Kitabı oku: «Der mitteleuropäische Reinigungskult», sayfa 4

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Am nächsten Tag ging sie nicht ans Telefon. Sie schrieben sich aggressive, traurige und zärtliche Nachrichten, bedauerten den Weg, den romantische Gefühle gezwungen waren zu gehen, das große Ende war gekommen, das wussten beide und daran gab’s nichts zu rütteln. Anton wollte es schon auf der Party erkannt und beschlossen haben, Barbara konterte, kam immer wieder auf seinen Satz mit den Kindern und ihre von ihm konsequent ignorierte biologische Uhr zurück, worauf er gar nicht näher eingehen wollte, ja nicht eingehen konnte, also legte er neue, gleichsam uralte Vorhaltungen auf den Tisch, die wiederum sie wegwischen musste – irgendwann brach Barbara das kindische Pingpong der Verletzungen und Verletztheiten ab. Anton holte seine Sachen und zog wieder in seine kleine Wohnung, zelebrierte die Einsamkeit mit einer ungesunden Melange aus Schlaflosigkeit, vernachlässigter Körperhygiene, Fernsehen und Alkohol, und wollte endlich seinen Roman schreiben.

Nach drei Monaten trafen sie sich an einem neutralen Ort, in einem Café im ersten Bezirk. Sie saßen zwischen gestressten Touristen und nervösen Tauben. Ihre doch ganz natürliche Art, die für sie so typische Nüchternheit erschien ihm plötzlich unerträglich. Er fragte sich, wie er es acht Jahre mit dieser Frau ausgehalten hatte. Ja, er erwog sogar die Möglichkeit, dass sie tatsächlich verrückt war – in einem klinischen Sinn. Sie ließ sich immer treiben, von links außen nach rechts außen, von den höchsten Höhen bis ganz nach unten. Er konnte ihr nicht mehr folgen, ihr nicht gerecht werden, und er bezweifelte, dass irgendjemand das konnte. Selbstverständlich hatte sie kein Problem mit dem Alleinsein, hatte sogar schon einen Neuen im Visier, nichts Festes, sie wolle es langsam angehen, sagte sie leise, wobei sie ihren Blick starr auf ihre Kaffeetasse hielt. Für Antons zunehmende Verwahrlosung zeigte sie kein Verständnis, mehr noch: kein Interesse. Sein Bart war ungepflegt, seine Haare fettig, seine Haut speckig und unrein – es ekelte sie regelrecht vor ihm. In ihren Augen war er zurückgekippt in eine kindliche Trotzphase, eine egozentrische, womöglich analfixierte und, wie sie meinte, typisch männliche Reaktion auf Zurückweisung und wiedergewonnene Freiheit, mit der er, narzisstisch wie er nun einmal sei, nicht umgehen könne. Sie habe diese Männerfantasien satt und auch nie verstanden. Warum war es ihnen der größte Traum, sich gehen zu lassen, ungewaschen vor dem Fernseher rumzuhängen, ungesundes Zeug zu fressen, Fußball und Pornos zu schauen und haltlos Bier zu saufen? Es war einfach nur lächerlich infantil, aber gut, er konnte tun, was immer er wollte, sie würde ihm nichts mehr vorschreiben. Höflich erkundigte sie sich nach seinem Romanprojekt, was Anton anständig fand. Er wollte schon groß ausholen, erkannte aber umgehend ihr Desinteresse, ihre zur Seite rollenden Augen – als ob sie sich nach innen drehen, verstecken wollten – verrieten ihm, dass sie die Frage gleich wieder bereute, also entschied er sich für eine eher knappe, kryptische Antwort, sprach von seiner intensiven Recherche, die ihn bald nach England führen würde. Er sei hinter einem Mann her, der untergetaucht, ja offenbar auf der Flucht sei, einem ominösen Rechtsradikalen. Sein Name: Julius Aschmann.

Schon ein Jahr zuvor, erinnerte sich Barbara, hatte Anton angefangen, von diesem Mann zu reden, hatte sich aufgebracht gezeigt, weil dieser mit der Veröffentlichung rechter Zeitgeistparolen aufgefallen war. Ein reaktionärer St. Pöltner Lehrer? Wie skandalös, hatte Barbara verächtlich geätzt. Aber nein, so Anton schockiert, Aschmann sei ein verdammter Nazi. Um das behaupten zu können, müsse er sich schon eindringlicher mit ihm beschäftigen, hatte sie ihn belehrt, freilich hasse sie das alles, aber wenn er gefährliche Nazis jagen wolle, solle er besser oben anfangen, in den ausgetrockneten Hügeln der sogenannten Parteienlandschaft, einer kalten und unwirtlichen, öden, luftarmen Gegend.

»Registrierst du meine Sprache?«, hatte sie dabei selbstbewusst gelacht. »Ich sollte schreiben, nicht du

Diese Leute müsse er jagen, die hätten alle ideologischen Dreck am Stecken, und jetzt im einundzwanzigsten Jahrhundert werde ihnen der Dreck wieder bereitwillig vom Stecken geleckt, war sie fortgefahren, erinnerte sich Barbara jetzt.

»Die Sache mit der großen Aufarbeitung war doch immer schon eine große Lüge, findest du nicht? Das waren doch immer nur Bücher, Gedichte und Zeitungsartikel, politische Festtagsreden, Theaterstücke oder Filme. Ich als Schauspielerin weiß das, ich bin mittendrin in dieser Aufarbeitungsszene, und das ist auch wichtig und richtig, aber mitunter, so ehrlich muss ich sein, bin ich auch nur ein Teil der großen Lüge. Diese Stücke und Filme werden dem Publikum ja regelrecht aufgezwungen. Im Grunde will das keiner sehen und hören, aber das traut sich auch niemand auszusprechen, also nicken alle betroffen, werfen verstohlene Blicke auf ihre Uhren oder kehren nach der Pause nicht mehr zurück. Die Attacken und Volksbeschimpfungen unserer Schriftsteller und Künstler der Nachkriegsjahrzehnte sind vom Publikum nie geschätzt worden, immer nur von ihresgleichen, von den Selbstgerechten, die sich über alle und alles erhaben meinen, nur weil sie in Universitäts- oder Kunstkreisen verkehren, die haben vom eigentlichen Leben der Leute keine Ahnung – will sagen: Wir haben keine Ahnung. Das Spucken auf das eigene Land und seine Geschichte ist zur Pflichtübung geworden, zu einer Art Normalität. Der Österreichhass hat sich unter den Intellektuellen mit der Zeit etabliert. Bernhard, der alte Trachtenträger, hat ihn zum Humor hochstilisiert, seit damals lacht jener Teil des Volkes, der sich immer noch ungeniert Intelligenz nennt, lauthals darüber, lacht sich kaputt, wenn auf einer Bühne in einem Stück das Wort ›Nazi‹ oder gar ›katholischer Nazi‹ fällt. Wie lustig! Oder wenn die Erna in Schwabs Präsidentinnen sagt: ›Du bist ja eine Nazi!‹ Ein fulminanter Lacher. Und das nennen sie dann Geschichtsaufarbeitung, weil sie in Wahrheit auch nicht wissen, wie sie mit dieser Geschichte umgehen sollen. Weil das keiner weiß. Weil man in Wahrheit mit dieser Geschichte gar nicht umgehen kann. In Wahrheit haben wir nämlich keine Wahl. Die Verdrängung ist unumgänglich, wenn man als ein in dieses Land Hineingeborener so etwas Unverschämtes wie ein glückliches Leben anstrebt. Wie, wenn nicht mit Verdrängung, soll man denn dieser Schuld gegenübertreten? Unser Dilemma ist, dass wir gar keine Wahl haben, dass wir alle damit leben müssen, mit der Geschichte, mit der Wahrheit, mit der Schande und mit der Schuld.

Der Holocaust ist zum goldenen Götzen, zur Cash Cow, zur Klagemauer, zur kulturtouristischen Attraktion verkommen, zum Ausstellungsmarathon, zum literarischen Bestsellerstoff, der schlecht gelaunte Leser, seriöse Rezensionen, Stipendien und Preise verspricht, womöglich Friedenspreise. Wenn also jetzt einer mit seinem Kunstschlauch die österreichische Gesellschaft ordentlich vollspritzt, nicken ein paar Großstadtköpfe betroffen mit denselben oder wackeln amüsiert mit ihren Großstadtschultern, während das Volk dazu schweigt, sich wundert, sich die Pisse von den Schultern streicht oder wütend zurückbrunzt. Und nun, in den herrlichen Zeiten der gottverdammten sozialen Medien, ist das große Schweigen beendet, das Volk brüllt und scheißt zurück – und dies, so unerträglich das ist, ist nun einmal die Gegenwart, der Shitstorm ist die Realität dieses verfluchten Jahrhunderts. Dazu kommt, dass Österreich nur ein Fliegenschiss auf der Weltkarte ist und alle Länder und Gesellschaften dieses Planeten dieselben oder ähnliche Leichen im Keller horten. Das alles ist, wie wir also sehen, nur normal – eine endlose, ekelhafte Aneinanderreihung des Immergleichen: Krieg, Mord, Trauma, Lüge, Korruption und so weiter.«

Bisweilen versuchte Anton sie aufzumuntern, ihren, wie er fand, recht dunklen, womöglich ihrem Beruf geschuldeten Hang zum Dramatischen ins Lot zu bringen, war bemüht, ihr als Gegengift kleine Injektionen des Guten und der Schönheit der sie umgebenden Welt zu verabreichen, ihr das unglaubliche Glück der Gegenwart und des Wohlstands vorzuhalten. Einmal hatte er ihr vorgehalten, sie würde rechts denken und links leben, so erinnerte sie sich, nichtsdestotrotz folgte er ihren Gedanken immer wieder bereitwillig und gerne, hielt sie für ziemlich klug, was ihr natürlich schmeichelte. Auf Julius Aschmann als gewieftem Menschenverführer und Rattenfänger sowie auf der viel größeren Gefährlichkeit der Untergrundnazis bestand er jedoch beharrlich.

Die Tatsache, dass sie gern auf alles spuckte, aber seinen Versuch, aktiv zu werden, so abfällig belächelte, verletzte ihn wahrscheinlich mehr, als sie beide das wahrhaben wollten.

Daran erinnerte sich Barbara, als Anton bereits weg war. Sie hätte sich aber ohnehin in keine Diskussion mehr verwickeln lassen, hätte sich auch wirklich zusammenreißen, all ihre Kräfte sammeln und die größte Disziplin aufbringen müssen, um seinen abstrusen Ausführungen zu seinem großen Roman noch einmal zu folgen – nein, nein, es war schon alles gut so. Anton war ein Kind, womöglich ein verrücktes mit besonderen Bedürfnissen, das seiner inneren Stimme gehorchen und diesem rechtsextremen Schmetterling nachlaufen musste, wer weiß, vielleicht war das seine Bestimmung, aber sie war nicht seine Mutter, sie war gar keine Mutter, das Kindsthema war ein für alle Mal vom Tisch – sie war neununddreißig, Herrgott! Und jetzt hatte sie nicht einmal mehr eine Beziehung. Es war doch nicht verwerflich, kinderlos zu bleiben – in einer Welt wie dieser. Und sie wollte nie eine werden, die sich von einem gnädigen Spender ein Kind machen lässt, nur um vor der Gnade der Mutterschaft in die Knie zu gehen. So verzweifelt durfte sie nicht sein, nicht jetzt, nicht in drei Jahren, nie.

Wie sie dann aber so allein in ihrer Wohnung war, eine Flasche Wein öffnete, sich ans offene Fenster setzte, durchatmete, eine Zigarette anzündete und den Rauch gegen die frische Luft schickte, wie sie die letzten acht Jahre Revue passieren ließ, fühlte sie sich bleiern und alt. Die Stille des Raumes hing schwer wie eine eingezogene Decke über ihr, kam näher und näher.

Draußen hatte sich die Nacht über die Stadt gelegt und verbarg ihren Dreck, die tausend Geschichten, die sie täglich besudelten. Selbst die schamlose Stadt, der tagsüber alles egal war, konnte nicht ohne Verdrängung existieren – und die Nacht entlockte ihr definitiv eine ihrer angenehmeren Seiten. Ein paar Sterne blinkten am Himmel, ein angenehmer Wind ließ die Bäume im Park sich hin und her wiegen, sie tanzten einen kleinen Slowfox – oder wie hieß der Nullachtfünfzehntanz, bei dem man vom linken auf den rechten Fuß wackelte und die Oberkörper sich unbeholfen aneinanderdrängten? Wie hatte Barbara diese Unbeholfenheit gemocht! Sie war so menschlich, und alles Menschliche war gut. Früher. Wenn der eine nicht wusste, wo er seine Hände hinplatzieren sollte, wenn die Gesichter sich näher kamen, man den Körpergeruch des anderen aufsog. Wie schön es war, den Schweiß des anderen zu schmecken. Im Hintergrund lief irgendeine Schnulze, und man wusste instinktiv, diesen Moment, sosehr man sich selbst, die eigene Unsicherheit auch infragestellte, womöglich hasste, dieser Moment würde alles schlucken und relativieren, ihn würde man nicht so schnell, vielleicht nie mehr vergessen, er würde einen ein ganzes Leben lang als Erinnerung an das Gute begleiten.

Aber das war früher.

Da weinte Barbara. Die Tatsache, dass sie hier saß und über das Verhältnis zwischen Kunstbetrieb und Holocaust nachdachte und nicht etwa über den bedenklichen Zustand ihres eigenen Lebens, darüber, wie sie und Anton es vielleicht doch noch schaffen und miteinander in die ohnehin schon schwer angeschlagene Zukunft gehen könnten, wie diese Möglichkeit des Friedens, die Möglichkeit einer Insel der Freundschaft, die doch auf lange Sicht der romantischen Liebe bei Weitem überlegen war, in so unerreichbare Ferne gerückt war, machte sie still und traurig. Sie hatten es nicht geschafft, hatten es verbockt, hatten das Geschenk der Liebe abgelehnt, mit Füßen getreten, hatten nicht einmal Danke gesagt. Das tat ihr leid und da tat sie sich selbst leid. Und da, sosehr sie sich auch dagegen wehrte, tat ihr auch Anton leid.

Vor acht Jahren hatte sie einen Artikel von ihm gelesen. Er hatte eine seiner Lieblingsplatten aus den Neunzigern in Erinnerung gerufen: Blackacidevil von Danzig. Sie erinnerte sich noch, dass er die Tatsache, dass so gut wie jedes Signal auf dieser Aufnahme verzerrt war, gepriesen hatte. Dieses Album sei eine mystische Hochzeit, hatte er geschrieben. (Oder war es mythische Hochzeit?) Außerdem habe dieses Album Hans Tellar nachhaltig beeinflusst, dessen Arbeit er den Lesern ausdrücklich ans Herz lege.

»In einem abgedunkelten, schwülen Raum liegen Verzweiflung, Aggressivität und Schönheit miteinander im Bett und verschmelzen zu einem traurigen Monster.«

Dieser Satz hatte Barbara beeindruckt – und tatsächlich lernten sie sich noch am selben Abend in der Theaterkantine kennen, das konnte kein Zufall sein. Er war mit einem ihrer Kollegen bekannt und deswegen in der Vorstellung gewesen. Sie wurden einander vorgestellt, saßen am selben Tisch, tranken mehrere Runden Weißwein, ihr Gespräch war leicht, die Worte kamen von selbst, sie zwang ihn nicht, über das Theaterstück zu sprechen. Rückblickend würde sie das später einmal interessant finden, dass ausschließlich er, der Mann, mitsamt seiner Arbeit bei diesem ersten Aufeinandertreffen von ihr bewundert wurde, ihre kurz davor geleistete, ihr noch ins Gesicht gezeichnete hingegen nicht einmal erwähnt wurde. Wie auch immer, die Diskrepanz zwischen diesem Mann und dem von ihm Geschriebenen war so krass, dass Barbaras Interesse gleich noch viel größer wurde.

Sie sprach ihn also auf seine Kritik an. Seine Freude über ihr Feedback war authentisch und offen und provozierte wiederum ein Strahlen in ihrem Gesicht, ein für sie körperlich spürbares. Dass diesem freundlichen Sonnenschein eine solch offenbar dämonische, animalisch finstere und exzentrische Platte so viel bedeutete, eröffnete einen doch aufregenden und vielversprechenden Blick in seine Abgründe. (Dieselben Abgründe freilich, die sie ihm Jahre später vorhalten würde.)

»Ist dieser Danzig nicht so was wie ein Satanist?«, fragte sie, so unschuldig es ihr möglich war.

»Ich weiß nicht. Ich glaube, das ist nur ein eitles Spiel mit der Dunkelheit. Ich kann so etwas, ehrlich gesagt, nicht ernst nehmen.«

»Das heißt aber nicht, dass es nicht existiert oder praktiziert wird und auch gefährlich ist.«

»Nein, aber diese Gefährlichkeit macht doch einen erheblichen Teil des Reizes aus, oder? Die Negermusik der Fünfziger, das Sinistre und Unchristliche, das Spiel mit dem Höllenfeuer war doch genau, was die Leute schon damals cool und aufregend fanden. Der Bösewicht war immer schon der reizvollere Charakter. Warum sollte sich das geändert haben? Früher reichte eben ein Hüftschwung aus. Ein Schrei, lange Haare oder dunkle Haut. Heute muss man schon andere Kaliber auffahren, den Teufel höchstselbst bemühen, um den Leuten Angst zu machen.«

»Ich mag Dinge, die mir Angst machen.«

»Echt? Haha … Na siehst du …«

Spätestens jetzt, wo die große Verunsicherung einsetzte, war Anton klar geworden, dass sie hier am Flirten waren.

»Und was sind das für Dinge?«

»Weiß nicht. Sag du es mir.« Sie lächelte ihn an, wie ihn noch nie ein Mensch angelächelt hatte, da war es um ihn geschehen. Wäre das nicht passiert, hätte er sich wohl augenblicklich höflich verabschiedet, denn Gespräche dieser Art, die keine Gespräche waren, nur ein gegenseitiges Abchecken und Beschnuppern, ein Ausloten von Möglichkeiten und Grenzen, mochte er nicht. Nicht, weil er sie grundsätzlich ablehnte, sondern weil sie ihn in einen irrationalen, kindlichen, schwammigen Zustand zurückkatapultierten. Sie waren bodenlos, und ein fester Boden unter den Füßen war ihm ganz recht, das Gefühl von Gefährlichkeit in der Kunst ausreichend. Er schätzte Glenn Danzig, wollte aber nicht Glenn Danzig sein. Feuchte Fanträume, diesen doch überzogenen, wahrscheinlich psychopathischen Grad an Identifikation kannte er nicht. Mutig flüsterte er ihr ins Ohr: »In einem Lied singt er übrigens: I want to bathe in the danger of ourselves

Für die nächsten Minuten, vielleicht waren es auch nur Sekunden, vielleicht war es aber auch eine Stunde, lächelten sie sich nur an. Ein nettes Lächeln folgte auf ein vorsichtiges, ein schüchternes auf ein spontan ausbrechendes, ein gespieltes auf ein unverstelltes. Barbara verliebte sich in genau diese Unsicherheit, die, wie sie irgendwann sagen würde, im Bett mit der satanischen Gefahr zu dem von ihm erwähnten traurigen Monster werden konnte. Ja, die Zukunft war ein trauriges Monster, das spürte sie in diesem Moment, das war das Gefühl, von dem sie eingenommen wurde und von dem sie mehr wollte, jenes Gefühl, auf welchem sie den nächsten Morgen, die nächsten Wochen, ihr ganzes weiteres Leben aufbauen wollte. Jene ungeschützten Minuten des Lächelns hatten einen Raum eröffnet, einen für sie beide, einen für Barbara und Anton reservierten.

Und hätte der Kantinenbetreiber nicht wiederholt an die Sperrstunde erinnert, sie hätten wohl die ganze Nacht weiter gelächelt.

Nun aber hatte das traurige Monster sie eingeholt, seine Schwingen über sie gebreitet und harrte geduldig aus, wartete auf weitere Befehle. Seine Gefährlichkeit hatte es längst eingebüßt, sie hatten es gezähmt und zum faulen, bequemen, fett gewordenen Haustier degradiert.

LA CALISTO

Der MRK (Der Mitteleuropäische Reinigungsskult) wurde 2015 in St. Pölten, Niederösterreich gegründet. Julius Aschmann wollte keinen Verein, keine Wutbürgerinitiative oder Freizeitrunde – was er wollte, war wohl bereits in seiner Absicht groß, ein Netz, eine Bewegung, ein Kult. Seine Mitglieder nutzten die ersten round tables – anfänglich privat organisierte Selbsthilfegruppen wie jenen der Anonymen Alkoholiker ähnlich –, um sich ihre Sorgen und Nöte, Ängste, Wünsche und Sehnsüchte von der Seele zu reden und schlicht und ergreifend, wie es offiziell hieß, füreinander da zu sein. Ein Urteil über das Gesagte war den Zuhörenden untersagt. Überhaupt wurde in weiterer Folge das von Aschmann verhängte Regularium mit härtester Strenge exekutiert – ein Grundprinzip jedes erfolgreichen Kults, wie er in der Einführung seines Hauptwerks Von der Freiheit des Denkens im 21. Jahrhundert plausibel festhielt:

»Während die Heilige Schrift der Katholiken permanent exegiert, analysiert, neu ausgelegt und gedeutet wird und von vielen innerkirchlichen Organisationen, Splittergruppen und Krebszellen zeitgemäße liberale Modernisierungen verlangt werden, ihnen parallel dazu aber auch immer mehr Mitglieder abhandenkommen, ist beispielsweise den Scientologen jegliche Abweichung oder Interpretation des Werks Ursprung, geistliches Amt, Zeremonien & Predigten der Scientology Religion strikt untersagt. Die unveränderliche Realität des Absoluten ist die Basis des Kults.«

Natürlich war anfangs die sogenannte politische Korrektheit der dezidierte Feind des MRK – mehr war nicht nötig, um die Öffentlichkeit aufzupeitschen. Die Idee war also nicht neu und schon gar nicht revolutionär, aber ihre Verwirklichung geschah an einem Ort, mit dem niemand gerechnet hätte, und zu einem Zeitpunkt, der idealer nicht hätte sein können. Die ganze Welt (»ihre Macher«) hatte sich im Lauf des digitalen Zeitalters über den Menschen hergemacht, so formulierte es der MRK, sie hatte ihn vereinnahmt, ihn mit einer Unzahl für ihn irrelevanter Informationen gefüttert, zum wehrlosen Zuschauer degradiert und seine Ohnmacht zu einem gigantischen Ballon aufgeblasen, der ihn schließlich seine Bodenhaftung kostete, ihn durch die Welt, durch Zeit und Raum schleppte, dem er ausgeliefert und unterlegen war. Der uralte Grundsatz Wissen ist Macht erfuhr in besagter Einführung eine radikale Korrektur auf Wissen ist Ohnmacht, worauf unter seinen Mitgliedern »die große Entschleunigung« einsetzte, die Begriffe Wissen und Information strikt getrennt wurden und die schiere Anhäufung von Information in Folge als »Fehlverhalten« eingestuft wurde. Das »wahre Wissen« würde nach der großen Entschleunigung neu gebildet werden.

Seine Gegner bezichtigten Aschmann schnell der »Irreführung in die Unmündigkeit«, der »Gehirnwäsche« et cetera – aber ja, die Freiheit der Information, der Rede und der Meinung – das war das simple Fundament des wachsenden Kults.

So begann Anton Wagenbachs Roman. Nun ja, groß und mächtig war der MRK zwar nicht, er fristete eine von nur wenigen wahr- oder ernstgenommene gesellschaftliche Randexistenz, aber Anton wollte keine journalistische Recherche schreiben, sondern einen Roman, und wie der letztendlich beginnen sollte, konnte er zu einem späteren Zeitpunkt entscheiden. Im Grunde wollte er eine fiktive Biografie Aschmanns schreiben, ihn bloßstellen und provozieren, ihn aus der Reserve locken, anklagen und so gegen den immer weiter fortschreitenden Siegeszug der aktuellen Faschisten vorgehen. (Denn das waren sie, meinte Anton, ganz egal, wie sie sich nannten und welche Farbe sie auf ihre Banner druckten.) Auch wenn das Vorhaben lächerlich und überambitioniert war und wahrscheinlich nichts ändern würde – irgendetwas musste man doch tun, sagte er sich wie viele seiner Landsleute, seiner Miteuropäer, seiner Generation. Das Leben war nicht genug, das Sein war es nicht, die Natur genauso wenig. Der Drang, sich in der Welt zu positionieren, war ein zwingender, ein göttlicher Drang, oder besser ein Drängen hin zum Göttlichen. Das private Individuum hatte ausgedient, der moderne Mensch wollte, ja fühlte sich verpflichtet, die Welt neu zu formen, sie nach seinem Gutdünken zu verändern. Er wollte Gott spielen, Gott sein.

Und Gott blickte auf sein Werk und war zufrieden.

Anton fand ihn gut, den Anfang, hatte ihn auswendig gelernt und ging ihn in Gedanken durch, als er sich im White Horse das Big English Breakfast genehmigte. Er hatte auch eine Alternative verfasst. Er war sich noch nicht sicher, ob der Roman als journalistische Arbeit oder als Erzählung losstarten sollte. Wahrscheinlich war die Erzählung besser, das Menschliche stärker, das Emotionale, die fiktive Erfahrung einnehmender, aber darum konnte und wollte er sich jetzt nicht kümmern, er hatte noch nicht einmal einen Verleger, er musste gar nichts und durfte alles, ihm waren keine Grenzen gesetzt. Er war tatsächlich frei und das war doch herrlich. Plötzlich spürte er, wie seine Lebensgeister in ihrem Schlaf gekitzelt wurden und aufzuckten.

Anfangs hatte er gedacht, er würde Aschmann einfach googeln, seine Daten im Netz finden, ihn kontaktieren und interviewen; er war aber nur auf eine Vielzahl verwirrender Details gestoßen. Die auf den Schriften angegebenen Wiener beziehungsweise St. Pöltner Büros des MRK waren entweder gar nicht erreichbar oder gaben keine ernst zu nehmenden Auskünfte über ihn, es hieß, Herr Aschmann sei für niemand zu sprechen, sei nicht einmal im Lande, und zwar auf unbestimmte Zeit, wichtige Reisen, Tourneen etc. Im Netz wurde eine gewisse Frau Mantz als Geschäftsführerin gelistet. Mehrere Gerichtsprozesse liefen gegen Aschmann. Die zuständigen Staatsanwaltschaften waren der offenen Verfahren wegen freilich zu keiner Auskunft bereit, ein kleiner Zeitungsartikel aus dem Jahr 2017, der letzte, den Anton auftreiben konnte (NÖN, Niederösterreichische Nachrichten), verortete ihn einem Informanten zufolge in England, wahrscheinlich East Sussex, Brighton.

Aschmann hatte nur zwei Bücher im Eigenverlag Edition Mitteleuropäischer Reinigungskult veröffentlicht, eigentlich handelte es sich um Broschüren: Von der Freiheit des Denkens im 21. Jahrhundert (2016, 60 Seiten) und Neue Zensur (2017, 40 Seiten), die sich in einem wesentlichen Punkt von den Schriften anderer sogenannter patriotischer Vereinigungen wie zum Beispiel der Identitären, der Christlichen Illuminaten oder der Schwarzen Familie unterschieden: Sie propagierten keine rein politische Agenda, zumindest nicht direkt. Ihre Botschaft, und das erklärt auch den selbstgewählten Begriff »Kult« – Aschmann war freilich klar, dass der Begriff negativ konnotiert war, er wählte ihn bewusst, um sich von der Politik abzugrenzen, die Nähe zum Religiösen nahm er gerne in Kauf, obwohl der MRK auch nicht als eine der typischen, vor allem in Amerika aktiven, zumeist christlich-fundamentalistischen Gruppierungen verstanden werden konnte –, richtete sich direkt an die Menschen, wollte in ihren Alltag, in ihren Lebensstil eingreifen, in den kleinsten Zellen der Gesellschaft ansetzen, in Familien und überschaubaren Gemeinschaften Gleichgesinnter.

So wurden bald Gemeinden oder Kommunen gegründet, die jedoch nicht offen als solche auftraten, sondern nur im dichten Nebel des urbanen Undergrounds oder in den entlegensten Winkeln der Provinz existierten, aber dennoch als rechtsextremes Pendant zu den Hippiekommunen der Siebzigerjahre verstanden wurden. Von den Linksparteien bis hin zu säkularen Anti-Kult-Fraktionen wurden sie anfangs als Boot Camps bezeichnet, von Nazilagern wurde berichtet, von Dirndl- und Lederhosenromantik, Zucht und Ordnung, von einer paramilitärischen Ausbildungseinheit inklusive Waffenarsenal, ja von neuen Rassenlehren – das ganze braune Paket wurde dem MRK erst umgebunden und dann vorgehalten. Das war aber wahrscheinlich nur Oberflächenpolitik oder Social-Media-Irrsinn, damit wollte Anton sich nicht aufhalten, denn so dumm war Aschmann freilich nicht, zumindest nahm er das an. Aschmann war weder Verfechter herkömmlicher fernöstlicher oder haarsträubenden Science-Fiction-Szenarien entnommener Muttermythologien, geschweige denn einer in Österreich immerhin klagbaren, naziähnlichen Übermenschenideologie, ihm schwebte nicht weniger als ein »sowohl gefühltes als auch gelebtes Gleichgewicht zwischen dem implodierenden Individuum und der gleichsam explodierenden Welt« vor. Das war kein schlechter Ansatz, fand Anton, und nicht unbedingt ein sektiererischer, utopischer.

Otto Mühl kam ihm in den Sinn, der Wiener Aktionist, der Anfang der 1970er Jahre die Aktionsanalytische Organisation gegründet, die Kleinfamilie als Ursache aller großen Probleme bezeichnet, die berühmte Friedrichshof-Kommune autoritär angeführt, sich schon bald in ein regelrechtes Sex- und Machtmonster verwandelt hatte und später wegen sexuellen Missbrauchs Unmündiger und anderer in diesem Zusammenhang fast schon klassischer Vergehen (Vergewaltigung, Verstöße gegen das Suchtmittelgesetz etc.) verurteilt wurde. Er hatte seinen Mitgliedern eine Wiedergeburt in Form einer höheren Bewusstseinsstufe versprochen und sie nach ihrer jeweiligen Entwicklung nummeriert, mit ihnen experimentiert. Aschmann hatte sich ganz sicher mit Mühl beschäftigt, in Von der Freiheit des Denkens im 21. Jahrhundert wird er einmal kurz erwähnt, ebenso Wilhelm Reichs Werk Charakteranalyse, das auch Mühl für sich beansprucht hatte. Für Aschmann war sein Projekt also mehr Gesellschaftsexperiment als politischer Aktivismus, sofern man diese Differenzierung zulassen mag. Aber selbst ein verabscheuungswürdiges Ekel wie Mühl wollte im Grunde nur die Welt verbessern. Auch er war wie seine berühmte Generation der Achtundsechziger (und freilich wie die gegenwärtige) an dem Punkt, wo jeder sich sagte: Man muss doch etwas tun! (Und so pervers das klingt und war: Auch Hitler wähnte sich als Weltverbesserer, auch er musste handeln.)

Um den MRK wurde es bald ruhiger, das kurze Aufblitzen aus der Dunkelheit der Masse verstummte, der Rückzug war am Ende ein geschickter, wenn auch notwendiger Schachzug. Öffentlich, und darüber hatte Anton sich kaputtgelacht, trat der Mitteleuropäische Reinigungskult nur noch als Putzfirma auf. Ja, Büro- und Gebäudereinigung, Fassadenreinigung, Schimmelsanierung, Kellerabdichtung, Fensterreinigung – das ganze Paket der Reinigungsbranche wurde auf der Website angeboten. Die einzige ihm bekannte offizielle Schätzung seiner Mitglieder aus dem Jahr 2017 gab zwischen 600 und 800 Personen an, welche sich weitgehend unauffällig verhielten, also wurde es auch in den Onlineforen bald ruhig. Die Meute hatte andere Opfer gefunden, für Religion interessierte sie sich nicht. Die Meute dachte, die Religionen hätten ausgedient.

Das alles waren aber nur Informationen, Teil von Antons Recherche für sein Projekt, seinen Roman. Das nicht Greifbare, Mysteriöse, das Aschmann umgab, machte ihn nur noch interessanter und stachelte Anton weiter an, über ihn zu schreiben, auch wenn er das in den letzten Tagen ein bisschen aus den Augen verloren hatte.

Ein Mann und eine Frau betraten den Raum, sie waren so um die vierzig, schätzte Anton. Fast war ihm, als kämen sie direkt auf ihn zu, als wären sie seinetwegen hier, sein Oberkörper richtete sich instinktiv auf, als ob er sich gleich zur Wehr setzen müsste, sie ignorierten ihn aber und setzten sich ganz in sich selbst versunken an den Nebentisch. Warum?, fragte er sich still. Es war wie in der Garderobe des Fitnessstudios – jedes Mal kam irgendein Typ, der exakt das Kästchen neben seinem bezog, obwohl hundert andere frei waren. Wie er das hasste! Auch hier waren so gut wie alle Tische frei, warum, verdammt noch mal, wählte jemand genau den neben einem einzelnen Gast, der doch wohl unmissverständlich ausstrahlte, dass er seine Ruhe haben wollte? Gut, vielleicht waren sie gerade am Streiten, vielleicht hoffte der Mann, so um die Fortführung des Gesprächs herumzukommen, da das Beisein eines Fremden selbstverständlich die Scham des Bloßgestelltwerdens erhöhte und ein erlösendes Gesprächsende provozieren konnte. Das wäre immerhin nachvollziehbar und ließ auf ein stilles Frühstück hoffen. Aber wenn dies der Fall war, kannte der Kerl seine Frau nicht gut, denn sie legte umgehend und in hervorragend verständlicher Lautstärke los:

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