Kitabı oku: «Schweizer Wasser», sayfa 3

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Juni (7)

Wie Papierschiffchen tummeln sich die weißen Dreiecke auf der Wasseroberfläche am Fuß der sanften Hügellandschaft. Die leichte Brise nutzen viele für einen Segelturn und als willkommenen Freiluftventilator. Weniger Privilegierte trösten sich mit dem Sprung ins kühlende Nass. Seit Tagen herrschen Temperaturen wie im Hochsommer. Über 30 Grad am Tag sind mehr Regel als Ausnahme. Nachts fallen die Temperaturen nur knapp unter 20 Grad. Anfang Juni und bereits Hochbetrieb am und auf dem See wie während der Sommerferien. Das Gedränge am Ufer wirkt wie ein aufgescheuchter Ameisenhaufen. Zumindest aus der Entfernung der beiden Beobachter, die sich in der Parkanlage für einen mächtigen Kastanienbaum als schattenspendenden Freund entschieden haben. Normalerweise sind keine Sitzungspausen eingeplant. Heute musste er eine Ausnahme machen, weil einige der Teilnehmer schlapp und unkonzentriert wirkten. Trotz der dicken Steinmauern, die wie eine Klimaanlage den Sitzungsraum kühlen.

»Organisation und Ordnung. Da könnten wir Menschen noch viel von den Ameisen lernen. Wusstest du, dass die Aufgabe, welche eine Ameise zu erledigen hat, davon abhängt, in welche Kaste sie geboren wird?«, erklärt der Kleinere der beiden auf der Parkbank, während er fasziniert das Krabbeln am Boden beobachtet.

»Hmm …«

»Viele von ihnen könnten ohne eine geordnete Struktur nicht effizient zusammenleben.«

»…«

»In einem Ameisenstaat gibt es Königinnen, Arbeiterinnen und Soldatinnen. Die Arbeiterinnen sichern die Nahrungsversorgung ihres Volkes. Unter anderem melken sie Blattläuse.«

»Hör zu, Ivo. Du weißt, dass mich dein Allgemeinwissen immer wieder beeindruckt. Aber es gibt da etwas, was ich nicht mit deinem Ameisenlatein aus der Welt schaffen kann.«

»Nur weil du keine Bücher liest und am TV nur Sport und seichte Unterhaltung konsumierst, musst du nicht frech werden. Fakt ist, dass wir Menschen noch viel mehr von der Natur kopieren könnten, wenn wir nur wollten. Insbesondere Ordnung, Struktur und Hierarchie in der Tierwelt.«

»Jaja. Ist ja gut. So war es nicht gemeint. Ich habe aber ein Thema, bei dem ich in der Tierwelt bestimmt keine Antwort finden werde. Ich bin mir nicht sicher, wie ernst ich es nehmen respektive ob ich es als heißes Eisen im Plenum ansprechen soll. Deshalb möchte ich zuerst von dir erfahren, wie du darüber denkst. Deine Meinung ist mir wichtig.«

Mittlerweile weiß Luke ziemlich genau, mit welchen Streicheleinheiten er Ivos Ego bearbeiten muss. Dieses Gespür für sein Gegenüber kann man weder an einer Akademie noch mit gescheiten Büchern lernen. Er hat es im Blut oder in den Genen, ist Luke von sich überzeugt.

»Also, worum geht’s?«

Luke erzählt in knappen Worten die Vorfälle in der Schulklasse auf Heinz Grobs Hof. Die Ursache für die Hospitalisation von fünf Personen sei nach wie vor nicht geklärt. Mit Ausnahme der Schülerin, die zuerst erkrankte, seien zwar mittlerweile wieder alle wohlauf oder konnten das Spital zumindest verlassen. Trotzdem bestehe die Möglichkeit, dass die Geschichte noch nicht gegessen sei. Denn zwei Tage nach dem Abbruch des Lagers sei er durch Zufall auf Einträge in sozialen Medien gestoßen. Via die Tochter einer Freundin, welche mit Schülerinnen der betroffenen Klasse befreundet sei. Gestern nun habe ihn ein Journalist, der für verschiedene Zeitungen schreibt, um ein Interview gebeten. Er habe von diversen Quellen nicht gerade schmeichelhafte Hinweise zum Angebot auf dem Hof von Heinz Grob erhalten. Außerdem hätten Eltern sich beschwert, die Schülerinnen und Schüler würden in erster Linie als billige Arbeitskräfte missbraucht. Zum Beispiel auf der Alp, wo das unlängst vorgestellte Zukunftsprojekt geplant sei. Als seriöser Berufsmann wolle er ihm als Tourismusverantwortlichen die Möglichkeit zur Stellungnahme geben. Eine schlechte Presse sei ja kaum im Interesse von Grindelwald Tourismus und noch weniger wünschenswert im Hinblick auf die Abstimmung.

»Und was genau ist jetzt deine Frage, Luke?« Menschen, die sich nicht kurzfassen können, strapazieren seine Ungeduld. Die Schärfe in seiner Stimme verrät, dass die Wirkung von Lukes Kompliment nicht länger war als die Lebensdauer einer Seifenblase.

»Na ja. Wie würdest du an meiner Stelle reagieren? Oder sollen wir das nach der Pause mit den anderen diskutieren? Zwei der Kollegen haben ja Erfahrung als Mediensprecher. Und zwar nicht nur in unumstrittenen Branchen. Vielleicht hätten die mir ein paar Tipps. Klar ist für mich nur, dass ich dem Presseheini bis morgen einen Rückruf versprochen habe.«

»Weshalb hast du nicht rechtzeitig vor der Sitzung beantragt, dein Thema auf die Agenda zu nehmen, so wie es vereinbart ist?«, will Ivo mit stechendem Seitenblick und vorwurfsvollem Ton wissen.

»Wie gesagt. Ich wollte dich zuerst unter vier Augen informieren und dich fragen, wie du die Sache beurteilst. Vielleicht mache ich mir ja unnötig Sorgen«, lautet die Antwort, während er dem introvertierten Choleriker neben ihm die linke Hand freundschaftlich auf die Schulter legen will. Im letzten Moment erinnert er sich, wie Ivo Berührungen hasst, die über das Händeschütteln hinausgehen. Niemals würde er, unabhängig vom Geschlecht, jemanden mit Wangenküsschen begrüßen oder eine Umarmung zulassen. Was muss jemand erlebt haben, der nicht den geringsten Körperkontakt akzeptieren kann oder will, nur sehr selten lacht, geschweige denn Gefühle zeigt? Und wenn, dann nur destruktive. Befriedigen sich solche Menschen mit einem perversen Hobby, kaufen Liebe, damit sie nichts schuldig bleiben müssen, oder tummeln sich im Darknet?

Das ist nicht dein Problem, mahnt sich Luke. So anstrengend der Umgang mit dem Sitzungsleiter oft ist, so bewundernswert findet er dessen zielorientierten, nüchternen Pragmatismus. Und genau den braucht er in dieser Situation, um den Spagat zwischen ernst nehmen und nicht in Panik geraten zu schaffen.

Ohne seine Meinung zu verraten, gewähre er ihm in der zweiten Sitzungshälfte 15 Minuten, seine Angelegenheit zu diskutieren. Ivo ist bereit, die Agenda spontan anzupassen. Ein Novum und eine absolute Ausnahme. »Denn wo kämen wir hin, wenn jeder so kurzfristig einfach Themen aufwerfen würde?« Anträge für die Agenda erwarte er telefonisch, per Post oder an seine Spezial-Mail-Adresse bis spätestens drei Tage vor jeder Zusammenkunft. So laute die Regel, an die sich auch Luke in Zukunft wieder halten müsse. Denn Regeln zu missachten sei einer der größten Feinde für effizientes, effektives Arbeiten. Das gelte nicht nur während der Sitzungen. Luke bedankte sich brav und ignorierte, mit Ausnahme des ersten Satzes, die Antwort.

Den herzlichen, zuvorkommenden Gastgeber spielend, holt Luke den Journalisten wenige Tage später vom Bahnhof ab und fährt mit ihm zum Bergrestaurant Bussalp hoch. Wer weiß? Vielleicht kann der Termin ja zusätzlich als Gratis-Werbespot für ›Honeymoon-Alp‹ genützt werden. Pünktlich um 10.00 Uhr empfängt sie Heinz Grob mit seinem bestmöglichen aufgesetzten Lächeln und führt sie zum Tisch mit dem schönsten Bergpanorama. Eine Woche vor den Schulferien zählt das Restaurant um diese Zeit nur wenige Gäste.

Nach dem üblichen Small Talk über das Sommerwetter, Schweizer Trümpfe für das Tennisturnier in Wimbledon und die Tourismusentwicklung in der Region sind alle drei bereit für den Kampf. Wobei niemand auf einen Krieg hofft. Um keine Fronten zu bilden, wurde extra ein runder Tisch installiert. So sitzen sich der Journalist und die Interviewpartner in einem gleichschenkligen Dreieck gegenüber statt vis-à-vis. Damit soll Kooperation statt Konfrontation signalisiert werden.

Stefan Schreiber eröffnet das Gespräch, bedankt sich für die Bereitschaft und platziert ein kleines Aufnahmegerät in der Tischmitte. Nachdem Luke und Heinz ihr Einverständnis für die Aufnahme gegeben haben – schließlich hatten sie nichts zu verbergen –, fasst Schreiber in kurzen Worten die Informationen zusammen, die ihm zugespielt wurden. Die Quellen dürfe er aus Datenschutzgründen natürlich nicht verraten.

»Und jetzt interessiert mich Ihre Version der Geschichte«, beendet er sein Intro.

In seiner Rolle als Tourismusverantwortlicher erklärt Luke zuerst unaufgeregt, mit ruhiger Stimme, was das Angebot »Schlafen im Stroh« auf dem Hof im Talboden von Heinz Grob bietet. »Ein authentisches Erlebnis. Die Gäste, besonders Schulklassen, sollen nicht nur die idyllische Honigseite Grindelwalds kennenlernen. Gezeigt wird die harte Realität der heutigen Bauern in der Region. Deshalb hat sich Herr Grob auch entschieden, nach der Modernisierung das Angebot weiterzuführen. Bauernbetriebe sind heute KMUs, nicht Heidi und Alpöhi. Das Mitanpacken der Jugendlichen wird immer mit den verantwortlichen Lehrpersonen abgesprochen.«

»Das gefällt natürlich nicht allen«, setzt Heinz ein, nachdem Luke ihm den Einstieg erleichtert hat. »Die Eltern sind in dieser Beziehung heute öfter kritisch, ob man das den jungen Leuten noch zumuten darf. Sie sind der Meinung, dass die Zeit in einem Lager in nützlichere Dinge investiert werden soll als in die Pflege von Alpweiden und andere Handlangerarbeiten.«

»Und Ihre Meinung?«, will der Journalist wissen.

»Die Jugendlichen lieben es. Hauptsache raus aus der Schulstube. Ende Woche sind sie stolz auf ihre Arbeit, weil sie das Resultat sehen können. Das Meckern zu Beginn ist dann längst vergessen. Und auch im 21. Jahrhundert hat körperliche Arbeit noch niemandem geschadet«, antwortet Grob und überreicht Schreiber eine Plastikmappe. »Hier die Beurteilungen der letzten zwei Jahre. 90 Prozent waren zufrieden bis sehr zufrieden. In den jüngsten Kommentaren finden Sie sogar Voten, die für mehr Arbeit auf der Alp und weniger rein schulische Exkursionen plädieren. Übrigens auch von der Gruppe, die ihren Aufenthalt bedauerlicherweise abbrechen musste.«

»Wie erklären Sie sich das?«

»Vielleicht lag es daran, dass wir in diesem Jahr die Blacken erstmals mit Drohnen bekämpft haben«, nimmt Heinz immer mehr Fahrt auf.

»Wie das?«

»Statt mühsamer Einzelstockbekämpfung von Hand versprüht das Flugobjekt Pflanzenschutzmittel über der Alpweide. Dafür gibt es sogar eine spezialisierte Firma. Die Jugendlichen konnten da mit Hand anlegen. Natürlich durften sie die Drohne nicht selber fliegen. Aber sie fanden es anscheinend cool«, schließt er mit einem Wort, das sonst eher zu Lukes Sprachschatz gehört.

»Aha – spannend«, meint Schreiber mit gerunzelter Stirn. »Und was sagen Sie zu den Krankheitsfällen, die im Spital geendet haben? Eine Person ist ja immer noch nicht genesen.«

Luke hatte ihn vor dieser Frage gewarnt. Sie irritiert Grob und bringt die soeben gewonnene Gelassenheit aus dem Gleichgewicht. Zurückgelehnt, die Arme verschränkt, fährt seine Zunge zweimal über die Oberlippe.

»Nach unseren aktuellen Recherchen ist eine Unachtsamkeit der Lagerköchin am wahrscheinlichsten. Sie ist zwar bei den Gästen sehr beliebt, aber wegen persönlichen Problemen leider etwas instabil. Obwohl ich im Frühjahr einen zusätzlichen Kühlschrank gekauft habe, ist vermutlich ein Lebensmittel zu lange ungekühlt geblieben. Ich habe mir den Menüplan angeschaut. Verdächtig ist der Kartoffelsalat. Dieser kann, wenn er zu lange ungekühlt herumsteht, Lebensmittelvergiftungen verursachen. Das musste ich vor einigen Jahren selber an einem Fest schmerzhaft erfahren.«

»Dann trägt also die Lagerköchin die Schuld?«, bohrt Schreiber weiter.

»Das habe ich so nicht gesagt«, stellt Heinz zunehmend verunsichert und gereizt klar. »Menschliches Versagen ist die naheliegendste Vermutung. Alternativ ist denkbar, dass eine Person irgendeinen Erreger mit sich herumgetragen hat, der ausgerechnet während dem Lager übertragen wurde. Heute, wo die Leute so viel reisen, ist das nicht ausgeschlossen.«

»Vor einiger Zeit hatten Sie auf Ihrem Hof im Talboden, also dort, wo Sie ›Schlafen im Stroh‹ anbieten, doch die Blauzungenkrankheit. Können Sie sich da einen Zusammenhang vorstellen?«

»Da haben Sie ungenau recherchiert. Die Krankheit wurde spät, aber dennoch rechtzeitig erkannt und behandelt. Zudem ist diese Krankheit für Menschen ungefährlich«, versucht Heinz wieder etwas die Oberhand zu gewinnen.

»Weiter wird vorgeworfen, dass zwei alte, unappetitliche Toiletten für bis zu 30 Personen viel zu wenig sind. Das schreit doch geradezu nach Hygieneproblemen.«

Mit einem Taschentuch wischt sich Heinz den Schweißfilm von der Stirn. Höchste Zeit für Luke, ihn nicht länger leiden zu lassen.

»Herr Grob hat in den letzten Jahren sehr viel investiert. In seinen Landwirtschaftsbetrieb im Dorf, inklusive des touristisch wertvollen Angebots für Schulen und Familien, die es gerne etwas einfacher haben. Seinen Hof hat er im großen Stil modernisiert, um langfristig konkurrenzfähig zu bleiben. Menschen wie er sorgen dafür, dass die Bauern nicht aussterben, Grindelwald lebenswert und attraktiv bleibt. Investitionen sind aber nicht nur Wunschkonzerte. Irgendwann muss man Prioritäten setzen. Die sanitären Anlagen auf dem Hof sind nicht mehr neu, da stimmen wir den Kritikern zu.« Etwas, aber nicht zu viel zuzugeben, ist taktisch klug, haben ihm die Ex-Mediensprecher geraten. Einer von mehreren wertvollen Tipps aus dem letzten Treffen hoch über dem Lac Démon. »Sobald es das Budget zulässt, wird das verbessert. Andererseits bin ich persönlich der Meinung, dass ›Schlafen im Stroh‹ keine Vier-Sterne-Verhältnisse bieten muss. Genau diese Einfachheit suchen die Gäste hier. Unter mehr Komfort würde nur das abenteuerliche Erlebnis leiden. Und was gibt es Schöneres, als sich mit kaltem, kristallklarem Quellwasser am Brunnen zu erfrischen?«, argumentiert er, um kurz darauf fortzufahren: »Herr Grob engagiert sich zudem mit viel Herzblut für die Gemeinde, setzt sich für die Sennten ein, die zur Bergschaft Bussalp gehören.« Mit einer ausladenden Handbewegung schwenkt er um 180 Grad herum und ergänzt in typischer Luke-Manier: »Nicht zu vergessen sein Mut, aus dem hier etwas Großes zu machen. ›Honeymoon-Alp‹! Ein Zukunftsprojekt, um das uns viele in der Branche beneiden«, malt Luke einmal mehr mit dem großen Pinsel.

Nach drei Minuten geduldigem Zuhören ist Schreiber leicht schwindlig von so vielen grellen, dick aufgetragenen Farben. Genug Honeymoon für heute, denkt er sich, schaltet das Aufnahmegerät aus, bedankt sich für das Gespräch und verabschiedet sich mit der Ausrede, die Gunst der Stunde nutzen zu wollen und zu Fuß zurück ins Dorf zu wandern.

»Ist doch ganz gut gelaufen!«, meint Luke selbstzufrieden, während sie dem Journalisten nachschauen.

»Findest du?«

»Na ja. Du kannst dich einmal mehr bei mir bedanken, dass ich dich vor einem peinlichen Ende gerettet habe. Die Geschichte mit der Drohne hättest du übrigens besser für dich behalten. Wer weiß, was der aus dieser Info bastelt.«

»Aber das ist doch wahr und übrigens völlig legal. Sonst würde es kaum eine Firma geben, die das professionell anbietet.«

»Hauptsache, ich konnte positiv mit ›Honeymoon-Alp‹ abschließen und du kriegst deine personelle Baustelle auf dem Hof endlich in den Griff.«

Ohne Worte, mit rotem Kopf dreht sich Heinz um und lässt Luke stehen.

Juni (8)

»Heute wird ein guter Tag! Carpe diem«, beendet Wim sein Morgenritual, bestehend aus zehn tiefen Atemzügen und diesen zwei Sätzen. Nicht gerade das, was der aktuelle Ratgeber mit seiner Hosensack-Psychologie empfiehlt, den er in einer depressiven Minute am Bahnhofkiosk gekauft hat. Immerhin ein Anfang. Den größten Effekt hat so oder so die atemberaubende Aussicht vor seinem Sechs-Quadratmeter-Heim. Jeden Morgen überrascht ihn die Natur mit neuen Stimmungen und Farbkombinationen. Aktuell wird er beinahe täglich mit Bildern verwöhnt, die perfekter sind als retuschierte Ferienprospekt-Fotos. Wie wenn sie mit MySwitzerland einen Vertrag hätte, rückt die aufgehende Sonne die drei Wahrzeichen der Berner Alpen ins richtige Licht, bevor ihre Sonnenstrahlen die schwarze Wasseroberfläche beleuchten. In diesen kurzen Momenten ist sein Leben perfekt. Wobei leicht melancholische Moll-Szenarien ihn mehr berühren als solche in Dur, die ihm schnell zu kitschig, zu auffällig, zu laut sind. Postkarten-Sonnenaufgänge, wolkenloser Himmel, Landschaften, die sich im völlig wellenlosen Wasser spiegeln, als wären sie handgemalt oder mit einem Bildbearbeitungsprogramm korrigiert, sind ihm suspekt. So makellos ist das Leben nicht. Mystische Nebelschleier, die Teile verhüllen, die knalligen Farben entschärfen, oder dunkle Wolken, die bedrohlich wirken und unberechenbar sein können, sind seinem Wesen und dem echten Erdendasein viel näher. Noch ein Hinweis auf seine leicht depressive Veranlagung?

Tatsächlich glückt der Start. Seine drei ersten Kundenbesuche sind erfolgreich. Ein Genossenschaftsladen, der von den Einwohnern mit viel Enthusiasmus betrieben wird, hat für seine Größe überdurchschnittlich viel bestellt. Die ansteckend fröhliche Mitbesitzerin war von den exotischen Gewürzmischungen in Bio-Qualität begeistert. Zuletzt versuchte er ihre Euphorie mit dem Hinweis zu bremsen, dass er gerne regelmäßig für Nachbestellungen vorbeikomme.

Die Pause in seinem Lieblingscafé hat er sich verdient. Er liebt diesen Ort nicht wegen des schönen Ambientes, weil es angesagt ist oder in besonders guter Lage steht. Im Gegenteil. Eine Renovation wäre längst fällig. Der schlauchartige Raum verströmt Wartsaalatmosphäre wie in einem verwaisten Bahnhof. Die meisten Tische auf dem Plattenboden aus einer längst vergangenen Epoche stehen schief, Tageslicht ist Mangelware. Vielen Passanten fällt nicht einmal auf, dass sich hinter den zwei kleinen Frontfenstern an der stark befahrenen Straße ein öffentliches Lokal versteckt. Wim liebt es gerade für seine Schlichtheit und Unscheinbarkeit. Vor allem aber wegen der äußerst sympathischen, auf den zweiten Blick hübschen, unaufdringlichen Bedienung. Für den perfekten Espresso und das große Zeitungsangebot.

»TOD IN DER LANDSCHULWOCHE!« Die Zeitung mit den großen Buchstaben liest er normalerweise nicht. Die schaut man höchstens an, hatte er früher gescherzt. Mittlerweile ist ihm schleierhaft, weshalb er und seine Außendienstkollegen das lustig fanden. War es wirklich nur wegen des bisschen Busens auf Seite drei? Wie auch immer. Sie waren eine reine Männertruppe. Leider. Weibliche Kolleginnen hätten bestimmt positiven Einfluss auf die Manieren einzelner Kollegen gehabt. Vielleicht sogar auf deren oberflächlichen Zeitungskonsum. Als er in der fettgedruckten Zusammenfassung unter dem Titel den Namen »Grindelwald« entdeckt, schnappt er sich, zusätzlich zu seinem Leibblatt, trotzdem eine Ausgabe.

In wenigen Sätzen werden die erschütternden Tatsachen beschrieben. Eine 15-jährige Schülerin sei an den Folgen einer Magenverstimmung gestorben. Insgesamt seien fünf Personen hospitalisiert worden. Vier davon hätten sich bald erholt. Weshalb die zuerst Erkrankte es nicht geschafft habe, sei unklar. Als Ursache werde eine Lebensmittelvergiftung vermutet. Drogen könnten ausgeschlossen werden. Ob eine andere, bisher unbekannte körperliche Schwäche mitspielte, werde vom Institut für Rechtsmedizin noch abgeklärt. Bei außergewöhnlichen Todesfällen sei laut Polizei eine Obduktion wahrscheinlich.

Selbstverständlich sei man erschüttert, fühle mit der Familie der Schülerin mit und spreche sein herzliches Beileid aus. An Spekulationen beteilige man sich nicht; wenngleich ein verdorbenes Lebensmittel, gepaart mit einem tragischen Zufall, die im Moment logischste Erklärung sei. Erste Maßnahmen seien bereits eingeleitet worden. Die Öffentlichkeit werde, so weit relevant, über Neuigkeiten informiert. Die Privatsphäre der hart geprüften Familie gehe aber vor, werden die Verantwortlichen von Grindelwald zitiert. Ergänzt wird das Ganze mit einem Interview des Hofbesitzers und, für Wim wenig überraschend, mit Luke Mischler. Das Gespräch wurde jedoch kurz vor der tragischen Wende geführt. Zum Schluss stellt der Journalist eine Frage in den Raum, mit der er die Fortsetzung der Geschichte elegant vorspurt: Was bedeutet das für die Abstimmung über das ambitiöse Honeymoon-Projekt?

Wim bestellt sich einen zweiten, diesmal doppelten Espresso. Sogar in seinem bevorzugten Printmedium wird die Geschichte behandelt. Etwas kleiner und an weniger prominenter Stelle.

Und was jetzt, Luke? Nur ein Rückschlag oder der Super-GAU für eure Tourismuspläne? Was sind das für Maßnahmen, die bereits eingeleitet wurden?

Seine Erinnerungen an Grindelwald sind zum größten Teil schmerzhaft. Die letzten an die Klassenzusammenkunft und den Helfereinsatz eher peinlich. Umso erstaunlicher, dass ihn die Geschichte nicht einfach kalt lässt. Ist es Neugier? Schadenfreude? Hassliebe? Womöglich sogar Rache für all die erniedrigenden Erlebnisse, die ihn mit diesem Ort verbinden?

Jetzt beruhig dich. So wichtig bist du auch wieder nicht, dass sich eine höhere Macht für dich rächen würde, hört er sich laut denken. Trotzdem. Einen Denkzettel haben die überheblichen Zukunftsgestalter verdient; so wie die an der Informationsveranstaltung aufgetreten sind.

Aber hallo! Doch nicht mit einem tragischen Todesfall eines Menschen, der noch sein Leben vor sich hatte, brüllt sein Gewissen.

Natürlich hast du recht. Aber Gedanken sind nun mal unkontrollierbar, beruhigt er es.

Von Demut keine Spur und mit narzisstischen Zügen gespickt, hat er den Auftritt der Honeymoon-Promotoren im Congress Center in Erinnerung. Am Infoabend war er nur dabei gewesen, weil er sich erhofft hatte, Personen zu treffen, die er »en passant« über sein Verhalten in der Bar nach dem Sportanlass im Frühjahr ausfragen konnte, um seine Gedächtnislücken zu schließen. Vielleicht genügten auch Blicke, um herauszufinden, ob er sich daneben oder noch schlimmer benommen hatte. Hatte er nicht, konnte er erleichtert resümieren. Zumindest waren ihm keine rollenden Augenpaare, spitze oder mitleidige Bemerkungen aufgefallen. Vielmehr empfand er Mitleid für die mutige Person in der Sitzreihe vor ihm. Oder war es Sympathie? Wahrscheinlich ein Mix aus beidem. Egal. Gerne hätte er ihr anschließend gratuliert. Leider verließ die Frau den Anlass fast fluchtartig. Seine Spontanität war viel zu träge, um sie aufzuhalten. Wie schon so oft. Immerhin hatte seine Reaktion genügt, um den Schal einzustecken, den sie in der Eile auf ihrem Stuhl vergessen hatte. Vielleicht würde er ja eine zweite Chance bekommen. Schließlich stehen auch einige Geschäfte und Gastronomiebetriebe aus Grindelwald auf seiner Akquisitionsliste. Würde er bei diesen Kontakten, so nebenbei wohlverstanden, mehr über die Besitzerin und die Hintergründe dieser Geschichte erfahren? Wie werden sich die Honeymoon-Initianten aus der Affäre ziehen? Wer oder was ist wirklich für den Tod im Klassenlager verantwortlich? Diese Fragen formulieren sich automatisch und sorgen für leichtes Kribbeln im Bauch. Ein stimulierendes Gefühl, das er lange nicht mehr erlebt hat. Einen Tick aufrechter als sonst macht er sich auf den Weg, aus dem gut begonnenen einen überragenden Tag zu machen. Das Trinkgeld ist noch üppiger als sonst.

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Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
272 s. 5 illüstrasyon
ISBN:
9783839269442
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