es gab sogar Pornos mit Rollstuhlfahrern! Gab man ›normal‹ als Suchbegriff ein, erhielt man die Message: »Sorry. No Video Results for normal.«

Nach einer geschlagenen Stunde beendete ich meine Recherchen und startete einen Film, der auf den typischen Verlauf von Blasen-Ficken-Insgesichtspritzen verzichtete. Also irgendwas Lesbisches. Suchbegriff: ›Lesbian Gothic‹. Ich sah zwei großflächig tätowierten Mädels bei ihrem lustvollen Treiben. Schon einige Minuten starrte ich angespannt auf den Bildschirm, doch wagte ich es nicht, selbst Hand anzulegen, zu groß war die Angst enttäuscht zu werden. Aber dann befiel mich jäh ein angenehmer Schauer der Erregung. Es kribbelte am ganzen Körper. In mir stieg diese ekstatische Hitze immer weiter an, bis sie mich schließlich wie ein Feuerball niederschmetterte und im Inferno der Gefühle zurückließ. Ein Aufwallen. Ein Ausbrechen. Wie Van Halen‘s Eruption! Eine Minute verging und dreiundvierzig Sekunden. Ich atmete flacher, spürte etwas Feuchtes in meiner Hose.

Zweierlei Erfreuliches war festzustellen: Zum einen fand ich einen naturwidrig großen Fleck monatelang angestauten Spermas in meinen Shorts vor. Zum anderen erblickte ich nach enorm langer Zeit meinen erigierten Penis wieder, der mir aufgrund dessen auch ziemlich imposant vorkam, während er als Siegergeste vor Glückseligkeit und Euphorie noch ein wenig pulsierte.

Ich war wieder am Leben.

Geschwisterliebe

Nun, da es mit meinem Schwanz wieder bergauf ging, musste einiges nachgeholt werden. Mentale Masturbation zu jeder Tages- und Nachtzeit. Ich war fasziniert von meinen Fähigkeiten, entdeckte meinen Körper ganz neu und das, ohne mich selbst dabei anfassen zu müssen. Es genügte mitunter, an etwas Erregendes zu denken und schon explodierte ich. Die Orgasmen mit mir selbst waren außergewöhnlich gut. Wo es vorher immer nur Penis gab, war nun eine Einheit aus zahllosen Nervenenden, die meinen Körper zum Schwingen brachten, das maximale Gefühl, das mein Hirn zerschoss und mich von Kopf bis Fuß erzittern ließ. Wie viel geiler konnte behindert noch sein?

Auch die Physio mit Michelle entwickelte sich zu einem angenehmen Bestandteil meiner Wiedergeburt. Dabei ging es mir weniger ums Dehnen, die Massagen, Muskelaufbau- oder Gleichgewichtsübungen, allein die Routine verschaffte Erleichterung. Das schlechte Gewissen konnte ja eine derartige Plage werden, wenn man plötzlich wieder sich selbst gehörte, nicht von früh bis spät einer Arbeit nachging, die einen vielleicht mehr lähmte als durchtrenntes Rückenmark. Geldverdienen konnte für die Psyche sehr gefährlich werden. Aber auch Freiheit war nicht ungefährlich. Plötzlich hatte man wieder Zeit sich selber zu spüren, zu grübeln ... zum Lieben und Träumen war ich damals noch nicht bereit. Aber zum Gehen, das könnte schon klappen. Welch merkwürdige Ironie in all dem steckte? Kaum hatte man sich wieder, lief man vor sich selbst davon. Bis mir klar wurde, in welche Richtung es gehen sollte, ließ ich Michelle entscheiden wohin. Dabei erwies sie sich als angenehme Begleitung und Gesprächspartnerin. Ihr Vorgehen hatte eine gewisse Logik: Wer laufen lernen will, muss laufen. Am besten draußen in der Öffentlichkeit, wo man sich eben so im Alltag bewegte, und nicht in irgendeiner Trainingshalle mit aufgebauten Hindernissen und kleinen Treppen. Hindernisse und Treppen gab es draußen überall. Wir fuhren immer ein Stück mit dem Auto und dann spazierten wir mal hier mal dort hin. In Begleitung von Michelle störten mich die Blicke der anderen Leute auf den Straßen, den Fußgängerzonen oder den Kaufhausparkplätzen gar nicht. Das Selbstverständnis, mit dem sie so unbeschwert der Unvollkommenheit begegnete, war mein Schutzschild.

Ein weiterer Pluspunkt, den ich ihr anrechnete, war, dass sie gerne mal eine rauchte. Ganz unbefangen hielt sie mir ihre Schachtel hin und fragte: »Auch eine?«

Anfangs war ich noch ziemlich verblüfft.

»Solltest du mir als meine Therapeutin nicht vom Rauchen abraten?«, fragte ich schelmisch.

Michelle verzog die Brauen, schüttelte den Kopf und alle Bedenken von sich.

»Nein, eigentlich nicht«, antwortete sie. »Ich therapiere nur deine Lähmung. Rauchen hat damit nichts zu tun, oder meinst du vielleicht doch?«

Ich grinste und schüttelte meinerseits den Kopf. »Nein, ich glaube nicht.«

Die Zigaretten spornten mich dazu an, nur noch eine Gehhilfe zu nutzen, eben um eine Hand zum Rauchen freizuhaben. An guten Tagen lief ich sogar ganz ohne. Das fühlte sich beinahe schon aufregend an. Fast wie das erste Mal Fliegen: diese Ungewissheit und dann hebt man ab. Ich spürte den Kontakt zum Boden ja nicht. Ständig fürchtete ich das Gleichgewicht zu verlieren und der zarteste Windstoß konnte zu fallen bedeuten. Doch ich fiel nie, da ich nicht sicher war, ob Michelle mich auffangen würde.

Mit jedem Treffen wurden wir uns vertrauter und da ich ihr ja die offizielle Erlaubnis erteilte, mich Benni zu nennen, bot sie mir ihrerseits ebenfalls das ›Du‹ an. Das machte es irgendwie entspannter. Ich redete Leute nur sehr ungern mit ›Sie‹ an und ich ließ mich auch unter Protest nur siezen. Als richtiggehend lächerlich empfand ich dieses ›Sie‹, das auf der Illusion von Respekt beruhte.

›Für dich immer noch Sie, junger Mann. Ich bin schließlich ein paar Jahre älter‹, so lautete ja der typische Satz, mit dem man seine längst verlorene Selbstachtung verteidigte. Dabei ein in solcher Herablassung gestimmter Unterton, wie man ihn dem Gegenüber gerne andichten würde.

Was sich manche Menschen auch auf ihr Alter einbildeten? Als sei es eine besondere Fähigkeit zu altern. Wir sollten alle einander mit Respekt begegnen. Wer da Hierarchien braucht, hat ihn schon weitreichend verloren.

Viele einsame Nächte vergingen, die ich mit Saufen und Serien zu überwinden suchte, während mein soziales Leben mit existenziellen Krisen zu kämpfen hatte. Selbst mein Bruder distanzierte sich von mir. Als wäre ich ein Fremder für ihn geworden. Unser Verhältnis zueinander war kühl und wortkarg. Ich vermutete ein tiefergehendes Problem, aber mir fehlte das nötige Feingefühl es anzusprechen. Denn obwohl Hagen und ich gefühlt jede Minute seit meiner Geburt miteinander verbracht hatten, war unsere Beziehung nicht gerade von emotionalen Gesprächen geprägt. Als er einmal zu mir ins Zimmer kam, um mir lieblos ›True Detective‹ aus der Videothek auf den Schreibtisch zu knallen, fragte ich ihn mit unbeabsichtigt aggressivem Unterton: »Was, verfickte Scheiße noch mal, ist dein Problem, du beschissener Arsch?!«

Unter Brüdern sollte das in etwa so klingen, wie: ›Wir sollten reden. Ich sehe doch, dass dich etwas bedrückt.‹

Zunächst sah es so aus, als wolle Hagen zu einer sehr körperlichen Antwort ausholen. Er stierte aber nur zornig zu mir herüber und fauchte: »Ich hab kein Problem, okay! Ist doch alles in Ordnung, nicht?«

»Ach du Scheiße, Hagen! Was soll das nun wieder heißen?«, fragte ich etwas gereizt.

»Na was schon? Nichts ist, wie es war. Du brauchst einen verkackten Rollstuhl und es scheint dir nicht mal besonders aufzufallen.«

»Was? Hagen? Wie war das, ein Rollstuhl, tatsächlich? Oh nein, du hast völlig recht. Wie naheliegend! Ich brauche einen verkackten, verfickten, beschissen-behinderten Rollstuhl!« Beschissen-behindert sprach ich als ein Wort mit Bindestrich aus, als gäbe es noch irgendeine Form von behindert, die nicht beschissen war.

»Ich meine, so als wäre nichts geschehen. Für dich scheint einfach alles wieder bestens zu laufen!«, warf er mir vor.

»Hier läuft gar nichts ohne Krücken«, so meine Verteidigung. Hagen wollte meinen Humor allerdings nicht teilen.

»Ja genau, alles nur ein Scherz, nicht wahr? Statt zu reden, kommst du mit Flachwitzen.«

»Natürlich«, lenkte ich kompromissbereit ein, »ich bin eben ein Flachwitzer!«

Das war eine Spur zu viel. Stille brach herein, eine, die in ihrer unendlich durchdringenden Geräuscharmut die absolute Unruhe erzeugte. Ich war demaskiert.

»Scheißenocheins!«, fluchte ich leise. »Entschuldige vielmals, Hagen, dass ich nicht heulend vor dir auf dem Boden herumkrieche. Du bist auch dermaßen verblockt. Merkst du denn nicht, wie sehr ich mich zusammenreiße, nicht wieder in ein Loch zu fallen und unseren Eltern mit einem Lächeln zu begegnen? Mir ist elend zumute, es geht mir beschissen, ja. Aber meinst du nicht, sie haben genug durchgemacht?«

Hagen schluckte sein kurz aufflackerndes Mitleid herunter, von wo aus es als brodelnde Scheißwut wieder hochkam: »Für mich macht es eher den Eindruck, dass du hier quietschvergnügt den Urlaub deines Lebens machst.«

»SEIT WANN SIND ÜBERMÄSSIGER ALKOHOLKONSUM UND SERIEN MIT MATTHEW MCCONAUGHEY DENN EIN AUSDRUCK VON LEBENSFREUDE?«, schrie ich ihn an. »Besonders, wenn man DABEI den ganzen verschissenen Tag NUR isoliert in seinem Zimmer hockt und gedichte schreibt!«

Das hatte gesessen. Ich atmete schwer ein und seufzte. Mein Bruder starrte mich ratlos an und schwieg sein unangenehmes Schweigen.

»So«, ergriff ich das Wort, um es endlich zu beenden. »Zufrieden? Ich bin verdammt unglücklich, okay? Und wegen dir habe ich mir jetzt schon wieder in die verdammten Hosen gepisst. Immer dasselbe! Beim Husten, beim Niesen, beim Kotzen, sogar beim Fluchen, jedes Mal diese verfluchte Inkontinenz! Oh Scheiße, ich könnte heulen... «

Und dann heulte ich tatsächlich.

Diesmal schluckte Hagen sein Mitleid nicht so einfach herunter. Er versuchte es aber, das sah ich ihm an. Wie gesagt, diese intime Form der Auseinandersetzung war uns bisher völlig fremd. Ganz langsam kam er auf mich zu, schaute betroffen und legte die Hand auf meine Schulter.

»Im Ernst?«, fragte er mich wehmütig. »Aber das mit den Gedichten war ein Scherz, oder?«

Nachdem ich mir dann endlich saubere Sachen angezogen und zu flennen aufgehört hatte, setzten Hagen und ich uns gemeinsam vor die Glotze. Er bestand darauf, in seinem Zimmer zu glotzen, weil er den größeren Bildschirm hatte. Allerdings hatte er auch nur ein Fenster und der Raum war innerhalb kürzester Zeit total vernebelt, was der Atmosphäre der Serie nur zuträglich war. Hagens Zimmer hatte selbst den Charme eines Tatorts. Irgendein Gewaltverbrechen am ehesten. Kaum zu glauben, dass er in dem Chaos den Überblick behalten konnte. Mir wurde ganz schwindelig, wenn ich sah, wie seine CDs einfach wild irgendwo auf dem Boden herumlagen. Manchmal auch außerhalb der Hülle! Er besaß zwei Aschenbecher, die bereits voll waren, als er sie für uns bereitstellte. Dennoch fanden wir immer und immer wieder eine Möglichkeit, noch einen Zigarettenstummel irgendwo dazwischen zu quetschen. Ich war mir sicher, dass, wenn man die Aschenbecher mit der Öffnung nach unten hielt, rein gar nichts passieren würde.

Es war schön, wieder Zeit mit meinem Bruder zu verbringen. Nur irgendwann humpelte ich wieder zurück in mein Zimmer, erleichtert darüber, wieder etwas vom Fußboden sehen zu können. Ich hatte Bock auf Musik, auf den Sound der ›Led Zeppelin II‹. Ich fand sie unter ›L‹ im Plattenregal, also nach ›K‹, wie King Diamond, und noch vor ›M‹, wie Moore, Gary. Genau zwischen ›Led Zeppelin I‹ aus dem Jahre ´69 und ›Led Zeppelin III‹ von ´70. Die Scheibe befand sich in der extra für sie vorgesehenen Hülle.

Das mit den Gedichten war ein Scherz, hatte er mich gefragt. Dabei brachte er es fertig, seine Mimik derart entgleiten zu lassen, als hätte ich ihm gerade gestanden, Sexträume mit meinem Bruder zu haben.

Ein leeres Notizheft, wahrscheinlich aus Schulzeiten, fiel mir in die Hände, als ich im Schreibtischschubfach nach Zigaretten kramte. Robert Plant sagte einmal über das Riff von ›Whole Lotta Love‹: »Egal wo es herkam, es hing alles an diesem Riff.« So ging es mir auch mit meinen Gedichten.

Die Knie weich

und nirgends gibt es für dich Halt,

dem Taumel gleich,

bist du berauscht, fühlst dich hundert Jahre alt.

Absehbar ist,

erkennst du es auch spät,

dass wenn du pisst,

es in die Hosen geht.

Der Schein als ob,

anstatt der Wahrheit wird gelebt.

So ganz salopp

man seine Maske trägt.

Der Mensch, er lebt,

wobei er anstandslos sich fügt,

wer das erträgt,

was du erträgst, der lügt.

Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.

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