Kitabı oku: «Gesprochenes Portugiesisch aus sprachpragmatischer Perspektive», sayfa 3

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Prinzipiell ließen sich auch die Nähesprachlichkeit anderer kommunikativer Praktiken der „keyboard-to-screen communication“ wie Einträge in Weblogs, Internetforen oder den Chats in sozialen Netzwerken wie Facebook etc. mit Hilfe des hier angewendeten Konzepts untersuchen. Alle diese kommunikativen Praktiken fallen durch einen Sprachgebrauch auf, der den Formen medial mündlichen Nähesprechens teilweise ähnelt und analoge Ausdrucksformen und Strukturen aufweist. Zudem handelt es sich um Formen, die zunehmend einen großen Teil unserer kommunikativen Wirklichkeit bestimmen und dabei radikale Veränderungen unserer zwischenmenschlichen Umgangsformen nach sich ziehen. Zum Anlass der Verleihung des ‚Konrad-Duden-Preises‘ äußerte sich Peter Schlobinski, Professor an der Universität Hannover, folgendermaßen zur Radikalität dieses Wandels (Schlobinski 2012, 18):

Die digitale Revolution integriert alle Errungenschaften vorangegangener Medienrevolutionen unter einem Dach. Multimedialität und -modalität, Medienkonvergenz und Transmedialität sind die Schlüsselbegriffe dieses Prozesses. Doch im Kern führt diese Mediamorphose zu einem integrierten, allumfassenden Kommunikationssystem, einem Unimedium, in dem reale, imaginär-fiktionale und virtuelle Welt aufeinander bezogen sind. Und das Unimedium globalisiert Sprache und Kommunikation in einer neuen Qualität. Es macht Kommunikation frei konvertierbar und die Währung sind Bits und Bytes.

Für den Sinn der vorliegenden Studie spricht zudem, dass die Forderung nach Beschäftigung mit der gesprochenen Sprache aus der Perspektive angewandter Linguistik zunehmend lauter wird17. Gerade in jüngster Zeit widmet sich die Didaktik der Fremdsprachenvermittlung gezielt der gesprochenen Sprache und ihrer Einbeziehung in den Fremdsprachenunterricht. Die Kenntnis zentraler Merkmale und das Beherrschen der spezifischen Ausdrucksmittel mündlicher Kommunikation werden zum integralen Bestandteil einer entsprechenden „interaktionalen Kompetenz“ (siehe auch ‚Kapitel 10‘). Ohne sie sind die Lerner einer Fremdsprache entsprechenden Situationen mündlicher Kommunikation relativ hilflos ausgeliefert. Das Wissen darüber, wie mündliche bzw. nähesprachliche Kommunikation funktioniert, und welche spezifischen Ausdruckformen und Strukturen vermittelt werden müssen, um bei den Lernern entsprechende Kompetenzen zu fördern, sollte folglich auch zum obligatorischen Bestandteil des ‚Portugiesisch als Fremdspracheunterricht‘ gehören. Der vorliegende Beitrag liefert das hierfür notwenige linguistische Grundwissen.

2. Zur Situation der Gesprochenen-Sprache-Forschung in Portugal und Brasilien

Im Folgenden skizziere ich meine Einschätzung der Forschungslage zur gesprochenen Sprache in Portugal und Brasilien. Dazu gehört die Darstellung von zentralen Forschungszentren und Projekten in Portugal und Brasilien, sowie eine Beschreibung von Tendenzen, Schwerpunkten und Desideraten, die sich in der mir bekannten Forschungsliteratur zum Thema benennen lassen. Gemessen an diesem hohen Anspruch – eine entsprechende umfassende Recherche und Beschreibung bedürfte eines eigenen Projekts und Veröffentlichung – möchte ich den zusammenfassenden und vorläufigen Charakter der folgenden Ausführungen herausstellen.

In Relation zu den die übrigen Teilen dieses Buches handelt es sich bei diesem Kapitel um einen ‚Exkurs‘. In ihm wird ein Thema erörtert, das eigentlich außerhalb des restlichen, ‚systematischen‘ Teil dieses Buches steht.

In Portugal ist das Centro de Línguas da Universidade de Lisboa1 (CLUL) die wichtigste Institution, die sich u.a. mit der Erforschung der gesprochenen Sprache beschäftigt. Besonders hinsichtlich der Zurverfügungstellung von geeigneten Korpora und Transkriptionen bietet dieses Zentrum eine gute Ausgangsposition für weiterführende Forschungen zum gesprochenen Portugiesisch. Die Korpora, von denen ich im Folgenden einige vorstelle, zeichnen sich durch ihren Umfang und durch ihre teilweise ‚On-line‘ Verfügbarkeit aus:

 (a) 1987 wurde das Korpus „Português Fundamental. Métodos e Documentos“ veröffentlicht, das insgesamt 140 transkribierte Interviews enthält. Das zugrunde liegende Projekt datiert zurück auf 1970, in einer Zeit, in der es der Leitung des renommierten Sprachwissenschaftlers Luís Filipe Lindley Cintra unterstand. Es hatte sich zum Ziel gesetzt, spontan gesprochene Alltagsgespräche aufzunehmen und zu transkribieren. Im Zuge dieses Projekts wurden zwischen 1971 und 1974 insgesamt 1800 Gespräche aufgenommen. Von diesen wurden schließlich 1400 ausgewählt und transkribiert. Sie bilden das genannten ‚Corpus Português Fundamental = PF‘. Als Grundlage für alle Interviews diente eine Reihe von Standardfragen, die allen Gewährspersonen gestellt wurden. Bacelar do Nascimento et al. veröffentlichten aus diesem Material 1987 schließlich ein Buch mit 140 transkribierten Interviews, zu dem auch ein ‚On-line‘ Zugang besteht2. Es handelt sich um „transcrições “3 mit einigen Zusatzinformationen zu den beteiligten Gewährpersonen wie ‚Geschlecht‘ und ‚Herkunft‘. Eine neue Version des Korpus steht unentgeltlich im Catálogo da ELRA4 zur Verfügung. Sie umfasst Audiofiles im WAV-Format und einfache orthographische Transkriptionen im TXT- und HTML-Format.

 (b) 2001 erschien auf CD-ROM das Korpus „Português Falado – Documentos Autênticos: Gravações Áudio em transcrições alinhadas (Instituto Camões 1995 bis 1997)5. Es waren die portugiesischen Sprachwissenschaftler Malaca Casteleiro und Maria F. Bacelar do Nascimento, unter deren Leitung dieses Projekt organisiert wurde. Das Ziel bestand darin, einen kleinen aber repräsentativen Korpus zusammenzustellen, um eine Grundlage für weitere Studien zum gesprochenen Portugiesisch in allen Regionen der Welt, in denen Portugiesisch gesprochen wird, zu erhalten. Aus den ursprünglich im Laufe dieses Projektes unter Beteiligung von 94 Gewährspersonen gesammelten Daten wurde eine Reihe von Transskripten ausgewählt, die das gesprochene Portugiesisch in Portugal, Brasilien und den ehemaligen portugiesischen Kolonien in Afrika (Angola, die Kapverden, São Tomé, Príncipe und Mozambique) repräsentiert. Auch Sprachproben aus Goa, Macau und Osttimor wurden nachträglich diesem Korpus hinzugefügt. Die Kennzeichnung dieses Korpus mittels des Attributs transcrições alinhadas besagt, dass dieses Korpus Angaben zu Pausen, Unterbrechungen wie Räuspern, unverständlichen Wiederholungen und außerhalb des eigentlichen sprachlichen Codes liegenden Lauten etc. mit einschließt. Aber wie bereits bei den ‚PF-Transkriptionen‘ wurden umgangssprachliche oder phonetisch bedingte Varianten und Abweichungen ‚geglättet‘ und der Standardorthographie angepasst. Um diese Varianten identifizieren zu können, ist eine zusätzliche Konsultation der vorhandenen Audiofiles notwendig. Wie bereits beim ‚PF-Korpus‘ steht auch eine neue Version dieses Korpus unentgeltlich im Catálogo da ELRA6 zur Verfügung. Sie umfasst Audiofiles im WAV-Format und einfache orthographische Transkriptionen im TXT- und HTML-Format.

 (c) Die Phase der Datenerhebung und Auswertung und zum „Corpus de diálogo etiquetado de Português Europeu“ (Coral), die von Isabel Trancoso et al. geplant und durchgeführt wurde7, fällt in die Jahre von 1997 bis 1999. Es wurden 32 Dialoge unter Beteiligung von 16 Gesprächspersonen aufgenommen. Das entsprechende Korpus kann in Form von fünf ‚CD-ROM‘ erworben werden. Das vorrangige Ziel bestand wie so oft bei portugiesischen Forschungsprojekten zur gesprochenen Sprache in einer Untersuchung ihrer phonetischen und phonologischen Besonderheiten: „A tarefa de especificação dos elementos do mapa teve em conta, fundamentalmente, aspectos da fonética e fonologia cujo estudo é prioritário no contexto da fala espontânea em Português Europeu“ (cf. Seite 1 der in der ‚Fußnote 31‘ angegebenen Quelle). Worauf diese Priorität beruht, wird allerdings weder näher begründet noch vorab in einer Phase epistemologischer Reflexion diskutiert. Erwähnenswert ist die Zusammenarbeit verschiedener Institutionen bei diesem Projekt, zu denen das CLUL (Centro de Linguística da Universidade de Lisboa), die FLUL (Faculdade de Letras de Lisboa), die FCSH – UNL (Faculdade de Ciências Sociais e Humanas da Universidade Nova de Lisboa) sowie das INESC (Instituto de Engenharia de Sistemas e Computadores) gehörten. Angesichts der in dieser Studie vorgegebenen Untersuchungsziele scheint es im Kontext der vorliegenden Arbeit allerdings nicht erforderlich, dieses Projekt eingehender zu beschreiben.

 (d) Das nächste Projekt und das auf seiner Grundlage zusammengestellte Korpus ist das ‚C-ORAL-ROM-Korpus‘, mit der ausführlichen Bezeichnung „Integrated Reference Corpora for Spoken Romance Languages“8. Das Material zu diesem Projekt, das Aufnahmen und Transkriptionen des Portugiesischen, Französischen, Spanischen und Italienischen enthält und sich zum Ziel die Untersuchung der gesprochenen Alltagssprache romanischer Sprachen gesetzt hat, ist mitsamt der erzielten Ergebnisse über den Handel als Buch und in Form von acht DVD (‚DVD 5 und 6‘ zum Portugiesischen) zu beziehen. Weil eine detailliertere Beschreibung dieses Korpus, dem ich die in diesem Buch benutzten Beispielsäußerungen entnommen habe, im folgenden ‚Kapitel 3‘ folgt, verzichte ich an dieser Stelle auf die Angabe weiterer Einzelheiten.

 (e) Beim Korpus ‚REDIP‘ (Rede de Difusão Internacional do Português: rádio, televisão e imprensa) handelt es sich um eine dem Sprachgebrauch in portugiesischen Medien gewidmete Sammlung von Transkriptionen sowohl des mündlichen als auch schriftlichen Portugiesisch. Das zugrunde liegende Projekt geht auf eine Initiative des „Instituto de Linguística Teórica e Computacional (ILTEC)“ in Zusammenarbeit mit der “Universidade Aberta“ zurück, und das resultierende Korpus umfasst 330000 Wörter aus sechs Themenbereichen: Aktuelle Nachrichten, Wissenschaft, Kultur, Wirtschaft und spontane Meinungskundgebung9.

 (f) Das Korpus mit den der weitaus größten Zahl von Einträgen ist das sogenannte ‚Mike-Davies-Korpus‘10 mit der genauen Bezeichnung O corpus do Português, das über die vergleichsweise gigantische Zahl von 450 Millionen Wörtern aus verschiedenen Textsorten und historischen Epochen verfügt. Hinzu kommt rund eine Billionen Belege (!) aus dem Bereich der ‚Neuen Medien‘ mit Varianten des gesprochenen kontinentalen und brasilianischen Portugiesisch. Dieses ‚Online-Korpus‘ erlaubt es, im Zusammenhang mit den erfragten Begriffen auch die zugehörigen Kontexte einzusehen.

Was die Projekte anbelangt, die auf der Grundlage der oben genannten Korpora durchgeführt wurden, noch laufen bzw. sich zurzeit in ihren Anfangsphasen befinden, scheint mir das Zitat oben unter Gliederungspunkt (c) sehr aufschlussreich zu sein. Es macht deutlich, was portugiesische Sprachwissenschaftler fast wie selbstverständlich als Ziel einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihrer gesprochenen Sprache verstehen. Nach einer Recherche zu abgeschlossenen bzw. noch aktuellen Forschungsprojekten in Zusammenhang mit dem gesprochenen Portugiesischen verdichtet sich zwar der Eindruck, dass Studien zur Phonetik, Phonologie, Prosodie und Lexikographie immer noch vorherrschen, doch wäre es ungerecht und ergäbe ein ‚verzerrtes Bild‘, nicht auch auf andere Studien mit unterschiedlichen Untersuchungszielen aufmerksam zu machen. Ohne an dieser Stelle einen kompletten Überblick geben zu können, folgt die Darstellung einer kleinen Auswahl solcher Projekte und Ziele11. Die Projekte sind dabei thematisch in folgende Sektoren unterteilt, bzw. unterschiedlichen Forschungszentren zugeordnet: (I) ANAGRAMA – Análise Gramatical e Corpora, (II) CLG – Grupo de Computação do Conhecimento Léxico-Gramatical, (III) Dialectologia e Diacronia, (IV) LabFon – Laboratório de Fonética, (V) Laboratório de Psicolinguística und (VI) Filologia.

Was momentan laufendende und noch nicht abgeschlossene Projekte im Themenbereich des gesprochenen Portugiesisch betrifft, möchte ich als Beispiele das Projekt ‚COPAS‘ hervorheben, das darauf abzielt zu erforschen, wie Intonation und syntaktische Mittel beim Sprechen zur Hervorhebung des ‚Topiks‘ einer Äußerung beitragen; ‚LeCIEPLE‘ aus dem Bereich des ‚Portugiesisch als Fremd- und Zweitsprachenerwerbs‘ mit der Erstellung eines eigenen Lernkorpus; das Projekt ‚VAPOR‘, das sich um die Zusammenstellung von Korpora mit in Afrika gesprochenen Varianten des Portugiesisch bemüht; das Projekt ‚LETRADU‘, das sich der Entwicklung Computer gestützter Übersetzungsprogramme sowie der Erstellung verschiedener Wortatlasse widmet, die auch das gesprochene Portugiesisch in Afrika, Brasilien, Europa, Galizien und auf den Azoren mit einschließen.

 (g) Eine weitere mir bekannte und bereits abgeschlossene Arbeit, deren Planung und Realisierung aber außerhalb Portugals erfolgte, ist die auf Deutsch verfasste Arbeit von Viegas Brauer-Figueiredo (1999), die m.E. in Portugal bis jetzt nicht die ihr gebührende Beachtung gefunden hat. Wie die Autorin selber ausführt, wurde sie zu ihrer Arbeit durch Koch / Oesterreicher (1999, 9) angeregt, was als Folge hatte, dass sie sich bei ihrer Arbeit um eine Orientierung an dem Modell dieser Autoren12 bemühte, allerdings ohne dieses Konzept konsequent einzuhalten. Jedenfalls folgt die Arbeit dem für ihre Zeit neuartigen Konzept, morphologisch-syntaktische Erscheinungen der GS – u.a. Kontaktsignale, Überbrückungsphänomene, sprachliche Mittel zur Engführung13, polyfunktionales que, frases clivadas, passe-partout Konstruktionen (Viegas Brauer-Figueiredo 1999, 5sqq.) – auf der Basis eines entsprechenden Korpus14 und teilweise auch unter pragmatisch-funktionaler Perspektive15 zu beschreiben. Das bedeutet, der Gebrauch sprechsprachlicher Erscheinungen wird auch als Konsequenz ihrer Einbindung in Situationen und in Abhängigkeit von anderen Faktoren der pragmatischen Sprachdimension interpretiert. Das Korpus des Buches, das zwischen 1984 und 1994 zusammengestellt wurde und insgesamt 154584 Wörter erfasst, besteht aus (a) Interviews mit portugiesischen Immigranten, (b) Gesprächen und Interviews mit Studenten, (c) weiteren Interviews, die auf dem portugiesischen Festland, auf den Azoren und den Kapverden durchgeführten wurden, (d) Auszügen aus Diskussionen und Gesprächen mit portugiesischen Schriftstellern, die Vorträge an der Universität in Hamburg hielten, (e) Auszügen aus Vorlesungen, Seminaren und Kolloquien sowie (f) Mitschnitten aus portugiesischen Fernsehsendungen.

Positiv bleibt festzuhalten, dass es der Untersuchung gelingt, die Funktionen von Ausdrücken und Strukturen, die aus einer formal-strukturalistischen Perspektive aus gesehen irrelevant sind, für das Gelingen mündlicher Kommunikation herauszustellen und zu begründen. Für die Bestimmung von Erscheinungen des gesprochenen Portugiesisch, die sich aus der dialogischen Struktur gesprochener Sprache ergeben, ist das (ansonsten sehr umfangreiche) Korpus allerdings nicht geeignet, weil die Transkriptionen keine Visualisierung dieser Strukturen und der entsprechenden Sprecherwechsel ermöglichen.

Trotz des großen Fortschritts, den Viegas Brauer-Figueiredo dadurch erzielt, dass sie Erscheinungen des gesprochenen Portugiesisch durch die Einnahme einer neuen Perspektive untersucht, gelingt es ihr nicht, die von ihr erzielten Untersuchungsergebnisse im Rahmen eines homogenen und systematischen Konzepts zu interpretieren. Darum stellen sie sich dem Leser in vielen Zusammenhängen als zusammenhangslose Phänomene dar, die relativ heterogenen Kategorien – unterschiedlichen Wortklassen und Untersuchungsbereichen einer konventionellen Grammatik wie Morphologie, Wortbildung und Syntax – angehören. Ihre gewonnenen Erkenntnisse verfehlen somit den Effekt, Impulse für nachfolgende Untersuchungen zum gesprochenen Portugiesisch auszulösen. Aus der Sicht der in Portugal üblichen formal-strukturalistischen Grammatikbeschreibung werden ihr Konzept, ihre Methode und die von ihr gewonnenen Erkenntnisse m.E. kaum angemessen wahrgenommen.

Nach der Lektüre einiger Beiträge der portugiesischen GSF ergibt sich für mich abschließend der Eindruck, dass sich viele der in ihnen gewonnenen Erkenntnisse mit den an dieser Stelle formulierten Einsichten decken. Allerdings folgen sie unterschiedlichen, oft nicht explizit dargestellten Konzepten, und es mangelt ihnen an einer umfassenden Gesamtdarstellung. Dieser Umstand schmälert erheblich ihren Wert und Einfluss auf weitere Untersuchungen zur portugiesischen gesprochenen Sprache. Außerdem fehlt m.E. die vorausgehende Phase einer epistemologischen Reflexion oder ‚Grundlagenforschung‘, wie sie in den Naturwissenschaften gang und gäbe ist, an der es aber zugebenerweise auch in der germanistischen GSF lange Zeit gemangelt hat, bzw. die auch in weiten Bereichen der germanistischen Philologie und ihrer Einstellung zur GS immer noch fehlt. Zu diesen Ausgangsüberlegungen würde eine vorausgehende Reflexion über die prinzipielle Beziehung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit gehören, die Einsicht, dass sich nicht alle sprachlichen Erscheinungen im Rahmen einer formal-strukturalistischen Sprachtheorie deuten lassen sowie die Infragestellung der unreflektiert unterstellten Priorität der Schriftgrammatik und ihrer Regeln, die als Untersuchungsmaßstab und als Kriterien zur Bewertung von Erscheinungen der Mündlichkeit ungeeignet sind. Weiterhin wäre es einer Überlegung wert, Regelmäßigkeiten und Gebrauchsregularitäten, die sich als Ergebnis von Korpus basierten Untersuchungen der portugiesischen GS herausstellen, einer neuen Bewertung zu unterziehen: Von zentraler Bedeutung wäre es hierbei, die hergebrachte saussurianische Dichotomie ‚parole vs. langue‘ durch die Einführung eines vermittelnden Begriffs der ‚Norm‘, wie ihn Coseriu vorschlägt, neu zu überdenken. Schließlich mangelt es an Überlegungen, ob und welche sprechsprachlichen Erscheinungen bereits zum jetzigen Zeitpunkt mehr als bloße Gebrauchsregularitäten eines ‚normalen‘ Sprechens darstellen und die Erstellung einer entsprechenden Grammatik des gesprochenen Portugiesisch einfordern. Momentan erkenne ich allerdings noch keine Öffnung für ein solch alternatives Konzept zur angemessenen Untersuchung von Erscheinungen des gesprochenen Kontinentalportugiesisch. Dieses würde m.E. einer konsequenten pragmatischen Sicht auf die Ausdrucksweisen und Strukturen des gesprochenen Portugiesisch bedürfen. Hinzu käme die Anwendung von neuen linguistischen Konzepten, wie sie z.B. die ‚Interaktionale Grammatik‘, die ‚Construction Grammar‘ oder auch das ‚Modell des Nähe- und Distanzsprechens‘ bereitzustellen.

Als ein Schritt auf diesem Weg sollen die Überlegungen und Ergebnisse mit beitragen, die ich in der vorliegenden Arbeit zur Verfügung stelle.

In Brasilien könnte die Lage hinsichtlich der Erforschung des gesprochenen Portugiesisch kaum unterschiedlicher sein. Bereits ein kleiner Streifzug durch die Bibliotheken der FLUL oder eine Recherche im Internet führen zu dem Schluss, dass es an vielen brasilianischen Universitäten und Forschungszentren in den letzten Jahren eine große Zahl von Projekten mit einer entsprechend hohen Zahl von Veröffentlichungen gibt, die sich der Erforschung der brasilianischen Variante des gesprochenen Portugiesisch widmen. Entsprechende Forschungen scheinen auch in den letzten Jahren nichts von ihrer Attraktivität eingebüßt zu haben.

Im Zentrum dieser Forschungen zur gesprochenen Sprache steht das Projekt NURC (Estudo da Norma Urbana Culta), das sich seit Beginn der Forschungen als Ziel die Beschreibung des brasilianischen Portugiesisch in den urbanen Zentren Brasiliens São Paulo, Rio de Janeiro, Recife, Porto Alegre und Salvador gesetzt hatte16. Um sich der Bedeutung und der historischen Voraussetzungen dieses Ziels bewusst zu werden, sollte sich der Leser daran erinnern, dass es noch Mitte der 60er Jahre in Brasilien an allen Voraussetzungen für ein solches Projekt kultureller Identitätsfindung mangelte. Zudem sollte man bedenken, dass dieses ‚Riesenland‘ noch bis in die 80er Jahre durch einen sehr hohen Anteil von Analphabeten geprägt17 war, und die strengen Vorlagen des damals herrschenden Militärregimes das akademische Leben an den Universitäten in seinen Möglichkeiten erheblich einschränkten18. Nicht zuletzt weil die Darstellung einer eigenen Nationalsprache aus Gründen des Nationalprestiges auch im Interesse der herrschenden Klasse des Militärs lag, konnte dieses Projekt aber schließlich auf den Weg gebracht werden. Die ersten Impulse entsprangen der Teilnahme brasilianischer Philologen an Tagungen in den USA (Bloomington 1964) sowie Mexiko (1968). Von dort aus ‚importierte‘ Nelson Rossi, Professor an der staatlichen Universität von Bahia, das Projekt mit dem ursprünglichen Titel „Proyecto de Estudio Coordinado de la Norma Linguistica Culta de las Principales Ciudades de Iberoamerica y la Peninsula Iberica“ nach Brasilien und stellte es 1969 in einer Tagung in São Paulo seinen brasilianischen Kollegen vor. Schnell war man sich einig, dass man das Projekt übernehmen, aber im Gegensatz zum ursprünglichen Konzept auf alle urbanen Zentren Brasiliens von Süden bis Norden ausdehnen wollte: von Porto Alegre (NURC/RS), über São Paulo (NURC/PS), nach Rio de Janeiro (NURC-RJ), Salvador (NURC-Salvador) und Recife (NURC/RE). Im Zentrum dieser Initiative stand zu Beginn Isaac Nicolau Salum von der USP in São Paulo. Er wurde 1981 von Dino Preti sowie Ataliba Teixeira de Castilho, einem früheren Doktoranten Salums, abgelöst.

Die erste Phase dieses Projektes wurde mit einer Datenerhebung, die von 1970 bis 1978 währte, in allen fünf genannten urbanen Zentren Brasiliens eingeleitet. Obwohl es sich dabei um Aufnahmen der gesprochenen Sprache handelte, ging es den Verantwortlichen in erster Hinsicht nicht ausschließlich um eine Grammatik der gesprochenen Variante des brasilianischen Portugiesisch. Was man beabsichtigte, war hingegen ein „Estudo da Norma Linguística Culta de algumas das principais capitais brasileiras“, so der Name einer Schrift von Castilho (1972/1973). Ziel war die Beschreibung und Entwicklung einer ‚Sprechen und Schreiben‘ erfassenden Grammatik des standardsprachlichen brasilianischen Portugiesisch, so wie es auch der Projekttitel Norma Linguística Culta nahelegt. Dabei sollte man sich vor Augen führen, dass dieses Projekt die Anfangsphase systematisch betriebener Sprachwissenschaft in Brasilien einleitete. Zu dieser Zeit mangelte es ihm aber sowohl an geeigneten Korpora der geschriebenen und gesprochenen Sprache als auch an entsprechenden Methoden und Konzepten, die eine systematische Erfassung und Beschreibung erlaubt hätten. Unter diesen Bedingungen war es ein naheliegender und verständlicher Schritt, die Beschreibung des brasilianischen Portugiesisch mit einem Plan zur Erstellung von Korpora der GS einzuleiten.

Die Aufnahmen zu diesen Korpora19 erfolgten in allen oben genannten Städten zwischen 1970 und 1978 und erfassten einen für diese Zeit und ihre technischen Möglichkeiten gigantischen Korpus von 1.870 Interviews. An seinem Zustandekommen waren 2.356 weibliche und männliche Gewährspersonen beteiligt. Insgesamt kamen so 1.570 Stunden Sprachaufnahmen zusammen (Castilho 2015,12). Als Bedingung für die Datenerfassung – man denke an den Namen des Projekts Norma Linguística Culta – wurde vorgegeben, dass es sich um Gewährspersonen verschiedenen Alters (davon 30 % zwischen 25 und 35, 45 % zwischen 36 und 55, und 25 % mit mehr als 56 Jahren) mit einer höheren Schulausbildung (nível superior de escolaridade) handeln musste. Die Aufnahmen setzten sich aus verborgen aufgenommen ‚spontanen Dialogen‘ (10 %), Gesprächen zwischen zwei Gewährspersonen (40 %), Interviews mit einer Reihe vorher festgelegter Fragen (40 %) sowie aus monologischen Texten für den phonetischen Teil der Untersuchung (10 %) zusammen (Silva 1996, 85).

Die Transkriptionen der Korpora bildeten den folgenden Schritt zur Erstellung des Gesamtkorpus. Sieht man sich als Beispiel für die vorhandenen Transkriptionen das Korpus von Rio de Janeiro an, fällt auf, dass es sich um ‚literarische Transkriptionen‘ handelt, die allerdings von der Standardorthographie abweichende Aussprachen zumindest teilweise in ihren alternativen Formen (einschließlich der entsprechenden Graphemik) transkribieren, wie z.B. den Satz Também não dá pra ter em apartamento (Inquérito 0120 / tema ‚animais e rebanhas‘ / ano da gravação 1972)20. In dieser Hinsicht besteht ein wichtiger Unterschied zu den in Portugal vom CLUL bereitgestellten ‚literarische Transkriptionen‘ wie denen des ‚C-ORAL-ROM-Korpus‘, die phonetische Abweichungen ignorieren und den Regeln der Standardorthographie anpassen. Ungefähr zeitgleich mit der Datenerhebung und Anfertigung der Korpora zwischen 1970 und 1978 – je nach Stadt dauerte die Erstellung der Transkriptionen unterschiedlich lange – erschien eine Reihe von Untersuchungen zum brasilianischen Portugiesisch (Castilho 2007, 100). Aber erst seit Mitte der 80er Jahre setzte eine wahre Flut von Veröffentlichungen ein, die sich zu einem erheblichen Anteil – wenn auch nicht ausschließlich – der gesprochenen Variante des brasilianischen Portugiesisch widmete. Entsprechend äußert sich ein anderer bedeutender brasilianischer Sprachwissenschaftler, Luiz A. Marcuschi21 (2001, 345): „Até então quase inexistentes estudos sistemáticos sobre a fala, a escrita e as relações de ambas no Brasil. Hoje esse campo conta com algumas centenas de trabalhos nas mais diversas linhas teóricas sobre os mais variados aspectos“.

Die zweite Phase des NURC Projekts begann mit einer systematischen Auswertung des Korpus unter Berücksichtigung der bis dato neu veröffentlichten Literatur zum Thema, wobei die Gruppe um Castilho in dieser Phase auf mehr als 50 Mitarbeiter aus 15 brasilianischen und ausländischen Universitäten zählen konnte. Der Titel dieses Projekts Projeto de Gramática do Português Falado (PGPF) ist allerdings irreführend, weil im Zentrum des Projekts nicht ausschließlich – wie das Attribut ‚falado‘22 vermuten lässt – die GS, sondern eine Beschreibung des standardsprachlichen oder ‚hochsprachlichen‘ brasilianischen Portugiesisch stand, wenn man diesen letzteren zumindest in der europäischen Forschungstradition archaisch anmutenden und für die deskriptive Linguistik negativ konnotierten Begriff verwenden will.

Das Team um Castilho, zu dem unter anderen Margarida Basílio, Rodolfo Ilari, Mary Kato, Ingedore Villaça Koch, Maria Helena Moura Neves, Maria Bernadete Marques Abaurre und Ângela Rodrigues gehörten – um nur eine der wichtigsten Namen zu nennen –, begann ab 1990 mit der ersten Ausgabe der insgesamt acht Bänden der Gramática do Português Falado, die zunächst beim Verlag ‚Unicamp‘ der Universität von Campinas im Staat São Paulo erschien23. Dabei handelte es sich im Grunde genommen nicht um eine Grammatik im engeren Sinn dieses Begriffs, sondern zunächst um eine Sammlung lose miteinander verbundener Artikel zu den verschiedenen Bereichen einer Grammatik. Dazu gehören sowohl Beiträge zur Schriftsprache als auch solche, die sich spezifischen Erscheinungen der Mündlichkeit widmen.

Dieser Mangel und eine weitere Flut von Veröffentlichungen führte ab 2004 zu einer Phase der „Consolidação“ (Castilho 2007, 100). Neben einer Aktualisierung bedeutete die Umgestaltung insbesondere, dass man thematisch zusammengehörige Beiträge zu Gruppen zusammenfasste. Am Ende dieses Prozesses stand die Veröffentlichung einer ‚runderneuerten‘ Grammatik, der man den Titel Gramática do Português Culto Falado no Brasil verlieh. Diese Reihe bestand zunächst aus fünf Bänden, wurde dann aber umorganisiert und auf insgesamt sieben Bände verteilt, wobei die originalen Beiträge der fünfbändigen Ausgabe wortgetreu erhalten blieben. Diese Umverteilung war sinnvoll, weil der ursprünglich zweite Band dieser Version der Grammatik mit weit über 1000 Seiten zu umfassend ausgefallen war – für die neue Herausgabe wurde ‚Band II‘ in drei Einzelbände aufgeteilt – und preislich so hoch lag, dass sich sein Verkauf als schwierig erwiesen hatte.

Die (vorläufig) neueste Ausgabe der aus sieben Bänden bestehenden Gramática do Português Culto Falado no Brasil erschien zwischen 2013 und 2016, nun bei dem Verlag ‚Editora Contexto‘ in São Paulo, und setzt sich folgendermaßen zusammen: Band I wurde 2015 von Clécila Spinardi Jubran unter dem Titel A Construção do Texto Falado herausgebracht. Ihm folgte noch im selben Jahr 2015 Band II von Mary Kato und Milton do Nascimento mit dem Titel A Construção da Sentença. Band III von Rodolfo Ilari mit dem Titel Palavras de Classe Aberta war bereits 2014 erschienen, und ebenfalls von Ilari wurde dann 2015 Band IV mit dem Thema Palavras de Classe Fechada herausgegeben. 2016 folgte Band V mit dem Titel A Construção de Orações Complexas von Neves, Helena Maria de Moura. Ângela Rodrigues und Ieda Maria Alves organisierten Band VI A Construção Morfológica da Palavra, der 2015 veröffentlicht wurde, und die Herausgabe des bereits 2013 erschienenen Bands VII A Construção Fonológica da Palavra leitete schließlich Maria Bernadete Abaurre.

Obwohl auch bereits die sieben Bände dieser Grammatik zahlreiche Beiträge24 zur GS des brasilianischen Portugiesisch enthalten – man erinnere sich an den ursprünglichen Plan, dem zufolge das Projekt sowohl Sprechen als auch Schreiben erfassen sollte –, sind die Artikel, die Dino Preti zusammen mit anderen Autoren in den zehn Bänden seines ‚Projetos Paralelos‘ veröffentlicht hat, spezifisch auf den Forschungsbereich der GSF zugeschnitten und folglich für die hier vorliegende Arbeit von größerer Bedeutung. Dino Preti ist Initiator und einer der verantwortlichen Organisatoren dieser Reihe Projetos Paralelos, die beim Verlag ‚Humanitas‘ erschienen ist. Zusammen mit anderen Autoren, zu denen u.a. Antônio Marcuschi, Hudinilson Urbano, Gaston Hilgert oder Marli Quadros Leite gehören – um nur einige wenige der wichtigsten Namen zu nennen –, hat Preti in den zehn Bänden dieser Reihe Projeto Paralelo zahlreiche Artikel zur GSF verfasst bzw. herausgebracht. Die mir bekannte letzte Ausgabe dieser Reihe datiert auf 2009. Zu ihr gehören im Einzelnen: Volume 1 – Análise de textos orais von 1993 / Volume 2 – O discurso oral culto von 1997 / Volume 3 – Variações e confrontos von 1998 / Volume 4 – Fala e escrita em questão von 2001 / Volume 5 – Interação na fala e na escrita von 2002 / Volume 6 – Léxico na língua oral e na escrita von 2003 / Volume 7 – Diálogos na fala e na escrita von 2005 / Volume 8 – Oralidade em diferentes discursos von 2006 / Volume 9 – Cortesia verbal von 2008 / Volume 10 – Oralidade em textos escritos von 2009.