Kitabı oku: «Der mitteleuropäische Reinigungskult», sayfa 2
LESSONS IN LOVE
Wie das Schicksal, das alte Unglücksrad, es wollte, wurde Antons Trennung von Barbara von seiner Rede zum Untergang der Compact Disc eingeleitet, die er drei Monate zuvor bei einer Preisverleihung, einer traditionell fragwürdigen Award-Show der österreichischen Musikindustrie im Wiener Museumsquartier gehalten hatte, und zwar vor ein paar hundert geladenen Gästen, die seine Worte mit fernsehgemäßem Applaus würdigten, obwohl sie sie in Wahrheit belächelten. Immerhin war es eine konservative Rede, die sich dem unaufhaltbaren Wandel entgegenstellte und das Gute, das Bestehende festhalten wollte. Es war der Unaufmerksamkeit – immerhin hatten die armen Künstler und Musikindustriellen, eine Versammlung junger Hipster und alter Ehemaliger, die zu verzweifelten, angeberischen Name-Droppern geworden waren, schon über zwei Stunden in den unbequemen Sitzen ausgeharrt –, vielleicht auch der Höflichkeit geschuldet, dass diese Rede ihn für einen Augenblick ins Zentrum der popkulturellen Aufmerksamkeit seines Landes hievte. Anton stand auf dieser Bühne, weil ihm ein freilich hinterrangiger, mit null Euro dotierter Würdigungspreis für Musikjournalismus verliehen wurde.
»Sehr geehrte Damen und Herren!
Die Compact Disc ist mittlerweile so unbeliebt wie der Zigarettenrauch beim Essen, dabei ist es gerade mal lächerliche vierzig Jahre her, dass Frank Zappa sie mit offenen Armen willkommen geheißen hat. Endlich konnte er seine Musik so hören, wie er sie in seinem Kopf hörte – ohne dem blöden Gekratze und staubigen Gegrammel. Und natürlich hatte er recht, denn so war das nun mal, ich weiß, ich weiß, das Artwork, es ist groß, aber die Wahrheit ist freilich: Nicht das Digitale verfremdet, das Vinyl tut’s, denn, Sie erinnern sich, wenn du nicht aufgepasst hast, wenn du dich nicht wie ein Zwangsneurotiker mit Putzfimmel um deine Platten gekümmert hast wie um ein verfilztes Haustier, machte der Plattenspieler, was er wollte, ließ die Nadel vom ersten zum vierten Song springen oder eierte dir etwas vor, das nie und nimmer im Sinne der Musiker oder in deinem war. Kurz: Er beeinflusste die Aufnahme schamlos – und tut das selbstverständlich noch, da können seine Apologeten den Spieß umdrehen, solange sie wollen. Die Platte hat Charakter, sagen sie – genau das ist ihr Problem: Sie ist ein ideologisches Werkzeug. Die Compact Disc aber ist neutral, sie drängt sich nicht auf, nicht der Musik, nicht dem Wohnzimmer.
Ich habe in den Neunzigern meine Plattensammlung verscheuert, und wissen Sie, warum? Ich brauchte das Geld, aber ich wollte auch in dreißig, vierzig Jahren meinen Enkelkindern ins Gesicht schauen können, ohne mich zu schämen, weil in meinen Regalen große, unverzichtbare Popkunstwerke wie Lessons in love aus den verdammten Achtzigern verstauben, die sie schon bald wieder verramschen würden. Da habe ich mich ordentlich verschätzt, denn heutzutage würden meine Kinder, die ich Gott sei Dank nicht habe, Lessons in love total geil finden. Auf Vinyl wohlgemerkt, original aus dem heiligen Jahrzehnt, auf welches ich hier mit Verlaub spucken möchte.
Die Jungen, die heute selber produzieren, nehmen ihre Sachen mehr oder weniger mit dem Handy auf, um sie sodann heiligsprechen, also auf Vinyl pressen zu lassen und auf Kofferplattenspielern um neunundsiebzig Euro abzuspielen, die so klingen, als ob du einen Kassettenrekorder in die Waschmaschine legen würdest. Wahrscheinlich hat der Koffer sogar Bluetooth. Sagt man das so? Ist das ein vollständiger Satz? Der Koffer hat Bluetooth? Na egal, im Grunde stehen sie ohnehin nur auf die auf dem Parkett rumliegenden Cover. Die Leute verkaufen ja nicht nur ihr digitales Selbst im Netz, nein, sogar ihre eigenen vier Wände sind als Profil zu verstehen – das geilere, weil analoge. Ihr Fußboden ist nicht der Grund, auf dem sie wandeln, er ist eine Analogie, eine analoge Analogie, eine Visitenkarte, eine verdammte Insta-Story. Da liegt dann ganz beiläufig der Kopf von John Coltrane im Schwarzweißprofil rum, gleich neben Grandmaster Flash oder Abba, Udo Jürgens oder schamlosen Popsternchen, für die man sich damals fremdschämte, die aus irgendeinem Grund aber dreißig Jahre später von allen als Kult gefeiert werden. Ganze Pakete von billigen Plattenneuauflagen aus dem letzten Jahrhundert werden da geschnürt, die man einfach haben muss, weil sie die eklektische Bandbreite des urbanen Menschen von heute widerspiegeln, womöglich von einem längst fünfzigjährigen Typen kuratiert, der für den deutschen Rolling Stone immer noch über Dylan und Springsteen schreibt und sich in ewigen Bestenlisten ergeht. Einem, der Musik nicht in gut und schlecht, sondern in wichtig und irrelevant teilt.
Im Grunde stehen die Jungen also drauf, in ihren Regalen große, relevante Kunstwerke aus der guten, alten Zeit sinnlos verstauben zu lassen. Musikalisch gesehen, denn das Artwork natürlich, es ist groß! Ist das nicht verrückt? Das ist definitiv verrückt, denn eines kann ich Ihnen sagen: Die CD, die nunmehr von allen gehasste und so abfällig belächelte Compact Disc, ist, abgesehen vom perfekten Sound, selbstverständlich das viel geilere Format, nur kümmert sich keiner mehr darum. Zwölf mal zwölf Zentimeter! Sie passt in jede Tasche, man kann sie zu kleinen Büchern aus schönem Karton und feinem, handfestem Papier binden, ganze Essays reinschreiben oder sie einfach nur bebildern als reine Kunstinstallation, die den Hörer auf eine Reise schickt, und deren Wert, deren qualitativer Wert selbstverständlich nichts, aber auch absolut gar nichts mit Größe zu tun hat, das kann Ihnen jeder Kunstkritiker, der seine Latten am Zaun hat, jede heterosexuell aktive Frau kann Ihnen das bestätigen – und das sage ich nicht, weil ich ein Mann mit kleinem Schwanz bin, ich meine es sogar positiv, wenn ich Kunst sage.
Die Compact Disc ist ein Kunstwerk, auch wenn sie sich bescheiden zurücknimmt und still als Vehikel fungiert, sich hinter das heilige Gut, welches sie zu tragen bestimmt ist, stellt; sie weiß, sie ist nur der Tonträger, nicht der Ton, und als solcher muss sie beschützt, reanimiert, gefördert und gepflegt werden.
Wir reden hier von Kultur, wir reden von Artenschutz, von Evolution, von der Rettung des Klimas, meine Damen und Herren!
Ihre momentan anachronistische Massenproduktion ist so lieblos und beliebig geworden, dass ihr Ruf verständlicher- und natürlich geplanterweise den Bach runterging. Die unsäglichen, fragilen Plastiktrays, schlechten Drucke, Songtexte in Schriftgröße eins? Die CD selbst kann freilich nichts dafür, sie ist bloß der Sündenbock, es sind ihre zeitgeisttreuen Produzenten, die das vergeigen, indem sie einen Haufen Scheiße veröffentlichen, nur um zum tausendsten Mal das Wort Einsparungsmaßnahme aus ihren faulen Mündern fallen lassen zu können. Wir werden das Zehnfache verdienen, ohne zu investieren und zu riskieren, ohne etwas herstellen zu müssen, sagen sie.
Der weltweit inszenierte Untergang der Compact Disc ist der ultimative Wolf-of-Wallstreet-Traum jedes koksnäsigen Wirtschaftsstudenten: Wir machen ein paar Vinyls für die Feinschmecker, die CD machen wir in ein paar Jahren nur noch für die Schlageridioten, dann lassen wir sie sterben. Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei, außer es ist ein Kranzl, dann haben wir ein Problem, Houston. Wenn nicht einmal mehr eine Wurst ein Ende hat, ja dann … Was dann? Dann sind wir geliefert, also müssen wir handeln. So denken die, und Sie, liebe Zuhörer, denken vielleicht auch so, denken womöglich, ich hätte etwas gegen den Kapitalismus oder gegen die Jungen, über die ich hier meine Zweifel schütte. Das stimmt aber so nicht. Ohne Kapitalismus kein Wohlstand und ohne Wohlstand kein Individualismus – beides ist mir wichtig, alles andere wäre verlogen. Und ja, auch ich dachte immer, die armen Jungen seien Opfer der alteingesessenen Macht, aber das stimmt gar nicht. Die profitgeilen, heuchlerischen, kunstfeindlichen Mogule der Entertainmentbranche sind längst keine Alteingesessenen mehr. Wir Alten, die wir noch gar nicht alt sind, haben ausgedient.
Wenn Sie heute ein Meeting mit einem A&R-Director oder dem CEO eines fetten Majorlabels haben, werden Sie von Vierundzwanzigjährigen erwartet und die Türklinke wird Ihnen von einer neunzehnjährigen Youtuberin in die Hand gedrückt, deren Termin für den CEO freilich der vielversprechendere war. Ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist, aber ich sage: Auch die Wurst wird es nicht ewig geben, irgendwann wird das Wurstessen das neue Zigarettenrauchen sein – die Compact Disc aber muss überleben, wiederauferstehen und bleiben, nicht als Hipster-Retrohype, sondern als der Wahrheit verpflichteter Hort der Schönheit und des Seelendrecks, als Ausdruck des fragwürdigen Menschseins, als Manifest der Subkultur, als fleischgewordene Reliquie des Eigentlichen, als Beweisstück des Unmöglichen, als göttliche Materie, als natürlicher Feind der substanzlosen Behauptung, als Kurier und Vermittler einer unverfälschten Nachricht, mit der sie eins wird wie Braut und Bräutigam, Nonne und Jesus, als Kuppler, als Instrument der Menschen- und Weltverbesserung, als die zum Gruß ausgestreckte Hand eines Engels – kurz: als ideologiefreies und somit reines, nur mit der ihm eingebrannten Kunst beseeltes Polycarbonat. Ich danke Ihnen.«
Bei der Aftershowparty wussten die Leute nicht so recht, wie sie mit ihm umgehen sollten. Die einen nickten respektvoll oder klopften ihm auf die Schulter, als ob sie ihn kannten und schätzten. Einer hielt seinen Daumen in die Luft und sagte im Vorbeigehen: »Hey, Bro, Freedom of speech!« Andere verzogen das Gesicht und wichen ihm aus, ließen antikapitalistische Bemerkungen fallen.
Anton organisierte sich ein Bier. Dann ein zweites. Wie immer in Situationen wie dieser, bei Labelfesten, nach Konzerten, auf Premierenfeiern fiel ihm ein Song von Ron Sexsmith ein, in welchem er singt: I’m not too big on parties, I never know what to say. (Von der Platte Blue Boy, die ihm die liebste von Sexsmiths Platten war und von der er einst geschrieben hatte: »Ein beiläufiges und somit perfektes Produkt aus dem Proberaum der Wirklichkeit.«) Wie ein unbequemes Möbel, das registriert, aber nicht benutzt wurde, stand er im Raum, abwartend, darauf hoffend, dass er angesprochen wurde, darauf hoffend, dass er nicht angesprochen wurde. Er senkte den Kopf, hob die Schultern, versuchte sich auf kindliche Weise unsichtbar zu machen. Er hätte nach Hause gehen können, aber auch das wollte er nicht. Aus irgendeinem Grund dachte er, er sollte hier sein, sollte sich zeigen, einer sozialen Aktivität nachgehen, networken, was auch immer. Sein banales Problem war, dass er wirklich nie wusste, was er sagen sollte. Solange nicht ein konkretes Thema im Raum stand, schwieg er für gewöhnlich, was privat oder in einer größeren Runde ganz gut funktionierte, nicht aber im oberflächlichen Partynahkampf.
Er holte sich ein drittes Bier.
Ein Typ aus der Schlagerbranche beschwerte sich, dass selbst in einer Rede, die sich für etwas in seinem Metier nicht Wegzudenkendes wie die CD einsetze, das Wort Schlageridioten vorkommen müsse; das sei, so der freundliche Kärntner, eine Herabwürdigung der halben Landesbevölkerung. Eine Frau, sie war wohl Head oder Chief bei einem Plattenlabel, dozierte über die Vorteile des digitalen Marktes. Ein junger Musiker, vielleicht war er auch Junior oder Senior einer Major Company, sprach abfällig über die sentimentalen Grenzen des Albumformats – Track by Track war seine Devise. Anton war, als ob der Bub vor oder nach jedem Satz Track by Track sagte, es war mehr als eine Devise, es musste eine sogenannte Firmenphilosophie sein, ein eingelerntes Mantra oder aber eine psychische Störung. Überhaupt kommunizierten die hier Versammelten in einer codierten Fremdsprache, einer natürlich nicht neuen, aber in ein unverhältnismäßig unsinniges Extrem gezerrten Mischung aus englischen und neudeutschen Phrasen und Floskeln, während Anton an seiner Flasche nippte, unbewusst das Etikett von der Flasche kratzte, nickte und lächelte.
Folgende Wörter schienen den hier Feiernden verpflichtend zu sein: Release, Experience, Challenge, geil, voll, Community, Shit, deep und weird. Begriffe wie deepe Lyrics oder smarte Beats fielen aus Vollbärten wie Regentropfen von Dachrinnen. Die Sprache dieser Menschen war definitiv klein geschrieben. In Stein gemeißelte Regeln zur Satzstellung, die Notwendigkeit eines Verbs für einen vollständigen Satz – ja überhaupt das Sprechen in vollständigen Sätzen war aus der Mode gekommen.
Anton stellte fest, wie armselig bürgerlich sein Denken war, spürte, dass er, obwohl erst siebenundvierzig, ein alter Sack geworden war, der den Leuten hier am liebsten geraten hätte, zwischendurch mal einen Klassiker zu lesen. In einem schmerzhaften körperlichen Sinn spürte er den Wandel der Zeit, seinen Wandel vom anarchistischen Idealisten zum bürgerlichen Zyniker. Diese Transformation, der er hier und heute bei der Aftershowparty der traditionell fragwürdigen Award-Show ausgesetzt war, musste er mit allen Mitteln verheimlichen. Tatsächlich erwog er die Möglichkeit, einen monsterhaften, einen einer sich häutenden Schlange ähnlichen Anblick abzugeben, immerhin starrten ihn manche der Vorbeigehenden mit, wie ihm vorkam, staunenden, ja entsetzten Augen an, was aber wahrscheinlich nur mit seiner Rede zu tun hatte. Er verabscheute diese Leute. Er wollte mit dieser Szene nichts zu tun haben. Er interessierte sich nicht für die Erfolgreichen, die offenbar nichts Besseres zu tun hatten als ihm zu zeigen, dass er keiner von ihnen war, dass er nicht dazugehörte.
Insgeheim verstand er ihren Unmut. Er war kein Musiker, er war ein verdammter Kritiker, einer von denen, die sich zum Richter aufspielten, dabei hatte er noch nie über die lokale Musikszene geschrieben oder geurteilt. Das überließ er anderen. Er war der Meinung, dass das grundsätzlich nicht möglich war, erst recht nicht in Österreich. Die Distanz des Kritikers in Zeiten der totalen Nähe, so hieß ein einigermaßen beachteter Essay, den er vor ein paar Jahren über die Unmöglichkeit seines Berufsstandes verfasst hatte. Über heimische Musik schrieb er – aus Respekt, wie er betonte – nur, wenn deren Protagonisten tot waren oder aufgegeben hatten. Kein Wunder also, dass die jungen Aufstrebenden sich nicht für ihn interessierten, konnten sie doch nicht von ihm profitieren. Einmal war er über Falco hergezogen, den Wiener Popstar aus den Achtzigerjahren, hatte festgehalten, dass der Mann sein anfängliches Talent konsequent an den Zeitgeist verkauft und verschwendet hatte – na mehr hatte er nicht gebraucht, sein skeptischer Blick auf den Landeshelden erhitzte die Gemüter, er erhielt Hassbekundungen, Schimpftiraden, ja Morddrohungen, aber immerhin machte ihn genau dieser Artikel bekannt; seitdem lief es ganz gut. Wenn er wollte, konnte er veröffentlichen, ein Fundament, um das ihn andere beneideten. Zwar waren den meisten Arbeitgebern seine Texte zu persönlich, zu literarisch, so hörte er oft, verstand das aber als Kompliment. Er hatte sich angewöhnt, weniger über die Künstler zu schreiben oder sich Metaphern zu Schlagzeugsounds und Gitarrenriffs auszumalen, sondern darüber nachzudenken, was ihre Musik in ihm auslöste, das ergab zuweilen schrullige Selbstbetrachtungen.
Er hielt für unumstößlich, und das war auch ein Grundpfeiler seines Essays Die Distanz des Kritikers in Zeiten der totalen Nähe gewesen, dass im Grunde jegliche Nachbetrachtung eines Kunstwerks, vor allem aber eines in der Popkultur, also zumeist mitten in der jeweiligen Gegenwart, im Augenblick angesiedelten, nur der womöglich gut gemeinte, zuweilen aber unsinnige Versuch einer Erhöhung ins Seriöse, ins Politische oder gar in einen angesehenen akademischen Kulturkanon sei. So hielt er selbst den Begriff Popkultur für übermotiviert und Teil dieses Problems. Von seinen Kollegen wurden gerne beliebige Textpassagen aus Popsongs zitiert, die sogleich mit beliebigen Bedeutungen beschwert wurden, die in Antons Kopf keinen Sinn, nicht einmal Anstoß zum Weiterdenken ergaben. Oder sie stellten jene Zitate einfach in den Raum, davon ausgehend, dass die Leser das Außerordentliche selbst erkannten. Der Kritiker aber durfte, wenn es nach ihm ging, kein besserwisserischer Erklärer des besprochenen Werks sein, eher ein Diener oder Priester, der das Mysterium, so es vorhanden war oder auch nur von ihm wahrgenommen wurde, mit seiner Gemeinde teilte, feierte, ergründete, zurechtrückte oder aber seine Absenz beklagte. Die Künstler, die er selbst kennengelernt oder interviewt hatte, wollten alle auf einem gewissen Chaos- oder Zufallsprinzip bestehen, welches ihrer Arbeit, ihren Werken und künstlerischen Entscheidungen zugrunde lag, sie waren mitunter selbst von ihren Ergebnissen überwältigt, es schien ihm also zu einfach und verführerisch, dem Ganzen im Nachhinein eine ihm, dem Kritiker, aus irgendeinem Grund sympathische konzeptuelle Ordnung überzustülpen. Im Grunde müsse eine fundierte Plattenkritik, wie der Schriftsteller Lethem es gezeigt hatte, nicht zwei Spalten, sondern ein ganzes Buch füllen (Talking Heads, Fear of music). Aber wer konnte das schon?
So viel zur Theorie. Natürlich hatte Anton es insgeheim versucht, er wollte Lethem sogar übertrumpfen und ein ganzes Buch über einen einzelnen Song schreiben, wie Greil Marcus es mit Dylans Like a rolling stone gemacht hatte; er hatte sich schon jede Menge Notizen zu John Lennons Song I want you von der letzten Beatles-Platte Abbey Road gemacht; hier ein paar Sätze:
»Nie war ein Text so verknappt und nie war einer so eins mit der ihm zugedachten Musik, die ihm auch gar nicht zugedacht, sondern von ihm selbst bestimmt wurde. Durch sie, durch das simple Bluesriff, dem die Stimme gehorcht wie Abraham der Stimme Gottes gehorchte, erfährt die banale Feststellung I want you, die in den meisten Popsongs zur zweiten oder dritten Variation des vielbemühten I love you degradiert ist, eine angsteinflößende Transformation von der unschuldigen Sehnsucht zur gefährlichen Obsession, vom Opfer zum Täter. Es macht ihn zum Mann und entmannt ihn gleichermaßen. I want you so bad, it’s driving me mad ist hier keine Floskel, das Gefühl zerreißt den Sänger, er ist nur noch zu der Aussage She’s so heavy fähig – und mehr ist auch nicht zu sagen. Für gewöhnlich sind Outtakes, also nicht verwendete, liegen gebliebene Studioaufnahmen, selbst für den gierigsten Fan ermüdend und enttäuschend, bleibt am Ende doch immer die Erkenntnis, dass die beste Version es auf das Album geschafft hat – aber auch in dieser Hinsicht ist I want you ein Ausnahmefall. Die finale Version des Songs, wie wir ihn kennen, ist ein Zusammenschnitt aus mehreren Takes und Overdubs. Zwei Monate vorher, am 22. Februar 1969, spielten die Beatles 35 Takes des Songs in einer 9 Stunden andauernden Session ein. Einer dieser Versuche, vielleicht ist es auch ein Zusammenschnitt, ich weiß es nicht und es ist unerheblich, ist so gewaltig (oder gewalttätig), dass er selbst (zumindest für die Dauer der ersten zweieinhalb Minuten) die fantastische Endversion überschattet, und das liegt fast ausschließlich an Lennons knochentrockenem, unkontrolliertem Gesang. Man mag sich gar nicht ausdenken, wie Yoko Ono sich beim Hören dieser Aufnahmen gefühlt haben muss. Nach der zweiten Runde des Hauptteils, in dem Moment, wo Billy Prestons kreischende Orgel einsetzt, lässt Lennon einen Schrei los, der durch Mark und Bein, durch Herz und Seele des Hörers, durch die DNA der ihm nachfolgenden sowie der ihm vorausgegangenen Generationen, ja durch die Geschichte der Ausdrucksmöglichkeiten der menschlichen Kulturen geht. Er greift zurück in die Steinzeit, es ist der erste Schrei, der Schrei des ersten Menschen, es ist Adams Schrei, der sogar James Browns berühmtes Markenzeichen eitel, leicht und blass erscheinen lässt. Dieses langgezogene Yeah (das in der Endversion viel später und nicht ganz so brutal daherkommt) erklingt nicht nur aus den Tiefen seines Körpers, es evoziert einen archaischen Dämon, der mit Liebe nichts mehr gemein zu haben scheint oder aber an ihre Grenzen geht, an die sich nur ganz wenige wagen. Kleists Penthesilea lebt dort einsam und trägt diesen Schrei in sich, wie wir alle ihn in uns tragen, aus gutem Grund fest versperrt oder uns gar nicht bewusst, nur sie, Penthesilea, lässt sich von ihm leiten und über die menschliche Grenze stoßen, wenn sie ihren geliebten Achill mit ihrer Doggenarmee zerfleischt und regelrecht frisst. Etwas weniger, aber nur etwas weniger verzweifelt rausgelassen hat ihn John Lennon in jener Nacht.«
Und so weiter. Wie man sieht, verlor auch Anton Wagenbach schon mal die von ihm geforderte Distanz des Kritikers, verlor sich in der Rhetorik, ließ sich von seiner Leidenschaft (Eitelkeit?) antreiben, verließ den popmusikalischen Rahmen und verlieh dem ihm so bedeutend erscheinenden Werk eine pathetisch wirkende Überkraft, wenngleich er da sicher ganz vehement dagegenhalten würde – aber wir wollen hier nicht über seine Arbeit urteilen, der kleine Exkurs soll nur zum Verständnis seiner Person, seines Charakters dienen.
Wenn keiner seine Texte nehmen wollte, stellte er sie einfach auf seine Website. Immerhin eilte ihm der Ruf des starrsinnigen Eigenbrötlers voraus; das war ihm nur recht, so wurden seine Analysen auch oft gedruckt, weil die Herausgeber sich dann anspruchsvoller fühlten – jedenfalls war das seine Theorie. Zwei Büchlein mit Kritiken und Textsammlungen zu Musik, Film und Literatur waren in den letzten fünf Jahren bei einem kleinen Verlag in Wien erschienen, verkauft wurden davon ein paar hundert Stück. Der Preis, der ihm an diesem Tag verliehen wurde, war sein erster.
Da kam nun endlich Hans Tellar auf ihn zu.
»Die CD als Instrument der Menschen- und Weltverbesserung, haha!« Er klopfte Anton kräftig auf die Schulter. »Ich liebe dich, Alter! Wenn du gesagt hättest: Die Musik als Instrument der Menschen- und Weltverbesserung, hätte ich dich gehasst dafür, aber die CD – das war schön.«
Anton grinste. Hans war kein wirklich naher Freund (hatte Anton einen nahen Freund?), er war aber dennoch sein nächster, wahrster, ehrlichster Gefährte, sie mochten, schätzten einander. Außerdem war Hans ein Verrückter, ein echter Künstler. Anton bewunderte ihn, mehr noch, er beneidete ihn, er war froh, ihn zu kennen. Immer wenn er verzweifelt und selbstmitleidig war, dachte er an Hans, wusste, da war zumindest einer, der einen noch viel radikaleren Weg als er ging, der sich dabei jedoch nie beschwerte und nie jammerte. Dann legte er eine seiner CDs auf und war froh, nicht Hans sein zu müssen. Nicht die Musik selbst, aber das Wissen um ihren Schöpfer und seine Geschichte richteten Anton wieder auf. Außerdem liebte er die Gespräche mit ihm, wenn er von seinen Interviews erzählte, von dem Bestsellerautor X, der ein Idiot war, von dem Maler Y, der ihn verführen wollte, von der Regisseurin Z, die ihre Sätze mit Man begann und mit Katharsis beendete. Als er noch jünger und attraktiver war, hatte Hans auch seinen Körper prostituiert – das waren die guten Zeiten, wie er sagte. Er habe viele ältere Damen bedient, so erzählte er gerne, die sein Spektrum in jeder Hinsicht erweitert hätten und denen er auf ewig dankbar sei. Hier, bei der Aftershowparty der traditionell fragwürdigen Award-Show war er wahrscheinlich, um für irgendein Onlinemagazin über einen großen und wichtigen, gesellschaftlichen, wer weiß, vielleicht sogar politisch relevanten Event zu schreiben. Im Grunde war Hans einer, dem es schlichtweg egal war, was andere über ihn dachten oder sagten. Die ganze Welt mochte sich gegen ihn aufbäumen, er würde sie mit einem Schulterzucken von sich weisen und weitermachen. Das war es, was Anton so bewunderte, ja beneidete – genauso wollte auch er sein.
»Na, welcher dieser Artists hat dich am meisten beeindruckt?«, fragte er lachend.
»Weißt du, da sind sicher viele Talente dabei«, sagte Hans nach einer ziemlich langen Denkpause. Sie war so lange, dass Anton schon überlegte, ihn stehen zu lassen und weiterzugehen. »Aber was mir auffällt, ist die Absenz des Schmerzes. An diese für die Kunst so existenzielle Grenze wagt sich keiner von denen. Umso schöner dein Pathos, mein Freund. Dennoch muss man sagen, ich meine, du und ich, wir schreiben über diese Leute – du freilich nicht, aber du weißt, was ich meine –, wir machen Kohle damit, wir bewerten sie, aber man muss ihnen eines zugestehen: Sie sind jung, sie sind am Drücker, das ist ihre Zeit. Wir sind die langweiligen alten Fürze, die ihnen zuschauen, die sie aus der Ferne beobachten und dann sagen: Früher war’s besser. Und das ist auch richtig so, das ist unser Job. Nicht als Kritiker, sondern als Alte. Denn früher, ich meine, als wir jung und am Drücker waren, war tatsächlich alles anders, obwohl auch wir schon eine sehr naive Generation waren, aber uns lagen immerhin die Nachwehen der Sechziger im Nacken. Wir waren eingeschüchtert von Dylans Texten, von der Musikalität der Beatles, von Zappa und Bowie, von Patti Smiths Beschwörungen, wir hatten eigentlich keine Ausreden, keine Berechtigung, leicht und naiv zu sein. Wir konnten nicht so tun, als wüssten wir nichts. Also manche von uns. Der Großteil sagte natürlich: Mir egal, wir sind jung und das sind die Achtziger! Und das sagen diese Typen heute auch. Eigenartigerweise sagen auch sie: Das sind die Achtziger. Jedenfalls scheißen sie auf uns, und sie haben verdammt noch mal das Recht dazu, das ist ihr Job! Trotzdem: Die Original-Achtziger waren immerhin künstlich, arrogant und fremd. Ich fand es übrigens schön, dass du auf sie losgegangen bist, denn das muss man – wir müssen das! Diese Leute aber übertreffen unsere damalige Naivität bei Weitem. Sie plündern die Achtziger, soll heißen, sie plündern die Elemente der Achtziger, ohne die Bedeutung dieser Elemente zu kennen oder zu studieren oder sich überhaupt für sie zu interessieren. Das ist so, wie die Punks und Skins sich bei den Nazis bedient haben, weißt du noch? Sieg heil! Da ging’s nur ums Provozieren. Und nicht einmal das wollen die hier. Denen scheint es nur um Produktionen und Karrieren zu gehen, um Optimierung und Perfektion. Musikalisch, menschlich, politisch – diese Kids sind spießiger als ihre Großeltern. Dabei, und jetzt kommt’s, bedienen sie sich der höchsten Emotionalität. Das ist alles so emotionsgeladen, das ist nicht zum Aushalten. Diese endlose Bandbreite an Gefühltem! All diese überlaufenden Herzen – aber da ist kein Blut! Die klingen alle, als wären sie fünfundneunzig, als hätten sie alles gesehen und erlebt. Die sind so altklug, und das ist nicht ehrlich. Keiner von denen hat davon gesungen oder gesprochen, dass er sich wie ein Arsch benimmt, dass er seine Liebste in Wahrheit verabscheut, natürlich ein Sexist ist oder den Islam hasst, dass er dankbar ist, ohne den Luxus des Kapitalismus nur ein trauriger Jammerlappen wäre, keine Ahnung hat oder sich insgeheim wünscht, einer würde kommen und allen sagen, sie sollen endlich die Goschn halten – keiner von denen hat sich tatsächlich geöffnet. Die reden von Frauenquoten und klagen das Böse an, das sie selbstverständlich ganz genau benennen können – das kaufe ich ihnen nicht ab. Wie hat Houellebecq gesagt? Pseudorevolutionärer Hedonismus! Es ist auch eine feige, verlogene Generation. Die heulen sich die Augen aus dem Kopf, wenn sie von ihren Verflossenen singen – aber da ist kein Schmerz, verstehst du mich? KEIN SCHMERZ!«
Anton nickte. Natürlich verstand er ihn.
»Du hättest die Rede halten sollen«, sagte er. »Ich meine, natürlich hättest du den beschissenen Preis kriegen sollen, das wäre nur fair und richtig gewesen.«
»Haha, geteert und gefedert hätten sie mich! Andererseits hätte ich das auch nicht gesagt, ich hätte ihnen schön Honig ums Maul geschmiert und ihnen versichert, dass sie eine auserwählte, eine goldene Generation seien, von ihnen hinge die Zukunft Europas und der ganzen Menschheit ab. Wir stehen am Scheidepunkt der Geschichte! So hätte ich meine Rede begonnen.«
Anton lachte.
»Hast du das von David Byrne gehört?«, fiel Hans plötzlich ein. »Der hat sich jetzt entschuldigt, hat sich bei der Öffentlichkeit, bei der ganzen Welt dafür entschuldigt, dass er auf seinem letzten Album nur mit Männern gearbeitet hat. Dass keiner seiner Musiker oder Tontechniker schwanzlos war. Hat sich selbst gegeißelt und seine Schuld eingestanden. Das stand so in der Zeitung. Es tue ihm so leid und es gebe keine Rechtfertigung für so etwas. Soll Byrne tatsächlich gesagt haben! Und zwar nachdem irgendwelche Genderidioten ihn mit Online-Postings bombardiert und seine Entschuldigung eingefordert hatten. Verstehst du das?«
Anton schüttelte den Kopf. Natürlich verstand er das nicht.
»Hey, Renate!«, rief Hans einer großen Brünetten nach und flüsterte Anton noch im Gehen zu: »Die hat ihren Typen verlassen. Endlich. Wegen der bin ich eigentlich hier, du weißt schon …« Und weg war er.
Hans hatte recht. Hier ging es um nichts, um gar nichts, nur um Karrieren. Zwischen Anton und dieser Welt hier tat sich ein Spalt auf, eine nicht mehr überwindbare Kluft, ein Riss im Eis, das früher ewig, mittlerweile aber zum Schmelzen verurteilt war. Alles war nur eine Frage der Zeit, und das Ende vorprogrammiert. Den Jungen schien ihre Sprache angeboren zu sein, all die Übriggebliebenen seiner eigenen Generation jedoch, die auf den guten, alten Rock ’n’ Roll Verweisenden und auf ihre persönliche Relevanz Bestehenden erschienen ihm lächerlich. Sie waren nicht Hans. Zwar war ihm gerade aufgefallen, dass, wenn er mit Hans sprach, eine ganze Menge an Fäkalbegriffen gewechselt wurde, was womöglich einem Außenstehenden ebenso lächerlich oder männlich überzogen erscheinen mochte, aber, nun ja, so war das eben – sie biederten sich wenigstens niemandem an. Den alten Typen hier bei der traditionell fragwürdigen Award-Show aber konnte ihre Sprache nicht abhandengekommen sein, sie mussten sie bewusst unterdrücken oder modifizieren, um auf diesem Parkett einigermaßen mittanzen zu können. Ihre Lächerlichkeit war ihnen wohl nicht bewusst.