Kitabı oku: «Handbuch zu Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«», sayfa 6

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und kommentiert: »Glasklar. Aber er würde noch klarer für uns werden vermöge der ausgefeilten Vortragskunst eines André ­Gide.« In der Tat fällt es schwer, am Ende des Satzes seinen Anfang zu erinnern – aber ist die Suche nicht ganz wesentlich auch ein Buch über das Erinnern? Und ist das Problem des Erinnerns nicht insbesondere, den Anfang wiederzufinden, sich zu entsinnen, wie alles begann?

Sodom und Gomorrha I (erschienen 29. 4. 1921) Ich fasse hier die Stimmen zum Thema Homosexualität in den ersten vier Bänden zusammen.

Die lesbische Szene in Montjouvain (Combray II) war schon vor Erscheinen von WS auf einigen Widerstand gestoßen; so hatte der Schriftsteller Louis de Robert, der mit Begeisterung die Grasset-Fahnen las, Proust empfohlen, die Passage zu entschärfen, was Proust aber dezidiert mit den Worten ablehnte: »ich kann nicht die Ergebnisse moralischer Erfahrungen verändern, die ich vielmehr mit der Aufrichtigkeit eines Chemikers zu vermitteln habe« (Corr. XII, S. 271). Souday hatte dann in seiner Rezension von WS in Le Temps vom 10. Dezember 1913 kategorisch erklärt, dass »Szenen von so zweifelhaftem Geschmack ganz und gar nicht notwendig« seien. Und auch Francis Jammes, der nicht im Ruf erotischer Zimperlichkeit stand, hatte einem Brief an Henri Ghéon vom 2. Januar 1914 zufolge Proust geraten, in der nächsten Auflage die Stelle zu unterdrücken (Corr. XIII, S. 26). Es war also zu erwarten, dass Sodom und Gomorrha I Beachtung finden und Interesse an den Folgebänden wecken würde; auf der anderen Seite waren auch Fehldeutungen zu erwarten, da sich der Stellenwert dieses Essays im Rahmen des ganzen Romanprojekts so noch nicht abschätzen ließ und er deshalb mehr oder weniger als ein Text für sich gelesen wurde. Montjouvain war schon vergessen, und in Mädchenblüte und Guermantes spielt Homosexualität eine nur so unterschwellige Rolle, dass sich eine Lesung von Sodom I ausschließlich im Licht des Vorangegangenen kaum anbot. Umgekehrt lässt wohl erst dessen erneute Lektüre im Lichte von Sodom I das Verhalten des Baron de Charlus in Mädchenblüte verdächtig erscheinen oder das von Monsieur d’Argencourt in Guermantes verständlich. Es geht da wohl dem Leser nicht anders als Marcel: hinterher sind wir alle klüger.

Die nächstliegende und falscheste Frage, nämlich die, ob Sodom I denn nun ›dafür oder dagegen‹ sei, hat Proust in einem Brief von Mitte September 1920 an seinen Bruder Robert kommen sehen: »Die Mitglieder des Kommitees [für die Aufnahme in die Ehrenlegion] mögen denken, dass es um pro-sodomitische oder pro-gomorrhitische Bücher gehe, so wie Barrès und Abbé Mugnier, die etwas enttäuscht waren, als sie erfuhren, dass sie im Gegenteil anti-sodomitisch und anti-gomorrhitisch sein würden. Tatsächlich hätte ich es vorgezogen, wenn sie weder pro noch anti wären, sondern einfach objektiv. Aber die Schicksale ihrer Personen, ihrer Charaktere haben sie anti werden lassen« (Corr. XIX, S. 467). In Hinblick auf Sodom I zumindest folgt die Kritik dieser Auffassung nicht; Souday deutet seine Einschätzung durch die Blume und unterhalb der Gürtellinie an, indem er Proust zu dessen Ärger als »morbide und feminin« charakterisiert (»fragen Sie mal meine Duell-Sekundanten, ob ich die Weichlichkeit des Effeminierten habe«, Corr. XIX, S. 575), und Binet-Valmer, der selbst einen Roman über einen homosexuellen Lucien geschrieben hat, der freilich am Ende scheitert, liest Sodom I offenbar als eine Art Verteidigungsschrift, die man junge Damen nicht lesen lassen dürfe: »Soweit ich kann, werde ich verhindern, dass unsere lieben Leserinnen glauben, die letzten Seiten dieses schönen Buches, und die abstoßenden Bücher, die folgen sollen, seien eine angemessene Wiedergabe der französischen Seele« (in: Comœdia, 22. Mai 1921). Noch deutlicher werden »Les Treize«, die in einer Kurznotiz in der Zeitung L’Intransigeant am 5. Juni 1921 schreiben: »Der Anfang von Sodom und Gomorrha überrascht durch einen rücksichtslosen Realismus und durch seine Plädoyers von einem romantischen und amoralischen Ungestüm.« Erstaunlich starke Worte fand der mit Proust befreundete Henri Ghéon, allerdings erst nach dessen Tod, am 10. März 1923 in der Revue des Jeunes: »Sein schwerster moralischer Fehler war, ohne alle Heuchelei, als seien es akzeptierte, normale Dinge, Laster zu beschreiben und zu benennen, die geheim blieben oder verurteilt wurden, bis er kam; es geht nicht um das Aufstechen der Blase, sondern darum, ob man den Eiter überall hin verschmiert und einer ›Blutvergiftung‹ den Weg bereitet.«

Wie Hodson S. 29 anmerkt, scheint die Debatte über Proust nach seinem Tod ganz allgemein für einige Zeit vom Stilistischen ins Moralische abgeglitten zu sein: »Es fiele uns schwer, auch nur die Titel seiner letzten Werke zu nennen. An Marcel Proust war etwas Krankhaftes, was die morbiden Aspekte seines Werks zwar erklärt, aber nicht entschuldigt« (anon., in: Le Gaulois, 20. November 1922), und dann wenig später noch sehr viel expliziter Charles-Henry Hirsch im Mercure de France: »Proust kann nicht dafür gerühmt werden, ein Chronist seiner Zeit zu sein. Alles, was er gesehen hat, ist die pilzartige Ausbreitung einer ungesunden Gesellschaft, einer Clique, die es zum Laster treibt, […] eine auf den Kopf gestellte Elite: eine Elite des Müßiggangs und der Inkompetenz – eine Kaste, die ihrer selbst überdrüssig ist, ein paar Hundert Individuen, die er, krank wie er selbst, mit einer Präzision beobachtet und analysiert hat, die einer Klinik angemessen wäre« (1. März 1923).

Auf der anderen Seite gab es aber auch genügend Stimmen, die mit Staunen Prousts Durchdringungskraft zur Kenntnis nahmen und entdeckten, was Proust selbst vorgeblich vermisste: eine leidenschaftslose, objektive Position, von der aus er schlicht darstellt, was der Fall ist. »Dieses erste Kapitel über Invertierte ist ein Meilenstein in der Literaturgeschichte. Diese von so scharfsinniger Beredsamkeit geprägten, in ihrer Poesie so herben und hochherzigen Seiten brechen einen Bann, den ästhetischen Bann, der über der sexuellen Inversion lag und unter dem die Künste und die Literatur so lange gestanden haben«, schreibt Roger Allard am 1. September 1921 in der Nouvelle Revue Française zu Sodom I und setzt den Gedankengang am 1. Juni 1922 in seiner Rezension zu Sodom II fort, ebenfalls in der Nouvelle Revue Française: »[…] Monsieur de Charlus, der Herzog von Guermantes [gemeint ist vermutlich der Prinz von Guermantes] und der Violinist Morel sind, selbst wo sie sich mit den bizarren und grotesken Abenteuern lächerlich machen, denen ihre sexuellen Neigungen sie aussetzen, nicht weniger überzeugend und anrührend als die Könige und Prinzessinnen Racines. In der Tat dürfte der Leser bemerken, dass Proust in [diesem] Band vermehrt aus Esther und Athalie zitiert.« Fernand Vandérem vergleicht in seiner Rezension von Sodom II am 15. Juni 1922 für die Revue de France die Schwäche des seriösen Charlus für den geriebenen Morel mit der Zuneigung des zwielichtigen Vautrin zu dem naiven Rubempré in den Illusions perdues und erklärt: »Ich will nicht sagen, dass Balzac schlechter sei als Proust; doch wie viel weniger unterhaltsam, wie viel weniger anrührend finde ich ihn bei der Beschreibung vergleichbarer Ereignisse. Denn sowohl die Feinfühligkeit als auch die blendende Klarheit, mit der Proust für uns diese ›argen Männer‹ [»hommes damnés«] analysiert, grenzt an Wunder. Sie sind ein endloser Quell des Lachens für ihn und für uns, und dennoch gelingt es ihm, uns Mitleid mit ihnen empfinden zu lassen.«

Sodom und Gomorrha II (erschienen 28. 4. 1922) Die Kritik scheidet sich auch bei diesem Band wieder in eine konservative Frak­tion, die lieber einen Roman aus dem 19. Jahrhundert in Händen hielte, und die zukunftsoffenen Geister, die neue Horizonte der Wirklichkeitsbemächtigung in Prousts Werk erblicken. Paul Souday moniert, nachdem er den Reichtum an Konjunktiven beklagt hat, die Abwesenheit des einen oder anderen Zirkumflex, der ein eut oder ein fut als Konjunktiv ausgewiesen hätte, und deutet sie als Beweis für Prousts mangelnde Beherrschung des Französischen: »Proust steht mit dem Tempus, den Modi und überhaupt ganz allgemein mit der Grammatik auf Kriegsfuß.« Interessant wird dann aber die Fortsetzung des Zitats, da Proust sich offenbar darüber geärgert hat: »Diese Unvereinbarkeit der Charaktere [Prousts und der Grammatik] reißt ihn zu amüsanten Missverständnissen hin: ›‚J’ai pas pour bien longtemps‘, sagte der Liftboy, der die Regel von Bélise ins Extreme trieb, nach der die Wiederholung des pas mit ne zu vermeiden sei, und sich stets mit einer einzigen Verneinung begnügte.‹ Bélise hätte sich gehütet, eine derart falsche Regel aufzustellen.« Da hat Souday zwar gut aufgepasst, aber in seinem Eifer übersehen, dass Molière sich mit der Sprachpedantin Bélise über Sprachpedanterie im allgemeinen und ihre Anhängerschaft im besonderen lustig macht – fast, als hätte Proust ihm, Souday, hier geschickt eine Falle gestellt. In einem Brief vom 17. oder 18. Mai 1922 schreibt Proust in diesem Zusammenhang an Gallimard: »Haben Sie die vorgeblich grammatische Anklageschrift von Souday gelesen? […] Was für eine hübsche Antwort könnte ich ihm erteilen, wenn ich nicht auf so gutem Fuß mit ihm stünde.« Der letzte Halbsatz muss blanke Ironie gewesen sein, denn noch Mitte des Monats schickt Proust Souday einen Brief, in dem er dessen Artikel in Soudayscher Manier rezensiert: »Monsieur Souday hat uns ein neues Feuilleton über das Werk Marcel Prousts vorgelegt. Dieses Feuilleton zählt nicht weniger als fünf Spalten. Von diesen fünf Spalten nehmen die Erörterungen hinsichtlich der Länge des Werkes, der Seitenzahl, der Verwandtschaft mit den längsten und unerträglichsten Romanen des 17. Jahrhunderts nicht weniger als zwei Spalten ein«, usw. Doch dann zum eigentlichen Punkt des Ärgernisses: »Die Regel von Bélise ist schon bei Molière gänzlich ungenügend ausgedrückt; eine logische und grammatische Analyse würde vollständige Überarbeitung erfordern […]. Doch die beiden Verse sind deshalb nicht weniger schön, und wer würde sich bei dem Schwung des Ganzen wohl über die Schiefigkeit einer Formulierung ereifern?« Fazit: »Dies beweist, dass man bei seinem Urteil nicht allzu sehr den Grammatiker herauskehren sollte« (Corr. XXI, S. 187–189).

Inzwischen wird jedoch die Kritik im Geiste eines Souday zunehmend weniger hörbar, und verständigere Stimmen beginnen, die Diskussion zu beherrschen. François Mauriac entdeckt in der Revue hebdomadaire vom 26. Februar 1921 die Funktion des von anderen Kritikern zuvor so gern geschmähten Detailreichtums: »Je gründlicher er spezifische und auffällige Merkmale ansammelt, desto gründlicher vermeidet er die Gefahr, sich im Detail zu verlieren, und desto gründlicher gewinnen seine Bilder eine universelle Bedeutung. Die Tausende von Notizen, ihrerseits von diesem geduldigen Visionär ausgewählt aus Abertausenden, zeigen uns die Wahrheit, und die ist der Heilige Gral der Kunst.« In diesem Sinn äußerte sich auch schon im Figaro vom 19. September 1919 Henri de Régnier, der vor allem von der Soiree der Prinzessin von Guermantes hingerissen war: »Dieser Bericht von einem Diner bei den Guermantes mit all seinen Verwicklungen und Gesprächen, mit den detailliertesten Details, mit seinen Momenten der Stille und seinen Anspielungen, liefert ein erstaunliches Bild des privaten gesellschaftlichen Lebens in seinen fein abgestuften Tönen und Nuancen. […] Prousts Realismus verhält sich zum gewöhnlichen Realismus wie eine Apothekerwaage zur Gepäckwaage im Bahnhof.« Auch Henry Bidou weist in seinem Beitrag für die Revue de Paris vom 1. Juni 1922 auf diese »Kunstfertigkeit des Uhrmachers, Dinge auseinanderzunehmen« hin, hebt aber noch einen weiteren Aspekt hervor, Prousts »Talent eines Malers, Zeichen zu beachten«, und illustriert diesen mit einem in der Tat bemerkenswerten Beispiel: »Der Erzähler hat den Verdacht, dass die Prinzessin von Guermantes eine Schwäche für Monsieur de Charlus hat; jetzt beachte man, an welchen Symptomen ihm dies deutlich wird:

Als ich einmal zu ihr sagte, dass Monsieur de Charlus zur Zeit ein recht lebhaftes Gefühl für eine bestimmte Person hege, sah ich mit Erstaunen, wie in die Augen der Prinzessin jener andere, flüchtige Zug trat, der sich wie ein Sprung durch die Pupillen zieht und von einem Gedanken ausgeht, den unsere Worte unbewusst in dem Menschen ausgelöst haben, mit dem wir sprechen, einem heimlichen Gedanken, der sich nicht in Worten Ausdruck verschaffen, jedoch aus den Tiefen, die wir aufgerührt haben, an die für einen Augenblick veränderte Oberfläche des Blickes aufsteigen wird. Doch wenn auch meine Worte die Prinzessin berührt hatten, so ahnte ich doch nicht, in welcher Weise. [SG, S. 163.]

Das ganze Buch steckt in diesem Auszug.« Gerade aber diese Wahrnehmung in allen Details führt dazu, dass insbesondere Personen bei verschiedenen Gelegenheiten kaum mehr wiedererkennbar sind, da diese allerfeinsten Details einem, für Proust offenbar bewusst, für alle anderen zumindest unbewusst, bemerkbaren Wandel unterliegen: »Die menschliche Persönlichkeit teilt sich zwei- und dreifach, in eine unendliche Anzahl sukzessiver Wesen. Unser gestriges Ich ist heute ein Fremder für uns.« Man muss hinzufügen: nicht weniger das gestrige Du, wie die »zweifache« Gilberte und die »unzählbare« (innombrable) Albertine mit ihrem wandernden Schönheitsfleck schon in SJM (S. 192 bzw. 570) demonstrierten; s. dazu ausführlicher unten, S. 117. Die psychologische Lesart, die Bidou vorschlägt, führt ihn zu dem Fazit, dass »die inneren Dramen der Stoff dieses Buches sind. Äußere Anlässe wie ein gesellschaftlicher Empfang oder eine Reise ans Meer sind von geringem Gewicht«, und entzieht so der im Grunde genommen schon damals überholten, aber noch immer vorherrschenden Lesart der Suche als ›Chronik der Belle Époque‹ den Boden.

Am gleichen Tag, dem 1. Juni 1922, veröffentlicht Roger Allard in der Nouvelle Revue Française einen Beitrag, in dem er in etwa die gleiche psychologische Lesart wie Bidou vorschlägt, sie aber zudem einbettet in die bestimmende geistige Strömung seiner Zeit. Als Beispiel betrachtet er Marcels Eifersucht auf Albertine: »Solange er sich Albertines Verhaltens nicht sicher ist, sehen wir den Erzähler als Opfer von Lustlosigkeit und Widerwillen: erst in dem Augenblick, in dem Zweifel für ihn nicht mehr möglich ist, weil tausend winzige Tatsachen zusammenkommen, und so viele Wege, die zuvor verfolgt und aufgegeben wurden, in denselben hell leuchtenden und schmerzhaften Punkt einmünden, findet er gerade in der Gewissheit, dass sein Verdacht berechtigt war, die Entschlusskraft, seine Geliebte heiraten zu wollen.« Er zieht daraus das Fazit: »Solche Analysen gehen weit über die Grenzen psychologischer Erzählliteratur hinaus. Sie hinterlassen in uns einen ganzen Bodensatz von Ängsten und Reue. […] Das Wort ›Relativität‹ drängt sich jedem auf, der über die Bedeutung dieser psychologischen Entdeckung nachsinnt«, und fährt fort: »Kann man sagen, dass Proust die Psychologie in ähnlicher Weise umgekrempelt hat wie Einstein die Physik? […] Wenn die Vorstellung von moralischer Relativität aus einem psychologischen Werk der Vorstellung abgeleitet werden kann, dann ganz gewiss aus Prousts, in dem Gesichtspunkte ad infinitum vervielfältigt werden.«

Welche Rolle Prousts Werk zur Zeit des Erscheinens von Sodom II im öffentlichen Diskurs bereits spielte, geht aus einer Anekdote hervor, die Fernand Vandérem wiedergibt, um ebendies zu demonstrieren: »Neulich befragte mich bei einem Diner eine Dame über den Status der Personen, die einen bestimmten Pariser Salon frequentierten. Da ich mich offenbar ziemlich vage ausdrückte, sagte sie schließlich mit einem Lächeln: ›Nun, würden Oriane und Basin dort verkehren?‹« (In: La Revue de France, 15. Juni 1922.)

Nachrufe und Kritik der postumen Bände

»Eine Literatur, die man lesen muss, wie man ein Gemälde von ­Manet betrachtet, mit halbgeschlossenen Augen«

(Ortega y Gasset 1923, S. 294)

Die Nachrufe auf Proust nach seinem Tod am 18. November 1922 gestatten es, ein erstes Fazit der Rezeption der Suche zu jener Zeit zu ziehen: es wird die großartige Leistung Prousts bei der psychologischen Analyse der Verhaltensweisen und der Sprache seiner Personen anerkannt, und es wird, offenbar mit Bedauern, festgestellt, dass es sich um keinen klassischen Roman handelt, ohne dass jedoch erklärt würde, worum dann.

Eine ernsthafte Diskussion setzte erst mit der Hommage à Marcel Proust ein, die die Nouvelle Revue Française am 1. Januar 1923 publizierte, eine Sammlung von kurzen Aufsätzen stark schwankender Qualität, von Erinnerungen an die Person bis hin zu Analysen verschiedener Aspekte des Werks, die teils den Ausgangspunkt zu späteren, vertiefenden Untersuchungen lieferten. So betrachtet Henri Duvernois die Suche unter dem Aspekt einer Gesellschafts-Chronologie, Thibaudet untersucht die Wurzeln des Werks in der französischen Literaturgeschichte, Maurois hebt den wissenschaftlichen Aspekt der psychologischen Erörterungen Prousts hervor, den Louis Martin-Chauffier in seinem Beitrag Marcel Proust analyste in ein subjektives Licht rückt: »Wie Proust selbst mir einmal sagte, ist sein Präzisionsinstrument nicht das Mikroskop, sondern das Teleskop. Nicht das unendlich Kleine interessiert ihn, sondern sich Entferntem anzunähern, das sich jenseits des Blickfeldes im Nebel verliert, und verschwommene und verworrene Tiefenebenen klar und deutlich in ihrer berichtigten Per­spektive erkennen zu können« (S. 165). Edmond Jaloux weist auf den relativierenden Grundzug in Prousts psychologischen Analysen hin (»Relativierung in das Konzept der Liebe einzuführen und es so von jenem Mythos des Absoluten zu befreien, von dem es bis dato abhing, wird man als eine der essentiellen Wahrheiten erkennen, zu denen Proust gelangt ist«, S. 142), während Ernst Robert Curtius auf das unauflösbare Miteinander von Gefühl und Intelligenz in diesen Erörterungen und auf die Unsezierbarkeit der Suche im allgemeinen aufmerksam macht. Eine besonders fruchtbare Betrachtung der Suche lieferte aber vor allem José Ortega y Gasset mit seinem Essay Le temps, le distance et la forme chez Proust (folgende Zitate nach Bd. 1 der deutschen Ortega-y-Gasset-Gesamtausgabe, 1978), in dem der Autor die Grundtendenz des Impressionismus, die »äußere Form der Realität zu verneinen und die innere Form, das heißt, die innere Vielfalt der Farben, wiederzugeben« in Zusammenhang mit der zeitgenössischen Philosophie – »Die Philosophen um 1890 behaupteten, die einzige Realität käme aus unseren sensorialen und emotionalen Zuständen« (S. 526) – wie auch der Psychologie stellt: »Der impressionistische Psychologe stellt das in Frage, was man den Charakter, das plastische Profil eines Menschen zu nennen pflegt, und sieht in ihm eine ständige Umstellung, eine ununterbrochene Folge verschwommener Zustände, eine sich unaufhörlich verändernde Verflechtung von Gefühlen, Gedanken, Farben und Hoffnungen« (S. 527). Hier drängt sich die Erinnerung an die »mois successifs«, die ›aufeinanderfolgenden Ichs‹, des Erzählers und an die »Albertine innombrable«, »insaisissable«, die ›unzählbare‹, die ›ungreifbare Albertine‹, auf. Der impressionistische Charakter von Prousts Werk kommt für Ortega besonders prägnant in der »Monographie« über eine Liebe von Swann zum Ausdruck, ein Fall »psychologischer Pointillierung, […] in der alles enthalten ist, […] Sinnlichkeit, […] Argwohn, […] Gewohnheit, […] Lebensüberdruss. Das einzige, was nicht darin gefunden wird, ist die Liebe«, die für einen »urwüchsigen« Autor wie den von Tristan und Isolde »eben Liebe ist und nichts anderes als Liebe« (S. 527). In diesem impressionistischen, auf die Wahrnehmung und nicht ein So-Sein der Dinge konzentrierten Aspekt sieht Ortega auch Prousts Neuentdeckung im Umgang mit der Erinnerung: »Nicht die Dinge, an die man sich erinnert, sondern die Erinnerung an die Dinge ist Prousts allgemeines Thema« (S. 523 f.).

In England, wo Proust sofort nach dem Erscheinen des ersten Bandes von Scott-Moncrieffs Übersetzung 1922 hingerissen gefeiert wurde, erschien 1923 eine Sammlung von Würdigungen unter dem Titel Marcel Proust – An English Tribute, unter anderem mit dem Beitrag A Prophet of Despair von Francis Birrell, der Prousts Wurzeln bei Stendhal und Rousseau sowie seine pessimistische Weltsicht in diesem »riesigen Epos der Eifersucht« (S. 23) verdeutlicht, aber auch darauf aufmerksam macht, dass dies »der erste Autor ist, der sexuelle Inversion als ein geläufiges und gewöhnliches Phänomen behandelt«, das er »weder im Ton einer abgeschmackten Eulogie beschreibt wie so manche dekadente Autoren, noch auch mit der Attitüde eines Schaustellers, der einem aufgeregten Touristen unauslotbare Abgründe des Horrors vor Augen führt« (S. 28). Ralph Wright dagegen verdeutlicht in seinem Beitrag A Sensitive Petronius die Funktion der minutiösen »Mikroskopie« in Prousts Personenbeschreibungen als die Grundlage für das merkwürdige Gefühl des Déjà vu, das einen bei der Lektüre der Suche so häufig beschleicht: »Er versucht mit allen Mitteln, einem seine Hauptcharaktere vertraut zu machen, aber nicht nur so, als träfe man sie jeden Tag, sondern als hätte man tatsächlich für einen Augenblick in ihrer Haut gelebt und in ihrem Geist gewohnt« (S. 36 f.), bis wir sie besser kennen als uns selbst und uns selbst damit umso besser erkennen. »Die Komplexität unserer Gefühle, die Fähigkeit, verschiedene Dinge zugleich über etwas oder jemanden zu empfinden, kann nur die Novelle einfangen, und in dieser Hinsicht genießt Proust einen gewaltigen Vorsprung« (S. 39). J. Middleton Murry beweist in seinem Beitrag Proust and the Modern Consciousness sein tiefgehendes Verständnis von Prousts Werk, wenn er – noch Jahre vor dem Erscheinen der Bände 5 bis 7 – schreibt: »wir haben den Verdacht, dass uns die letzte Seite des letzten Bandes zurückgeführt hätte zur ersten Seite des ersten Bandes, und dass sich die lange und gewundene Erzählung am Ende als die Geschichte ihrer eigenen Erfindung herausgestellt hätte« (S. 108). Als Grund für diese Selbstzentriertheit des Werkes sieht er die Selbstzen­triertheit des Autors, dem das Schreiben nicht das Beschreiben von etwas ist, sondern eine Suche nach dem Urgrund seiner eigenen Persönlichkeit. Die Feder war für ihn »die Lanze, mit der er dem Heiligen Gral nachjagte – ›la vraie vie‹« (S. 109).

Wie die Skizze der zeitgenössischen Kritik verdeutlicht hat, waren vor allem zwei Porträts des Autors gezeichnet worden: das des »wissenschaftlichen« Beobachters und das des einfühlsamen Psychologen17. Ernst Robert Curtius weist dagegen in seinem Beitrag für die Hommage auf das Zusammenspiel von »frischester, spontanster Sensibilität« und »kulturbefrachtetster Intelligenz (Ruskin, Saint-Simon)« hin, »aus dem die Kunst Prousts ihre neue und bewegende Schönheit bezieht« (S. 284). In seiner umfangreichen Studie18 von 1925, die mehrere kleinere vorangegangene Aufsätze zusammenfasst, nimmt er diese Beobachtung einer Durchdringung von »Intellektualismus und Impressionismus« (S. 312) in Prousts Werk wieder auf und verdeutlicht durch beispielhafte Stilanalysen, wie sich physische Wahrnehmung und psychische Wahrnehmung in Prousts Situations- und Erlebnisbeschreibungen untrennbar zu einem neuen Ganzen verbinden und erst damit dem Leser die »wahre« Wahrnehmung vermitteln. In dieser ganzheitlichen Beschreibungsweise spielen Metaphern eine unverzichtbare Rolle, da sie einerseits bei der Beobachtung ein Hinausgehen über die Grenzen der deskriptiven Sprache ermöglichen, ihre präzisierende Leistung jedoch nicht erbringen können ohne die Fähigkeit oder Bereitschaft des Lesers, assoziative Verbindungen zwischen der gegebenen Situation und dem wörtlichen Sinn der Metapher herzustellen, wie etwa bei der Beschreibung der Fliederblüte (WS, S. 190) in aquatischen Begriffen (»Bläschen«, »vergossen«, »Gischt«, »Schaum«). Die stillschweigende Voraussetzung des Autors beim Gebrauch von Metaphern, dass der Leser bereit und in der Lage sein wird, die ihm zugemutete assoziative Leistung tatsächlich zu erbringen, trägt im übrigen erheblich zur Bindung zwischen Autor und Leser bei: »One is exhausted and angry after an hour, submerged, dominated by the crest and break of metaphor after metaphor: but never stupified«, stellte Beckett 1931 zu Prousts Stil fest.19

In seinem Aufsatz Note sur Marcel Proust et John Ruskin von 1924 weist Guy de Pourtalès20 darauf hin, dass Proust von Ruskin nicht nur Kulturfracht geerbt hat, sondern vor allem einen Darstellungsmodus, der sich in reichem Umfang assoziationsgeladener Erinnerungsbilder bedient – die jedoch bei Ruskin sich selbst genügen, während sie für Proust als Bausteine für seine Rekonstruktion des Vorgangs des Erinnerns dienen: »Ruskin war für Proust die Offenbarung, die ihm ermöglichte, sich selbst zu entdecken« (S. 223).

Mit dem Erscheinen der Prisonnière 1923 schlug die herrschende Meinung über Proust als einen detailversessenen, aber objektiven Autor, »der dem staatlichen Register von Geburten, Eheschließungen und Todesfällen Konkurrenz machen möchte«, um in die Sicht von einem höchst subjektiven Werk mit einem egozentrischen »Marcel, der resolut die Bühnenmitte für sich in Anspruch nimmt«.21 Paul Souday schreibt in Le Temps vom 21. Februar 1923 über La Prisonnière: »Man kann wohl sagen, dass Proust die Philosophie des Individuellen und des Besonderen an ihre äußersten Grenzen geführt hat.« Etwas bodennäher sieht Fernand Vandérem die Prisonnière in der Revue de France vom 1. April 1924: »Wir haben es mit Satire zu tun, also einer der kraftvollsten und höchsten Formen der literarischen Kunst« (S. 83).

Die Entdeckung Freuds für die französische Öffentlichkeit drängte der Proust-Kritik die Frage auf, inwieweit die erstaunliche Überlappung der grundlegenden Konzepte in den Werken beider Autoren – Unbewusstes, Traum, Erinnerung, Verdrängung – auf eine eventuelle Kenntnis des Freudschen Ansatzes bei Proust zurückzuführen sei; eine in diese Richtung gehende Vermutung, die Allard in seiner Rezension von Guermantes II, suivi de Sodome et Gomorrhe II in der Nouvelle Revue Française vom 1. September 1921 angedeutet hatte, indem er Proust einer Schule zurechnete, die im Gefolge Freuds den Traum als Ausdruck verdrängter Wünsche interpretiert, wies Proust jedoch umgehend in einem Brief an Allard zurück: »Wenn ich den Satz über Freud nicht verstanden habe, dann deshalb, weil ich seine Bücher nicht kenne; man könnte ihm [dem Satz] eine unfreundliche Absicht unterstellen, wenn er nicht von Ihnen stammen würde« (Corr. XX, S. 447; Zitat gerafft). Die spätere Kritik bemüht sich dann auch eher, die konzeptuellen Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten und die Suche im Licht der neuen psychoanalytischen Erkenntnisse zu lesen, wie René Rousseau in seinem Artikel »Marcel Proust et l’esthétique de l’in­conscient«, der am 15. Januar 1922 im Mercure de France erschien und in dem der Autor darauf hinweist, wie sehr Prousts Stil sich »an der rudimentären Logik des Traums orientiert« (S. 378), oder Jacques Rivière in seiner Vortragsreihe »Marcel Proust. L’Incon­scient dans son œuvre«22 von 1924, der die Wirkung der Sätze Prousts auf den Leser mit der Wirkung der Sonate Vinteuils auf Swann vergleicht: »Es ist Prousts besonderes Verdienst, wie in Swanns Augen das von Vinteuil, ›einige der Millionen Tasten der Zärtlichkeit, der Leidenschaft, des Mutes, der Heiterkeit‹ angeschlagen zu haben, […] die die ›unbekannte Klaviatur‹ unseres Unbewussten ausmachen« (S. 48; Zitate aus WS, S. 480).

Die psychoanalytische Wende in der Proust-Interpretation hatte allerdings auch eine Nebenwirkung, die Proust sicherlich wenig amüsiert hätte, nämlich die Betrachtung des Autors statt des Werkes, ganz im Geiste Sainte-Beuves. Besonders nach dem Erscheinen der Prisonnière mit ihrer hochgradig subjektiven Perspektive bildete sich ein Verständnis heraus, das die Suche als den Ausdruck eines Versuchs zur Selbstanalyse des Autors las und damit als im wesentlichen für Dritte von minderem Interesse. Madeleine Clemenceau-Jacquemaire etwa schreibt am 16. März 1924 im Écho National zur Prisonnière, dass Prousts Werk kein Kunstwerk sei, sondern ein »persönliches Notizbuch«, dessen Nichtbeachtung zulässig sei; Pierre Loewel kommt in einem Beitrag über die Prisonnière für den Éclair vom 19. März 1924 zu dem Schluss, dass es nur eine einzige Figur in Prousts gesamtem Werk gebe: Marcel; und Norbert Guterman löst am 15. Mai 1924 in Philosophie das Rätsel, wer dieser Marcel denn nun sei: »Es gibt eine Person, die zunehmend tiefer und klarer erscheint, je weiter wir fortschreiten: diese ist Proust selbst – und gewiss ist dies der eigentliche Grund für diese ganze gigantische Romanfolge.« Amüsanterweise wurde bei allem psychoanalytischen Impetus eine eventuelle Homosexualität des Erzählers vom Publikum nicht etwa aus den zahlreichen Hinweisen im Text erschlossen, wie etwa der Onanie-Szene im Angesicht des Turms von Roussainville-le-Pin schon in Combray, sondern die des Autors (!) aus der Tatsache, dass in Guermantes eine unverheiratete Albert»ine« skandalfrei bei ihm (offenbar dem Autor!) wohnen kann – etwas scheinheilig fordert Mauriac (ebd.) eine Erklärung dafür.

Das Erscheinen von Le Temps retrouvé 1927 belebte die Diskussion um Prousts Werk neu und gab ihr eine neue Richtung, denn nun wurde auch für das breitere Publikum das Ensemble der bekannten sechs Bände als Teil einer durchkomponierten Einheit erkennbar: die Frage des Lektors Jacques Normand vom Verlag Fasquelle, »Wohin soll das Ganze führen?«, fand nun nach fünfzehn Jahren ihre Antwort. Mit dem Vorliegen des Gesamtwerks entwickelte sich zugleich eine Diskussion um dessen literaturhistorische Einordnung. Ist Proust ein Rationalist, der die »lois profondes de la vie« zu erhellen sucht, wie Raphael Cor im Mercure de France vom 15. Januar 1928 behauptet, oder ein Mystizist auf der Suche nach der »essence des choses«, wie Ramon Fernandez in der Nouvelle Revue Française vom August 1928 überlegt? Doch schon in der Januar-Ausgabe 1928 der Zeitschrift Marsyas hatte Denis Saurat darauf hingewiesen, dass die Verflechtung beider Komponenten, der Konflikt zwischen Rationalität und Irrationalität, gerade Prousts besondere Wahrnehmung der Wirklichkeit kennzeichne. Auch die alte Debatte um Subjektivität und Objektivität bei Proust flammte erneut auf, so betont Henri Daniel-Rops 1928 in seinem Beitrag »Notes sur le réalisme de Proust« für ein Symposium, das im Aprilheft von Le Rouge et le noir publiziert wurde, die »absoluteste Objektivität«, mit der Proust das Subjekt betrachtet, während Henri Massis 1930 in einer Serie von Artikeln in der Revue universelle die Suche als ein »Alibi« abqualifiziert, das lediglich durch Objektivierung das sündige Subjekt Proust exkulpieren soll. Marcel Péguy treibt in den Cahiers de la Quinzaine vom 25. Februar 1930 diese Denkrichtung, die noch einige Jahre in Frankreich die Diskussion bestimmen sollte, mit der Erklärung, Proust sei »ein Kranker, ein willenloser Mensch, der seine Zeit damit verbringt, sich selbst zu analysieren«, auf die Spitze. Als Reaktion auf diese Entwicklung veröffentlichte die gleiche Gruppe, die auch das Aprilheft von Le Rouge et le noir bestritten hatte, eine Défense de Marcel Proust, in der zwar Henri Bonnet auf den optimistischen Grundton des Werkes hinweist, die aber im großen und ganzen wenig Wirkung hatte, da sich die Mehrzahl der Autoren auf die Kernpunkte der klassischen Interpretation zurückzogen. Der kontinuierliche Rückgang des Interesses an Prousts Werk im Schatten der Freudianischen Analyse fand seinen markantesten Ausdruck in einer Rundfrage Gaston Picards für die Revue mondiale vom Dezember 1929 unter neun Autoren, von denen acht der Frage zustimmten, ob sie es nicht leid seien, »diese schicken Leute, diese lasterhaften Müßiggänger heiliggesprochen« zu sehen, »deren oft unerquickliche Fälle uns gemäß den Riten des Freudschen oder des Proustschen Evangeliums dargelegt werden«.

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