Kitabı oku: «Handbuch zu Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«», sayfa 7

Yazı tipi:

Proust und kein Ende

»Thomas Mann hätte wahrscheinlich gesagt: ›Proust und kein Ende‹.« (Jean Jacques Nattiez, Le Combat de Chronos et d’Orphée, Oxford University Press 2004, S. 183.)

Während Prousts Leserschaft in Frankreich in den dreißiger Jahren stetig abnahm, differenzierte sich das literaturwissenschaftliche Interesse an der Suche, und es erschien eine Reihe von Spezialuntersuchungen zur ihrer Genese (Feuillerat 1934) und zu einzelnen Aspekten wie der Behandlung der Musik (Benoist-Méchin 1926), der Psychologie (Blondel 1932), des Raumes (Ferré 1939), der Ästhetik (Fiser 1933) oder des Mystizismus (Pommier 1939).23 Samuel Beckett stellte 1931 in seinem Essay Marcel Proust die Verbindung zu Schopenhauer her und reflektierte über Zeit, Gewohnheit, Musik und Philosophie bei Proust. Ernst Robert Curtius veröffentlichte 1925 in seiner Schrift Französischer Geist im neuen Europa eine Zusammenfassung seiner früheren Artikel zu Proust, von der zahlreiche Anregungen vor allem zu stilistischen Untersuchungen ausgingen (Spitzer 1928).

Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte das Interesse an Proust eine Renaissance in Frankreich, insbesondere nachdem 1952 Jean Santeuil und 1954 Contre Sainte-Beuve publiziert wurden, die ein neues Licht auf die Genese der Suche warfen. Die Neuausgabe 1954 in der kritischen Bearbeitung von Pierre Clarac und André Ferré stellte zudem der Diskussion und auch den Übersetzungsbemühungen erstmals eine belastbare Textversion zur Verfügung. Die Folge war eine reiche Ernte an Analysen, die zwar im wesentlichen Themen aufnahmen, die schon in den zwanziger und dreißiger Jahren diskutiert wurden, diese nun aber in ganz anderer Schärfe behandeln konnten. Mit dem Aufkommen des Nouveau Roman, der sich mit seinen minutiösen Beschreibungen zum Teil auch explizit auf Proust bezieht (so Natalie Sarraute in L’Ère du soupçon, 1956), gewann Proust zudem den Status eines Vorläufers der Moderne. Ein reges Interesse fand Proust insbesondere auch in Italien, wo 1946–1953 der größte Teil von Prousts Werk übersetzt wurde und darauf aufbauend eine rege Diskussion stattfand. Das Interesse in der englischsprachigen Welt war stets ungebrochen geblieben; hier sind als wichtigste Beiträge Philip Kolbs Studie von 1948 zu Prousts Korrespondenz hervorzuheben, die schließlich zu der 21bändigen Ausgabe La Correspondance de Marcel Proust führte, und die umfassende Biographie von Painter 1959, die bei allen Mängeln aus heutiger Sicht zu ihrer Zeit ein wichtiges Arbeitsin­strument zur Verfügung stellte.

Die Auseinandersetzung mit Prousts Werk war in den sechziger und siebziger Jahren geprägt von der Diskussion um die Frage, wodurch denn eigentlich der Eindruck einer Kontinuität in der Suche trotz des offenkundigen Episodencharakters der Erzählweise zustande kommt. Gegen Georges Poulets Deutung in L’Éspace proustien (1963), dass das Bewusstsein des Erzählers die einheitsstiftende Instanz bilde (s. insbes. Kap. IX, S. 93–112 der deutschen Ausgabe24), wendet sich bei einer Table ronde 1975 Gilles Deleuze, der vor allem in den Querverbindungen (»transversales«), die durch gemeinsame Merkmale im erinnernden Rückbezug hergestellt werden, die »Fäden des Spinnennetzes« sieht, »das vor unseren Augen gewebt wird«.25 Proust selbst liefere hier, wie Deleuze schon 1963 in Proust et les signes (S. 126) betont, den entscheidenden Hinweis:

Denn was wir für unsere Liebe, unsere Eifersucht halten, ist keine fortdauernde, unteilbare Leidenschaft. Sie bestehen aus einer Unendlichkeit von aufeinanderfolgenden Lieben, verschiedenen Eifersüchten, die kurzlebig sind, aber ihre lückenlose Vielzahl vermittelt den Eindruck der Kontinuität, die Illusion der Einheit. (WS S. 511.)

In Hinblick auf die »innombrable« und »insaisissable« Albertine mit ihrem wandernden Schönheitsfleck ließe sich auch auf Fran­çoises Küchenhilfe verweisen:

Das Küchenmädchen war eine juristische Person, eine ständige Einrichtung, der die Zuschreibung unveränderlicher Merkmale durch die Abfolge flüchtiger Gestalten hindurch, in denen sie Fleisch wurde, eine Art von Kontinuität und Identität verschaffte: denn wir hatten niemals länger als zwei Jahre hintereinander das gleiche. (WS S. 115.)

Malcolm Bowie nimmt 1998 in Proust Among the Stars die Diskussion um die Kontinuität bei Proust wieder auf und sieht deren Quelle vor allem in Prousts Technik, gedankliche Schritte in die Zukunft noch im selben Satz durch Rückgriffe auf die erinnerte Vergangenheit abzusichern oder sie überhaupt schon gleich in die Vergangenheit zu verlegen. Damit wird auch die verwickelte Struktur der Proustschen Sätze als erzählerische Notwendigkeit deutlich, denn indem so die isolierten Gegenwarten mit zeitlichen Halos umgeben werden, wird zugleich ihr Verschmelzen ermöglicht. Als markantes Beispiel führt Bowie die Passage über den Ruderer auf der Vivonne an, bei der der Erzähler seine eigenen langfristigen Zukunftserwartungen wie auch die vermutete kurzfristige des Ruderers in einem rückblickenden Satz unterbringt:

Wie oft habe ich hier einem Ruderer zugesehen, habe ich mir gewünscht, es ihm gleichzutun, wenn es mir freistünde, ganz nach meinem Belieben zu leben, der seine Riemen eingelegt hatte und sich, am Boden seines Bootes auf dem Rücken ausgestreckt, mit zurückgelegtem Kopf willenlos treiben ließ, nichts sah als den Himmel, der langsam über ihm dahinzog, und auf seinem Gesicht den Vorgeschmack von Glück und Frieden trug. (WS, S. 237.)

Roland Barthes dagegen kommt es ohnehin im Umgang mit Prousts Werk weniger auf Interpretationen des Textes als auf seine Aneignung durch Variation an, durch jene »reécriture«, wie er sie beispielhaft in den Fragments d’un discours amoureux (1977) vorführt, wo er Albertines sprachliche Abirrungen als Ausgangspunkte zu eigenen Betrachtungen über die Liebe nimmt. Auch diese Her­angehensweise findet, wie Barthes in Proust et les noms 1969 darlegt, ihre Rechtfertigung in Prousts Text selbst, dessen Erzähler sich insbesondere Eigennamen wie etwa Guermantes oder Parme (Parma) zu eigen macht, indem er sie mit längeren Assoziationsketten und Träumereien verknüpft. Dass damit jedoch nicht der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet wird, demonstrierten Jean Milly 1974 und Claudine Quémar 1978 in Sur quelques noms proustiens (in: Litterature 14, S. 65–82) bzw. in Rêverie(s) onomastique(s) proustienne(s) à la lumière des avant-textes (in: Litterature 28, S. 77–99) anhand einer phonetisch-phonologischen Analyse der Namen und der Bezüge zu den mit ihnen verknüpften Konzepten.

Der Erwerb der Notizbücher (Carnets) und Kladden (Cahiers) Prousts durch die Bibliothèque nationale de France im Jahr 1962 machte es möglich, die Entstehung der Werke Prousts detailliert zu verfolgen, wie es Anthony Pugh mit seinen großangelegten Studien The Birth of »À la recherche du temps perdu« (1987) für die Jahre 1908–09 und The Growth of »À la recherche du temps perdu« (2004) für die Jahre 1909–14 unternahm. 2009 legte Akio Wada einen Index général des cahiers de brouillon de Marcel Proust vor (Osaka: Matsumotokobo), der es insbesondere ermöglicht, die Entwicklung der Namensgebung für die einzelnen Personen seit ihren ersten Vorentwürfen nachzuvollziehen. Die Publikation der einundzwanzigbändigen, ausführlich kommentierten Correspondance de Marcel Proust durch Philip Kolb in den Jahren 1970–93 ermöglichte neue Einblicke in Prousts Leben, die die Veröffentlichung einer Reihe neuer Biographien in den neunziger Jahren anstießen. Das damit neuerlich erweckte Interesse an Proust führte in den verschiedensten Ländern zur Gründung literarischer Freundeskreise; s. dazu unten, Marcel-Proust-Gesellschaften.

Die verbesserte Forschungssituation zog zudem eine erhebliche Differenzierung in der Proust-Forschung nach sich, die sich dem Werk heute unter den verschiedensten Aspekten und in den verschiedensten Zusammenhängen nähert. Zu Odettes bekannter Anglomanie und dem Einfluss Ruskins auf Proust betrachtet Daniel Karlin Proust’s English (2005), und Sophie Duval untersucht das davon nicht allzu fern liegende Thema L’Ironie proustienne (2004). Die Philosophie Prousts, die sich nicht unbedingt in den Abschnitten mit philosophischen Themen niederschlägt, arbeitet Vincent Descombes 1987 in Proust: Philosophie du roman heraus. Die Verbindung Prousts mit verschiedenen Strömungen in der philosophischen Diskussion stellen der britische Philosoph Malcolm Bowie 1987 in Freud, Proust, and Lacan: Theory as Fiction dar, die ungarische Philosophin Erika Fülöp 2012 in Proust, the One, and the Many (Oxford University Press) oder der schwedische Philosoph Martin Hägglund 2012 in Dying for Time: Proust, Woolf, Nabokov (Harvard University Press). Die psychoanalytische Untersuchung des Textes nahm Michael Schneider 1999 mit Maman (Gallimard) wieder auf, während sich Jean-Yves Tadié 2012 in Le Lac inconnu: Entre Freud et Proust (Gallimard) vor allem für die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Proust und Freud interessiert.

Eine Reihe von Publikationen wendet sich Prousts Interesse an darstellenden Künsten zu, so 2003 Jean-Pierre Montier und Jean Cléder in Proust et les images: Peinture, photographie, cinéma, vidéo, und 2004 Marion Schmid und Martine Beugnet in der anregenden Untersuchung Proust at the Movies, sowie Eric Karpeles’ Paintings in Proust (2008) mit Reproduktionen aller in der Suche direkt erwähnten Kunstwerke, während sich Kazuyoshi Yoshikawa in Proust et l’art pictural (2010) auf die Suche nach den im Text verborgenen Kunstwerken macht. Eine wichtige Studie in diesem Zusammenhang ist auch Peter Colliers Untersuchung Proust and Venice (1989), die sich mit Prousts Ästhetik befasst, insbesondere am Beispiel des Venedig-Kapitels in der Entflohenen. Den Einfluss der Fotografie schließlich auf Prousts Sicht der Welt untersucht 1997 der Fotograf Brassaï in Marcel Proust sous l’emprise de la photographie (dt. Proust und die Liebe zur Fotografie, 2001, Übers. Max Looser). 1999 erschien eine Sammlung von Aufnahmen von Prousts Zeitgenossen und Brassaïs nicht minder bekanntem Kollegen Paul Nadar, Le Monde de Proust vu par Paul Nadar (Texte von Anne-Marie Bernard; dt. Proust und seine Modelle), die insbesondere Lesern, die einer autobiographischen Lesart der Suche zuneigen, das nötige Lokalkolorit liefern. Eine fotografisch anspruchsvolle, sich assoziativ relativ frei bewegende Spurensuche unternimmt 1982 François-Xavier Bouchart mit seinem reizvollen, in Schwarz-Weiß gehaltenen Bildband La Figure du pays; Elger Essers faszinierende Suche nach dem alten im neuen Frankreich dagegen trägt ihren Titel Combray (2016) in einem eher metaphorischen Sinn.

Die Fülle der Ansätze in der Proust-Literatur hat das Bedürfnis nach Werken entstehen lassen, die es ermöglichen, sich zumindest einen Überblick zu verschaffen. Hier war gewiss der von Richard Bales 2001 herausgegebene Cambridge Companion to Proust wegweisend, an dem sich auch spätere Ausgaben mit ähnlicher Zielsetzung orientierten, wie etwa die von Adam Watt 2013 herausgegebene Sammlung von Aufsätzen Marcel Proust in Context. Ein inzwischen unentbehrlich gewordenes Arbeitshilfsmittel stellten 2004 Annick Bouillaguet und Brian G. Rogers mit ihrem monumentalen Dictionnaire Marcel Proust zur Verfügung, das 2009 in einer überarbeiteten und erweiterten Übersetzung von Luzius Keller unter dem Titel Marcel Proust Enzyklopädie auch in Deutschland erschien. Eine Zwischenstellung zwischen Enzyklopädie und Biographie nimmt Philippe Michel-Thiriets Quid de Marcel Proust von 1982 ein, das nach Sachgruppen geordnet verschiedene Aspekte zu Leben und Werk stichwortartig behandelt; die deutsche Übersetzung der 2. Aufl. 1987 von Rolf Wintermeyer erschien 1992 unter dem Titel Das Marcel Proust Lexikon. In diesem Zusammenhang sollte auch noch das reich bebilderte Album Proust von Pierre Clarac und André Ferré aus dem Jahr 1965 erwähnt werden, das sich bemüht, dem Leser und Betrachter einen leichten Zugang zur Person des Autors und zu seinem Werk zu ermöglichen; die deutsche Übersetzung von Hilda von Born-Pilsach erschien 1975 unter dem Titel Das Proust-Album. Das Bildmaterial aus diesem Album hat inzwischen Eingang in verschiedene französische E-Book-Ausgaben der Werke Prousts gefunden.

Die Jahrtausendwende hat eine überraschende Populärkultur zu Proust hervorgebracht, deren Tiefenwirkung sicherlich begrenzt ist, deren Breitenwirkung man aber nur begrüßen kann, denn gewiss haben viele, selbst aufgeschlossene Leser zum ersten Mal von Proust dank Alain de Bottons Ratgeber Wie Proust Ihr Leben verändern kann (1997; dt. 1998) gehört oder sich dank Jean-Bernard Naudins La cuisine retrouvé (1991; dt. Zu Gast bei Marcel Proust, 1992) mit Françoise im Bunde fühlen können. In Il capotto di Proust (2008; dt. Prousts Mantel, 2011) spinnt Lorenza Foschini eine Detektivnovelle um Prousts berühmten Mantel, und Anita Albus knüpft 2011 in Im Licht der Finsternis. Über Proust längere Gedankenspiele an die in der Suche erwähnten Pflanzen an. Zu einem Paris-Besuch, der nicht ausschließlich dem Konsum geweiht ist, regen schließlich Bücher wie Rainer Moritz’ Mit Proust durch Paris. Literarische Spaziergänge (2004; Neuauflage 2015) an, oder zu etwas weiteren Ausflügen der Bildband Les Promenades de Marcel Proust von Nadine Beauthéac und François-Xavier Bouchart (1997; dt. Auf den Spuren von Marcel Proust, 1999).26 Ein Vorläufer dieser Popularisierung Prousts war zweifellos Monty Pythons All-England Summarise Proust Competition27 vom 16. November 1972 mit dem unerreicht gebliebenen Ziel, eine Inhaltsangabe in 45 Sekunden zu liefern, während diese Entwicklung 2009 mit dem (2011 ins Französische rückübersetzten) japanischen Manga Ushinawareta toki o motomete ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht haben dürfte – die ganze Suche nach der verlorenen Zeit in einem Taschenbuch!

Proust über die »Suche nach der verlorenen Zeit«28

»Ich sehe schon Leser vor mir, die sich einbilden, ich schriebe hier im Vertrauen auf willkürliche und zufällige Gedankenverbindungen die Geschichte meines Lebens.«

(Brief an Paul Souday vom 10. 11. 1919 zu SJM, in: Corr. XVIII, S. 464.)

Die autobiographische Lesart, von der Proust in der oben zitierten Stelle aus seinem Brief an Paul Souday spricht, wurde zwar einerseits durch die Abschnitte Combray und Ländliche Namen: Der Name des ersten Bandes ziemlich nahegelegt, dann aber doch durch den ganz und gar unautobiographischen Abschnitt Eine Liebe von Swann ad absurdum geführt. Dennoch fühlten sich viele Kritiker eher berufen, Swann als Ungereimtheit zu empfinden denn als Widerlegung ihrer Herangehensweise (vgl. dazu das Ghéon-Zitat unten, S. 130) – die dann durch SJM neue Nahrung erhielt. Dazu schreibt Proust kurz nach dem 6. November 1920, also etwa zwei Wochen nach dem Erscheinen von WG I, offenbar etwas entnervt an Jacques Boulenger: »Ich schildere so viele verschiedene Dinge in meinem Werk, dass niemand ernstlich glauben kann, das sei alles Ich. Ohne nun gleich wie die ›Dadas‹ in Bewunderung ob meiner Seiten über die Schwerhörigkeit zu erstarren (die ich, trotz ihrer Lobgesänge, ziemlich mittelmäßig finde), sind sie dennoch zutreffend. Trotzdem bin ich keineswegs schwerhörig und wünschte nur, ich könnte ebenso gut sehen wie hören« (Corr. XIX, S. 580 f.). Immerhin, wollte man die Suche nicht als Autobiographie lesen, so legte das zeitgenössische Ambiente zumindest die Lesung als Schlüsselroman nahe.

Da Proust in den bedeutendsten Salons von Paris ein und aus ging und er sich zudem mit seinen Essays im Figaro einen Namen als Berichterstatter von Herzoginnen-Festen und Opernpremieren gemacht hatte, war es auch nicht weiter erstaunlich, dass »Tout Paris« sich auf den Weg zu Swann machte, um zu sehen, ob man wohl darin vorkomme – und beleidigt zu sein, wenn ja, und erst recht, wenn nicht. Auch gegen diese – schwerer zu widerlegende – Lesart der Suche als ein »roman à clef« hat sich Proust schon früh und immer wieder energisch verwahrt – »es gibt keine Schlüssel oder Porträts« (Brief an Madame Straus vom 3. Juni 1914, Corr. XIII, S. 231) –, doch mit mäßigem Erfolg: Noch Painter 1956 legt Wert darauf, Swann in Charles Haas, Odette in Laure Hayman, Charlus in dem Baron Doäzan, Saint-Loup in Louis d’Albufera wiederzuentdecken. Dazu Proust in dem zitierten Brief an Madame Straus: »[…] jener, den Sie Swann-Haas nennen. (Obwohl er nicht Haas ist […])«, am 19. Mai 1922 an Laure Hayman: »Sie lesen mein Buch und stellen eine Ähnlichkeit zwischen sich und Odette fest! Man möchte ja am Bücherschreiben verzweifeln« (Corr. XXI, S. 209), im April 1921 an Robert de Montesquiou: »Viele Leute glauben, Saint-Loup sei d’Albufera, an den ich dabei nie gedacht habe« (Corr. XX, S. 194), und im Mai 1921 an denselben: »Meine Person [Charlus] war schon im voraus aufgebaut und gänzlich erfunden […] sie ist größer, enthält mehr an menschlicher Vielfalt, als wenn ich sie auf eine Ähnlichkeit mit Monsieur ­Doäzan beschränkt hätte« (Corr. XX, S. 281). Allerdings muss man auch sagen, dass Proust das »keine« in »keine Schlüssel« an anderer Stelle ein wenig relativiert, wenn er zum Beispiel an Lucien Daudet schreibt: »Es gibt so viele [Schlüssel] für jede Tür, dass es in Wirklichkeit gar keinen dafür gibt«, oder in der Widmung von WS für Jacques de Lacretelle feststellt: »Es gibt keine Schlüssel für die Personen in diesem Buch; oder besser gesagt, es gibt acht oder zehn für jede einzelne« (Hommage à Marcel Proust, S. 191).

Hinsichtlich eventueller Modelle für die Kirche von Combray und für Vinteuils Sonate gilt mehr oder weniger das gleiche wie für die Personen der Suche – »selbst für die unbelebten Gegenstände destilliere ich etwas Allgemeines aus tausend unbewussten Reminiszenzen« (Brief an Robert de Montesquiou vom Mai 1921, Corr. XX, S. 281) –, hier erlaubt Proust allerdings doch einen kleinen Einblick in die Natur dieser Eindrücke. So schreibt er in seiner Widmung von WS für Jacques de Lacretelle: »Für die Kirche von Combray hat sich mein Gedächtnis zahlreicher Kirchen als Modelle bedient. Ich könnte Ihnen nur nicht sagen, welcher. Ich erinnere mich nicht einmal mehr, ob das Pflaster aus Saint-Pierre-sur-Dives oder aus Lisieux stammt. Manche der Fenster stammen sicherlich aus Évreux, andere aus der Saint-Chapelle und aus Pont-Audemer«, und fährt dann fort: »Was die Sonate angeht, sind meine Erinnerungen genauer. […] die kleine Phrase der Sonate […] bei der Soiree Saint-Euverte ist die charmante, aber letztlich mittelmäßige Phrase von Saint-Saëns, ein Komponist, den ich nicht mag. Es würde mich allerdings wundern, wenn ich weiter unten bei der kleinen Phrase nicht an den Karfreitagszauber gedacht hätte. Und dann an eben diesem Abend, wo Violine und Klavier zwitschern wie zwei Vögel, die einander antworten, nicht an die Sonate von Franck […], dessen Quartett in einem späteren Band in Erscheinung treten wird. Die Tremolos, die bei den Verdurins die kleine Phrase überdecken, sind mir durch das Vorspiel zum Lohengrin suggeriert worden, aber die Phrase selbst in diesem Augenblick durch etwas von Schubert. Und noch an diesem selben Abend ist sie auch ein hinreißendes Stück für Klavier von Fauré.« Wie weit man allerdings Prousts weitere Ausführungen zu den Monokeln bei Madame de Saint-Euverte wirklich als Charakterisierungen »lebloser Gegenstände« ansehen darf oder sie nicht doch schon als klare Anleihen bei lebendigen Personen ansehen muss, erscheint fraglich; auf jeden Fall aber erscheinen sie mir von eigenständigem Interesse: »Bei dem Monokel von Monsieur de Saint-Candé habe ich an das von Monsieur Bethmann gedacht (nicht der Deutsche – auch wenn der der Ursprung sein mag –, sondern an den Vater der Hottinguers), bei dem von Monsieur de Forestelle an das eines Offiziers, den Bruder eines Musikers namens d’Ollone, für das des Generals Froberville an das eines vorgeblichen Schöngeistes – ein veritabler Rohling –, den ich bei der Prinzessin von Wagram und ihrer Schwester kennengelernt habe und der sich Monsieur de Tinseau nannte. Das Monokel von Monsieur de Palancy ist das des armen und teuren Louis de Turenne, der sich wohl nicht hatte träumen lassen, dass er eines Tages mit Arthur Meyer verwandt sein würde, zumindest nach der Art zu urteilen, in der er ihn bei mir einmal behandelt hat. Turennes Monokel geht dann in Le Côté de Guermantes an Bréauté über, glaube ich.« (Hommage à Marcel Proust, S. 190 f.)

Natürlich erschafft kein Schriftsteller seine Figuren aus dem Nichts; die Komposition aus Einzelzügen, die der Realität entnommen wurden, dürfte eine allgemeingültige Vorgehensweise sein. Die Frage, die ja in den letzten Jahrzehnten zunehmend auch die Gerichte beschäftigt hat, ist dabei, inwieweit ein Leihgeber erkennbar bleibt. Hierzu gibt Proust in der Suche selbst einige entscheidende Hinweise zu seiner Vorgehensweise:

Der Literat beneidet den Maler, er würde auch gern Skizzen anfertigen, Notizen machen, und ist verloren, wenn er es tut. Wenn er aber schreibt, so ist da nicht eine Geste, nicht ein Tick oder Tonfall seiner Personen, die seine Inspiration nicht aus seinem Gedächtnis bezogen hätte, kein Name einer erfundenen Person, dem er nicht sechzig Namen von Bekannten unterlegen könnte, von denen der eine für die Grimasse, der andere für das Monokel, ein dritter für den Wutanfall, ein weiterer für die gefällige Armbewegung usw. Modell gestanden hat. Und dann wird dem Schriftsteller klar, dass sein Traum, ein Maler zu sein, zwar nicht auf bewusste und willentliche Art zu verwirklichen war, dass er aber gleichwohl Wirklichkeit geworden ist und dass auch er, der Schriftsteller, sein Skizzenbuch geführt hat, freilich ohne es zu wissen.

Denn getrieben von dem Instinkt, der in ihm war, unterließ es der Schriftsteller schon lange, bevor er glaubte, eines Tages ein solcher zu werden, regelmäßig, allerlei Dinge zu betrachten, die anderen auffielen, was ihm von diesen anderen den Vorwurf eintrug, zerstreut zu sein, und von ihm selbst, weder recht hören noch sehen zu können; während jener Zeit hieß er seine Augen und Ohren sich für immer merken, was die anderen für kindischen Kleinkram hielten, den Tonfall, den Gesichtsausdruck, die Schulterbewegung, mit denen irgendeine Person, von der er womöglich sonst nichts weiß, in einem bestimmten Augenblick vor vielen Jahren einen Satz gesagt hat, und zwar deshalb, weil er diesen Tonfall schon einmal gehört hatte oder weil er spürte, dass er ihn einmal wiederhören könnte, dass er etwas Wiederholbares, Dauerhaftes war; das Gefühl für das Allgemeingültige wählt beim zukünftigen Schriftsteller selbständig das aus, was allgemeingültig ist und in das Kunstwerk wird Eingang finden können. Denn er hat den anderen nur zugehört, wenn sie sich, so dumm oder verrückt sie auch sein mochten, genau dadurch, dass sie wie Papageien wiederholten, was andere von ähnlichem Charakter sagen, zu weissagenden Vögeln machten, zu Verkündern eines psychologischen Gesetzes. Er erinnert sich nur an das Allgemeingültige. Durch diesen Tonfall, jene Veränderung im Gesichtsausdruck, selbst wenn er sie in frühester Kindheit wahrgenommen hat, war das Leben der anderen in ihm repräsentiert und würde, wenn er später schriebe, aus einer Bewegung der Schultern zusammengesetzt werden, die vielen gemeinsam ist, so getreu, als ob sie aus dem Skizzenbuch eines Anatomen stammte, aber hier, um eine psychologische Wahrheit auszudrücken, indem auf die Schultern des einen die Halsbewegung eines anderen gepfropft wird, so dass jeder für einen Moment Modell gestanden hat. (WZ, S. 295 f.)

Dieses weiträumige Kompositionsprinzip sieht der Erzähler als einen der Gründe an »für die Sinnlosigkeit aller Versuche, die man anstellt, um herauszubekommen, von wem ein Autor spricht« (WZ, S. 306). Dies muss allerdings mit einem Körnchen Salz genommen werden, denn in seinem Brief an Lucien Daudet vom 3. Juni 1915 schreibt Proust beispielsweise: »Im nächsten Band dagegen werden Sie in Madame de Villeparisis eine [[…]] oder [[…]] sehen, während die Guermantes die [[…]] oder die [[…]] sind«; zwar wurden die Namen vom Empfänger oder seinen Erben geschwärzt, aber die Existenz von Vorbildern wird eben doch zugegeben. Und wohl auch nicht ohne Grund verweist Proust in WG (S. 567) ausdrücklich auf Carpaccio und dessen Neigung, Freunde und Verwandte wiedererkennbar unter die Statisten zu mischen, während die Hauptpersonen meist weitgehend typisiert sind. Bei genauerem Hinsehen erweist sich durchaus, dass etlichen Nebenpersonen ziemlich zweifelsfrei der eine oder andere Zeitgenosse Prousts zugeordnet werden kann, so etwa dem geschwätzigen Bruder Cartier der fiktiven Madame de Villefranche der sehr reale Pariser Präsident der Anwaltskammer Ernest Cartier, oder dem großsprecherischen Bildhauer Viradobetski, genannt Ski, aus dem Kreis Verdurin der Bruder des Arztes von Prousts Mutter, der Pariser Bildhauer Paul Landowski, dem die Welt den Christus von Rio de Janeiro verdankt.

Der Ruf als Salonlöwe, der Proust vorauseilte und ihn die Sympathie André Gides als Lektor der Nouvelle Revue Française gekostet hatte29, hatte 1896 durch die Publikation der Sammlung von Prousts Figaro-Essays Les Plaisirs et les Jours neue Nahrung erhalten, in der konzentriert auftrat, was man sonst nur gelegentlich genoss. Offenbar sah Proust die Gefahr, dass das Publikum, wie André Gide30, das neue Werk im Lichte dieser früheren Arbeiten lesen und missverstehen würde, und versuchte, dem mit Briefen an die wichtigsten Kritiker vorzubauen und sie insbesondere von den Charakterisierungen délicat und fin abzubringen, die die Besprechungen von Les Plaisirs et les Jours geprägt hatten – wobei Proust offenbar exquis vergessen oder verziehen hat. So schreibt er Anfang (5., 6. oder 7.) November 1913 an René Blum, den Redakteur der täglich erscheinenden Literaturzeitung Gil Blas: »All dies ist nur das Gerüst des Buches. Was es trägt, ist wirklich, leidenschaftlich, ganz verschieden von dem, was Sie von mir kennen und, wie ich glaube, weniger schlecht, es verdient nicht mehr die Epitheta délicat und fin, sondern lebendig und wahr« (Corr. XII, S. 296); am 7. oder 8. November 1913 an seinen Jugendfreund und Leiter des Feuilletons des Figaro, Robert de Flers: »Was gesagt werden muss ist vor allem, dass es sich hier keineswegs um meine Artikel im Figaro handelt, sondern um einen Roman, der zugleich voller Leidenschaften, Betrachtungen und Landschaftsbeschreibungen ist. Vor allem aber ist er völlig verschieden von Les Plaisirs et les Jours und weder délicat noch fin« (Corr. XII, S. 298); und schließlich noch am 12. November, zwei Tage vor dem Erscheinen des ersten Bandes, an den Herausgeber des Figaro, Gaston Calmette: »Falls Sie eine Besprechung machen wollen, würde ich es begrüßen, dass die Epitheta fin, délicat ebenso wenig vorkommen wie irgendein Verweis auf Les Plaisirs et les Jours. Dieses hier ist ein Werk voller Kraft […]« (Corr. XII, S. 308 f.) – »une œuvre de force«, was man wohl am besten noch als »ein Kraftwerk« wiedergäbe.

Natürlich haben Prousts Demarchen nichts genützt, und die Kritiken sind durchsetzt mit den Vokabeln délicat, subtil, exquis, précieux. Was ihn aber vor allem ärgerte, ist das Insistieren der Kritik auf seiner angeblichen Detailverliebtheit und ihr Unvermögen, den Plan hinter dem Ganzen zu erkennen. So schreibt Henri Ghéon ausgerechnet in der Nouvelle Revue Française in seiner Besprechung von WS vom 1. Januar 1914: »[Proust] vertrödelt seine Zeit damit, die Bäume zu zählen, die verschiedenen Arten von Bäumen, die Blätter an den Zweigen und die hinuntergefallenen Blätter« (S. 140), und weiter: »Wir halten vergeblich nach einer Möglichkeit Ausschau, die ersten Träume eines Kindes in Verbindung mit dieser Affäre zwischen Monsieur Swann und Odette de Crécy zu bringen, von der Monsieur Proust gewiss erst lange nach seiner Kindheit erfahren hat und die ohne jegliche Rechtfertigung in die Erzählung von seinen Sommerspaziergängen in Combray und seinen Spielen in den Champs-Élysées eingeschaltet ist« (S. 142). Zum Vorwurf des literarischen Pointillismus, den der mit Proust befreundete Autor psychologischer Romane Louis de Robert ihm offenbar nach Lektüre der Fahnen gemacht hatte, schreibt er ihm im Juli 1913:

Sie schreiben von meiner Kunst des winzigen Details, des Nichtwahrnehmbaren, usw. Ich weiß nicht, was ich tue, aber ich weiß, was ich tun will; ich unterdrücke vielmehr (außer in den Passagen, die mir nicht gefallen) jedes Detail, tatsächlich wende ich mich nur dem zu, was mir […] irgendeine allgemeine Gesetzmäßigkeit zu offenbaren scheint. Und da diese uns niemals vom Verstand enthüllt wird und wir nach ihr sozusagen nur in den Tiefen unseres Unbewussten fischen können, ist sie in der Tat nicht wahrnehmbar, denn sie ist entfernt, sie ist schwierig wahrzunehmen, aber sie ist keineswegs ein winziges Detail. Ein Gipfel in den Wolken kann, obwohl ganz klein, sehr wohl höher sein als eine benachbarte Fabrik. Beispielsweise ist dieser Geschmack des Tees, den ich zuerst nicht wiedererkenne und in dem ich die Gärten von Combray wiederfinde, so eine nicht wahrnehmbare Sache. Aber sie ist keineswegs ein winziges beobachtetes Detail, sie ist eine ganze Theorie der Erinnerung und der Wahrnehmung (das ist jedenfalls mein Anspruch), die nur nicht in Begriffen der Logik verkündet wird (das alles wird noch im 3. Band wiederauftreten). (Corr. XII, S. 231.)

Im gleichen Sinne schreibt Proust am 28. oder 29. Dezember 1913 an Robert Dreyfus: »Dein Freund und Nachbar [der Redakteur Raymond Recouly der Tageszeitungen Le Temps und Le Figaro], ein im übrigen ausgezeichneter Schriftsteller, hat mir einen liebenswürdigen und ungerechten Brief geschrieben. Er sagt zu mir: ›Sie bemerken alles‹. Aber nein, ich bemerke nichts. Er ist es, der bemerkt. Keine meiner Personen schließt jemals ein Fenster oder wäscht sich die Hände, zieht einen Mantel an oder sagt eine Vorstellungsformel. Falls es irgendetwas Neues in diesem Buch geben sollte, dann ist es das, und im übrigen gänzlich ungewollt; ich bin einfach nur zu faul, um Dinge aufzuschreiben, die mich langweilen« (Corr. XII, S. 394), und am 6. März 1914 an André Gide: »[…] ich selbst kann nicht, wenn ich schreibe – sei es aus Faulheit, Trägheit oder Langweile – Dinge erzählen, die nicht einen poetischen Zauber auf mich ausgeübt haben oder in denen ich nicht eine allgemeingültige Wahrheit glaubte erfassen zu können. Meine Personen binden sich niemals die Krawatte oder erneuern auch nur deren ›Sortiment‹« (Corr. XIII, S. 108). Der Vorwurf der Detailverliebtheit scheint Proust gewaltig gewurmt zu haben, denn ganz gegen Ende von WZ erteilt er seinen Widersachern schließlich die letztgültige Antwort:

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Hacim:
968 s. 47 illüstrasyon
ISBN:
9783159617954
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi: