Kindheit am Rande der Verzweiflung

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Kindheit am Rande der Verzweiflung
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Copyright © Claudius Verlag, München 2021

www.claudius.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –

nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt, München

Umschlagbild: © winnond/shutterstock.com

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2021

ISBN 978-3-532-60100-6

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

1. Benachteiligte Kinder vor dem Kollaps

2. Gewalt an Kindern ist in der Isolation vorprogrammiert

3. Kann Bildung ein Weg aus der Armut sein?

4. Die unmittelbaren Folgen von Corona für die jüngere Generation

5. Kinder und politische Veränderungen

6. Familienhilfe ganz konkret

Vorwort

Schon mein ganzes Leben hatte ich mit herausfordernden Situationen zu tun. Selbst meine eigene Kindheit, die von Armut und Beziehungslosigkeit geprägt war, wurde zum ständigen Überlebenskampf. Danach begleiteten mich jahrzehntelang Kinder mit ähnlichen Schicksalsschlägen, und das alles ließ 1995 das christliche Kinder- und Jugendwerk „Die Arche“ entstehen. Mit der Gründung dieser Hilfsorganisation startete auch der Kampf gegen Kinderarmut und für mehr Chancengleichheit. Im Jahr 2001 wurde der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesrepublik veröffentlicht und es wurde bekannt, dass 1,2 Mio. Minderjährige in finanzieller Armut aufwachsen müssen. Ich dachte, dass jetzt, nach diesem Bericht, etwas passieren wird.

Heute, 20 Jahre später, haben sich diese Zahlen verdreifacht und unser Kampf umso mehr vervielfacht. Die Bildung unserer Kinder ist abhängig vom Einkommen der Eltern und Hunderttausende Kids machen so eine abgehängte Generation aus, die niemals eine Chance haben wird, dem Kreislauf der Bildungsferne zu entkommen.

Als ich am 16. März 2020 die Archen in Deutschland, aufgrund des verordneten Shut-downs, schließen musste, öffnete sich mir ein düsteres Bild. Über Nacht durfte kein Kind mehr in unser „Rettungsboot“ kommen. In den Schulen fehlten die Konzepte für Home-schooling und das Voranbringen der Digitalisierung. Bedingt durch den verordneten Lock-down stieg die Gefahr von häuslicher Gewalt und sexuellem Missbrauch. Die finanziellen Herausforderungen durch Hamsterkäufe und Verteuerungen der Lebensmittel würden besonders benachteiligte Familien treffen. Über Nacht würden wichtige Ansprechpartner und einige Hilfsorganisationen im Nirwana verschwinden.

In mir wuchs stetig die Frage: „Wer ist jetzt noch da? Wer steht den gefährdeten Kindern zur Seite? Wer sorgt dafür, dass diese abgehängte Generation nicht ganz verloren geht? Wer versorgt jetzt die bedürftigen Familien und steht ihnen moralisch bei?“

Die Arche wurde für Tausende Menschen zum Krisenbewältiger, musste aber dennoch zusehen, wie ein Sozialsystem versagt, das eine große Gruppe von Menschen scheinbar nicht auf dem Schirm hat.

Monatelang zogen sich Lockdown und Einschränkungen hin, die nicht ohne Folge für die junge Generation blieben. Sie wurde nicht einmal gefragt, was sie beschäftigt oder was sie sogar ändern würden.

In dieser Zeit erlebte ich „Kindheit am Rande der Verzweiflung“ und häufig stieg in mir die Wut. Ich stand einer ohnmächtigen Politik gegenüber.

Im Mai 2021 setzte die Kriminalstatistik all dem noch die Krone auf. Die Befürchtungen von Sozialverbänden und auch von mir wurden leider bestätigt. Misshandelte, geschlagene und geschundene Kinder, selbst ein Anstieg der Tötungszahlen an Kindern war nur die Spitze des Eisbergs. Psychologen, die nur noch Kinder behandeln können, die stark suizidgefährdet sind, weil der Andrang gewaltig ist und ein Ende ist noch lange nicht in Sicht.

In Hunderten von Medienberichten und eigenen Pressemitteilungen versuchte ich an Gesellschaft und Politik zu appellieren, unsere Kinder nicht zu vergessen und mit politischen Hilfspaketen nicht bis nach Corona zu warten. Scheinbar wurde alles überhört, selbst konstruktive Vorschläge.

Ja, wir haben Kinder auf dem Gewissen und müssen mit vielen Spätfolgen rechnen, weil wir scheinbar aus all dem wenig gelernt haben.

All das hat mich bewegt, dieses kleine Buch zu schreiben. Auf der einen Seite als Hilfeschrei, auf der anderen Seite, um niemals zu vergessen, wie unsere Kinder gefühlt haben und fühlen. Aber auch um deutlich zu machen, welchen Stellenwert Kinder haben, die immer wieder mit Entbehrungen fertig werden müssen.

Ein Kind ist ein schützenswertes Geschöpf, für das wir alle Verantwortung tragen. Und jetzt müssen wir alle Hebel in Bewegung setzen, dass die Zukunfts- und Entwicklungschancen dieser Kinder nicht schon wieder übersehen werden.

Es geht in diesem Buch nicht um Schuldzuweisung, aber es geht darum, endlich zu erkennen, dass wir in der Bringschuld für unsere nachwachsende Generation sind.

1. Benachteiligte Kinder vor dem Kollaps

Es ist der 12. März 2020. Die Nachrichten machen mich wahnsinnig. Stündlich werden Meldungen von einem bevorstehenden Lock-down veröffentlicht. Fast im gleichen zeitlichen Abstand rufen mich meine Einrichtungsleiter*innen aus ganz Deutschland an und fragen, ob wir von dieser bevorstehenden Schließung auch betroffen sind. Immer wieder ist meine Antwort: Nein, wir lassen die Arche so lange auf, bis wir die Anordnung der Bundesregierung erhalten. Auch wenn mir bewusst ist, dass man für uns und unsere Kinder keine Ausnahme machen kann, male ich mir aus, was es bedeuten würde, wenn wir unsere Archen für eine bestimmte Zeit schließen müssten.

4 500 Kinder, die dann ab sofort nicht mehr kostenlos zu Mittag essen können, keine Hausaufgabenhilfe, keine musikalischen und sportlichen Veranstaltungen mehr, keine liebevollen Umarmungen bekommen, all das, was unsere Kinder doch so sehr brauchen. Meine Gedanken spielen verrückt. Ich möchte „unsere“ Menschen nicht alleinlassen.

Es ist Freitagvormittag und die Schließung der Einrichtungen unumgänglich. Die Bundesregierung teilt den vollkommenen Shutdown mit und kündigt die Schließung aller Schulen und Kindertageseinrichtungen für den folgenden Dienstag an. Schweren Herzens übermittle ich all meinen 27 Einrichtungsleiter*innen, dass wir noch bis Mittwoch die Einrichtungen offen lassen, auch mit dem Risiko, dass wir Ärger bekommen.

Innerhalb weniger Stunden erarbeiten wir einen Plan B, denn Deutschlands vergessene Kinder dürfen jetzt nicht auch noch von ihrer Arche vergessen werden.

Eins ist in diesem Moment klar: Viele Familien werden durch diesen Beschluss an den Rand ihrer Existenz gedrängt. Gerade in Berlin, wo fast alle Kinder kostenlos in der Schule und in den Archen essen, werden erhebliche finanzielle Belastungen auf unsere Hartz 4-Familien zukommen. Kein Schulbetrieb bedeutet automatisch, dass wichtige soziale Kontakte fehlen werden und zudem viele Familien auf engstem Raum zusammenleben müssen. Probleme sind dadurch vorprogrammiert. Zum ersten Mal nach 25 Jahren Arbeit in sozialen Brennpunkten muss ich die wichtigste Anlaufstelle für unsere Familien schließen, was mir fast das Herz bricht.

In der Vergangenheit waren wir unseren Familien auch außerhalb der Öffnungszeit sehr nah. Hausbesuche, WhatsApp-Kontakte, Notruftelefone, die 24 Stunden erreichbar sind, haben über Jahre Vertrauen geschaffen und uns zu verlässlichen Ansprechpartnern gemacht.

Unsere erste Aufgabe ist jetzt zu ermitteln, ob wir alle Kinder während des Lockdowns telefonisch erreichen können und dies auch, wenn die SIM-Karte auf der anderen Seite kein Guthaben aufweist.

Wir haben noch vier Tage, um zu ermitteln, wie viele Kinder kein Smartphone haben. Da wo Bedarf ist, schauen wir, mit einem Handy aushelfen zu können. Kein Telefon bedeutet eben, nicht erreichbar zu sein. Schon oft mussten wir feststellen, dass unsere Kinder nicht nur simple Betreuung, sondern Freunde und Partner brauchen, die in allen Lebenssituationen erreichbar sind. Häufig sind die Arche-Mitarbeitenden der einzige „normale“ und unterstützende Kontakt. Nicht selten konnten wir mit und ohne Hilfe des Jugendamtes familiäre Situationen verbessern.

Außerdem bekommen die Kinder Hausaufgaben gestellt, die sie online machen sollen. Auch dazu bedarf es zumindest eines Handys.

 

Online sein zu können – ohne digitale Endgeräte? Ohne Drucker? Ohne Druckerpatronen? Ohne schnelles Internet? Das Mobiltelefon ist hier ein einfaches Hilfsmittel, aber besser als keines. Ein paar Tage später wird sich noch herausstellen, dass wir innerhalb kürzester Zeit fast 200 Smartphones organisieren mussten. Über die sozialen Medien und Sponsorenaufrufe haben wir es letztendlich geschafft, unsere Kids mit einem Handy zu versorgen. Erst später wurde uns bewusst, was allein die Erreichbarkeit ausmachte und wie viele Kinder tatsächlich das Mobiltelefon als einziges digitales Hilfsmittel für Schule und Recherche hatten.

Ein weiteres großes Problem stellt die Lebensmittelversorgung dar. Nicht nur Toilettenpapier und Desinfektionsmittel sind seit Tagen in den Supermärkten ausverkauft; auch die preiswerten Lebensmittel sind nicht mehr vorhanden. „Hamsterkäufe“ ist das neue Schlagwort und das in einer sogenannten Wohlstandsgesellschaft. In der Wohlstandsgesellschaft sind in der Regel die Kellerregale mit Vorräten prall gefüllt, bei den armen Familien dieser Gesellschaft wohl eher nicht. Eine angstmachende Situation, die häufig den Haussegen schief hängen lässt – leider haben das viele nicht verstanden.

Den meisten von uns wird bekannt sein, dass die von Kinderarmut bedrohte Gruppe in der Regel Großfamilien, Migrationsfamilien und Kinder von Alleinerziehenden sind. Sie haben einen erhöhten Bedarf an Lebensmitteln aufgrund der Haushaltsgröße. Sie haben aber am Ende des Monats auch das wenigste Geld in ihrem Geldbeutel. Die leer gefegten Supermarktregale treffen diese Bevölkerungsschicht am stärksten. Somit stehen schon Tage vor dem angekündigten Shutdown unsere Telefone nicht still. Die Frage nach Unterstützung hören wir häufig. Dazu kommt, dass mittlerweile Eltern, die mit mehr als zwei Kindern einkaufen gehen, in den Geschäften von Kunden und teilweise dem Personal beschimpft werden. Kinderreichtum als Makel. Viele Eltern gehen gar nicht mehr von Geschäft zu Geschäft, um Preise zu vergleichen, sondern kaufen eingeschüchtert lieber die teuren Dinge und sparen sich so weitere Demütigungen.

An diesem Freitag bin ich ununterbrochen dabei, Lösungsansätze zu finden, die wir deutschlandweit in den Archen umsetzen können. Wir möchten nicht zusehen, wie Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen, auf den Abgrund zusteuern. Wir übersetzen die den Lockdown betreffenden Regierungsbeschlüsse in ein verständliches Deutsch, das auch bildungsfernen Familien zugänglich ist. Auch Übersetzungen in andere Landessprachen sind vonnöten, da viele Familien mit Fluchterfahrung völlig verängstigt und desorientiert sind.

Am Abend steht das Programm für eine „virtuelle Arche“, die neben digitaler schulischer Hilfe auch ein Programm zur Beschäftigung unserer täglichen Besucher schafft, die ja jetzt nicht mehr in unsere Häuser kommen können. Telefon- und Broadcastlisten mit den Kontaktdaten von Eltern und Kindern sind eingerichtet. Alle sind erreichbar und können bei der Stange gehalten werden, denn bei vielen Personen treten bereits Ängste und auch Depressionen auf.

Aber auch unsere Vorratslager in den einzelnen Archen müssen mit Lebensmitteln gefüllt werden, damit wir jedem die Unterstützung zukommen lassen können, die dringend benötigt wird. Die nächsten Wochen werden nicht einfach, denn mehr als 6 000 Menschen werden unser Hilfsangebot nutzen. Eltern, mit denen wir erst seit kurzer Zeit in Kontakt stehen, fassen aufgrund unserer Hilfsangebote schnell Vertrauen. Einige sind unverschuldet in Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit geraten.

Die Schulen und Geschäfte schließen, Ausgang ist nur in besonderen Fällen erlaubt. Das Hilfesystem kollabiert. Nur noch wenige Jugendämter sind erreichbar. Notfalltelefone sind meist besetzt, die Lage spitzt sich zu. „Die Tafel“ stellt über Nacht überall ihren Betrieb ein. Die Menschen bleiben zu Hause. Die Ortschaften gleichen Geisterstädten.

Schnell ist ein neuer Begriff kreiert: systemrelevant. Ja, das sind wir auch. Alle Arche-Mitarbeitenden bekommen ein Schriftstück an die Hand, in dem ihre Systemrelevanz bestätigt wird. Sie können sich so frei bewegen. Frei, um Menschen zu helfen, die jetzt hinter ihren Wohnungstüren zu vereinsamen drohen. Doch „systemrelevant“ ist mir zu wenig. Wir sind ja nebenbei auch noch „beziehungsrelevant“, denn gerade in der Zeit, in der das Sozialsystem komplett heruntergefahren wird, braucht es Beziehungspartner. Beziehung zu Menschen halten, die sich vom System verlassen fühlen, die der Politik verdrossen sind, weil Politiker ihre Sprache nicht sprechen, die Angst vorm Jugendamt haben, da sie der Meinung sind, dort schnell als Versager abgestempelt zu werden. Menschen, die Hilfe suchen und immer erst ihre Bedürftigkeit nachweisen müssen, bevor überhaupt jemand mit ihnen redet. Eltern, Jugendliche, Kinder, die ihre Perspektive und ihr Selbstwertgefühl verloren haben und in der Gesellschaft häufig als Schmarotzer und asozial bezeichnet werden, brauchen keine neuen Formulare. Vielmehr brauchen sie Partner, die sie begleiten, stärken und ihnen Perspektive und Würde vermitteln.

Bereits am zweiten Tag des Lockdowns habe ich gemeinsam mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern insgesamt 1 630 Familien besucht, um ihnen Lebensmittel und moralische Unterstützung zu bringen. Es waren Begegnungen vor der Wohnungstür mit 1,5 Meter Abstand zueinander und vielen Tränen. Die Kinder, die sich auf unseren Besuch zu Hause freuten, durften uns nicht einmal zur Begrüßung die Hand geben. Kinder, die dies brauchen, da in ihrem Leben schon so viel kaputt gemacht wurde. Oft standen wir neben ihnen, doch nicht um zu trösten, sondern manchmal, um mitzuweinen.

Die Suche nach haltbaren Lebensmitteln und Hygieneartikeln wurde zum Kraftakt, aber auch die Suche nach Sponsoren stellte eine deutliche Herausforderung dar. Dennoch besuchten wir monatelang im Shutdown und in der Pandemie unsere Familien und immer mehr Kinder, die uns um Unterstützung baten. Die Telefone standen nicht still und immer mehr Hilferufe ereilten uns. Auch die schulischen Hilfen waren gefragter, mehr denn je. Noch bis zum heutigen Tag sitzen die Arche-Mitarbeitenden von frühmorgens bis spätabends am Mobiltelefon, um das neue Homeschooling zu unterstützen. Viele Eltern sind nicht in der Lage, ihren Kindern zu helfen. Nicht selten hörte ich, dass sich einige Lehrkräfte erst nach sechs Wochen bei ihren Schülern meldeten. Zusätzliche Probleme waren somit vorprogrammiert.

Unsere Arbeitszeiten verdreifachten sich und auch die Nächte waren nicht störungsfrei, denn immer mehr Eltern und Kinder meldeten sich, weil häusliche Probleme sie in die Enge und Verzweiflung trieben.

Und es sollte sich herausstellen, dass all das nur einen kleinen Anfang einer großen Ohnmacht darstellte, die zum Teil bis heute anhält.

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