Kitabı oku: «Schweizer Wasser», sayfa 4

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Juni (9)

»Ja!?«

»Guten Tag, Frau Pelletier. Mein Name ist …«

»Ich kaufe nichts!«, antwortet die Gegensprechanlage.

»Darum geht es nicht, ich möchte nur …«

»Irgendein Freikirchler-Geschwafel brauche ich noch weniger.«

»Keine Angst. Ich möchte nur …«

»Sind Sie schwerhörig? Hauen Sie ab!«, überschlägt sich die Stimme. »Lassen Sie mich einfach in Ruhe.«

»Frau Pelletier. Ich möchte wirklich nur …«

Klick. Der Lautsprecher hat sich verabschiedet.

Heute lasse ich mich nicht abwimmeln, erinnert sich Wim an seinen Vorsatz, den er vor dem ersten Klingeln getroffen hat.

»Wenn Sie nicht sofort verduften, rufe ich die Polizei!«

»Herrgott noch mal! Jetzt hören Sie mir verdammt noch mal zu und lassen Sie mich ausreden! Ich bringe Ihnen nur etwas zurück, was Ihnen gehört!«, entgegnet Wim und ist selbst erstaunt über seine aggressive Reaktion.

Wer »Gott« und »verdammt« im gleichen Satz erwähnt, kann nicht übertrieben religiös sein. Ihr Zögern verrät ihm, dass ihre Fassade zu bröckeln beginnt. »Legen Sie es doch einfach in den Milchkasten«, gibt sie sich noch nicht geschlagen.

»No way!«

»Fremdsprachen ziehen bei mir nicht!«

»Même pas du français avec un accent? Et vous n’êtes pas curieuse de savoir ce que je veux vous rapporter?«

»Nein! Ich besitze weder wertvolle Dinge, noch vermisse ich etwas.«

»Außerdem bewundere ich Sie!«, versucht es Wim mit dem Trumpfass.

»Sie sind ja hartnäckiger als Spam-Mails, die einem ein Millionenerbe versprechen.«

»Mit dem Unterschied, dass ich kein Spam bin. Oder hat schon jemals einer bei Ihnen geklingelt?«

»Sie geben wohl nie auf!«

»Doch!«

»Dann sind wir uns ja einig.«

»Aber nicht heute!«

»Hä?«

»Heute gebe ich nicht auf. Nicht, bevor Sie mir zwei Minuten zugehört und das Teil persönlich entgegengenommen haben.«

»Die zwei Minuten sind längst vorbei, Sie Halsabschneider!«

»Ich habe kein Messer und kann kein Blut sehen.«

»Zweiter Stock.«

Mit einem müden Surren meldet sich der Türöffner.

Die Arme vor der Brust gekreuzt, steht sie zentral im Türrahmen. Zwei Haarnadeln bändigen ihre halblangen, mehr grauen als dunkelbraunen Haare. Kein Make-up, angespannte Gesichtszüge, wache Falkenaugen, Hände, die vermutlich viel über harte Arbeit erzählen könnten. Schwarzes, für ihre Statur zu großes Sweatshirt, schwarze Jeans, schwarze Socken. Einzig das kleine Grübchen in der linken Wange will nicht so recht zum ernsthaften Bild passen.

Ohne Worte überreicht Wim den Schal.

»Woher haben Sie den?«

»Von der Infoveranstaltung im Congress Center, die Sie fluchtartig verlassen haben. Was ich übrigens durchaus verstehe.«

»Ich erinnere mich nicht an Sie. Wie haben Sie mich gefunden?«, fragt Lisa nüchtern.

»Ich saß hinter Ihnen. Nicht auffallen ist eine Spezialität von mir.«

»Kam mir grad eben nicht so vor. War’s das?«

»Nein. Der Schal war ehrlich gesagt nur der Türöffner. Ich möchte Ihnen gratulieren.«

»Warum tun Sie’s nicht einfach und verduften dann wieder?«

»Herzliche Gratulation! Ich bewundere Ihren Mut, den Sie an dieser PR-Show für das Honeymoon-Projekt bewiesen haben. Sie waren die Einzige, die es gewagt hat, kritische Fragen zu stellen.«

Das rund 55 Kilo leichte Bollwerk lehnt mittlerweile am Türrahmen. Die Arme bleiben vor der Brust, aber die versteinerte Mimik entspannt sich leicht.

Überrascht, nicht unterbrochen zu werden, fährt Wim fort. »Obwohl ich schon lange nicht mehr hier lebe, stehe ich den Tourismusplänen für Grindelwald ebenfalls skeptisch gegenüber. Trotzdem hätte ich es niemals gewagt, vor so vielen Menschen eine Frage zu stellen respektive das Risiko einzugehen, von der Mehrheit ausgebuht zu werden oder all die feindseligen Blicke aushalten zu müssen. Dafür bewundere ich Sie!«

»Bevor Sie in Tränen ausbrechen und sich an meiner Brust ausweinen, gehen Sie jetzt besser wieder. Danke für den Schal.«

Ohne Grußwort schließt sich die Tür vor seiner Nase. Nicht aufgeben, jetzt, wo du schon so weit gekommen bist. Zeig’s deinem inneren Schweinehund. Beweise Mut, beschwört ihn die Du-hast-nichts-zu-verlieren-Stimme. Diese ergreift zwar ab und zu das Wort, hat aber in Wims bisherigem Leben meist den Kürzeren gezogen. So hartnäckig wie heute kennt er sie kaum. Zielstrebig klopft seine Faust an der Tür.

»Da wär noch was«, hört er sich mit überraschend fester Stimme sagen.

»Wenn Sie eine Therapeutin brauchen, sind Sie bei mir falsch. Ich habe selber genügend Probleme, die ich nicht auf die Reihe kriege. Entweder Sie verduften jetzt oder es gibt Ärger«!

»Okay! Ich setz mich auf die Treppe und warte auf den Ärger«, antwortet Wim durch die verschlossene Tür.

»Ingwertee mit Zitrone und einem Löffel Honig tönt gut. Heißes Getränk bei heißen Temperaturen passt.« Eine Viertelstunde später sitzt Wim in der schmalen Küche am noch schmäleren Küchentisch. Lisa ist selbst überrascht, dass sie weich geworden ist. Warum nicht? Schließlich führe ich in letzter Zeit öfter Selbstgespräche als Gespräche mit anderen Menschen. Außerdem sieht er nicht aus wie ein Vergewaltiger; und im Notfall bin ich mit einem Handgriff am Messerblock neben dem Herd, beruhigt sie sich.

Der Small Talk erschöpft sich schnell. Fragen nach Beruf, Herkunft, Familie und so weiter meidet Wim – nach dem harzigen Start absichtlich. Erst als sie das Thema der anhaltenden Trockenheit und deren Auswirkungen auf Mensch und Natur aufgreifen, ergibt sich so etwas wie ein richtiges Gespräch. Was den Klimawandel betrifft, sind sie sich einig. Den geteilten Frust über die Ignoranz – oder ist es Dummheit? – einer Mehrheit der Bevölkerung anzusprechen, wirkt befreiend. Skeptisches Abtasten weicht langsam konzentrierter Neugier.

»Sie haben gesagt, dass da noch was ist. Ich denke, es wäre nichts als fair, die Katze jetzt aus dem Sack zu lassen.«

Kommentarlos greift Wim in seine Veston-Tasche.

»Haben Sie davon gehört?«

Lisa starrt auf den Zeitungsartikel. Innert Sekunden wechselt ihre Gesichtsfarbe, die Nasenflügel weiten sich, Halsschlagader und Kehlkopf treten hervor. Mit einem von Verachtung triefendem Blick fixiert sie Wim.

Na bravo. Zurück auf Feld eins, interpretiert er.

»Wieso fragen Sie, wenn Sie es wissen? Und ich naive Kuh lasse mich von Ihrem Gesülze einlullen«, lacht sie sarkastisch über sich selbst. »Wer schickt Sie? Heinz Grob, Luke Mischler, die Gemeinde? Falls Sie ein Schnüffler vom Sozialamt sind, haben Sie sich zu früh gefreut. Denn noch bin ich kein Sozialfall. Oder sind Sie ein Journalisten-Heini, der auf eine exklusive Katastrophen-Story hofft? Je krasser und schlechter, desto besser! Das ist doch das, wonach die Gesellschaft lechzt. Hauptsache, den anderen geht’s noch dreckiger und verschissener als einem selber. Wissen Sie was? Sie sind noch viel widerlicher als die Leute, die versuchen, mir die Schuld zuzuschieben, mich langsam, aber sicher fallen lassen wie eine heiße Kartoffel. Hätte ich heute schon was gegessen, würde ich nichts lieber tun, als auf Ihren Schoß zu kotzen, Sie asoziales Arschloch!«

Drei tiefe Atemzüge.

»Ihnen bleiben genau fünf Sekunden, meine Wohnung zu verlassen. Außer Sie wollen die Geschichte mit einem Mord aufpeppen. Darüber werden Sie aber weder schreiben noch lesen können!«, beendet Lisa ihre Explosion, die rechte Hand zitternd am Messerblock.

»Wim Peter – Biogewürze«, steht auf der Visitenkarte neben dem Zeitungsartikel. Dann fließen die Tränen.

Juni (10)

Seit mehreren Tagen versucht Wim erfolglos, sich abzulenken. Beim Schachspiel sieht er noch älter aus, als er sich eh schon fühlt. Mal für Mal tappt er in die offensichtlichsten Fallen, die sogar ein zehnjähriger Anfänger erkennen würde. Zum Glück ist sein Partner ein Computer. Der kann wenigstens nicht noch dreckig lachen oder mitleidig seine Schulter tätscheln. Noch nicht. Liest er im aktuellen Krimi, schafft er in 45 Minuten maximal fünf Seiten, was definitiv nicht an der Autorin liegt, deren Erzählstil ihn sonst fesselt. Er kommt sich jeweils vor wie ein Kleinkind, das nur so tut, als ob es lesen könnte, irgendetwas vor sich her parliert, keinesfalls aber die effektive Geschichte. Im Arbeitsalltag ist seine Konzentration gleichermaßen inexistent. So miserabel hat er seit Wochen nicht mehr verkauft. Einem Typen mit dieser Ausstrahlung würde ich auch nichts abkaufen. Nicht einmal gratis, tadelte ihn am Morgen das Spiegelbild. Seine Gedanken schweifen immer wieder ab in die kleine Küche im zweiten Stock, was unweigerlich einen dunklen, langen Schatten auf sein Gesicht und sein Gemüt wirft. Sogar seine Lieblingsbedienung im Stammcafé hat sich nach seinem Befinden erkundigt, obschon sie selten mehr als zwei Sätze austauschen.

Was steckt dahinter, dass sie so ausgerastet ist? Was muss jemand erlebt haben, der wie ein verwundetes Raubtier reagiert? Bestimmt hat sie eine impulsive, unberechenbare Ader. Zweifellos kann sie die Ärmel hochkrempeln und so richtig zupacken, wenn’s darauf ankommt. Trotzdem muss sich hinter der taffen Schale etwas Einfühlsames verbergen. So unnahbar und kühl, wie sie sich gab, kann sie nicht sein, ist Wim überzeugt. Feinen Humor hat sie ebenfalls bewiesen, sonst hätte sie ihm niemals die Tür geöffnet.

Et puis? Quo vadis, Wim? Mit einem Glas Rotwein, Block und Schreibwerkzeug bewaffnet, setzt er sich an den Klapptisch in seinem fahrbaren Zuhause. Wobei er daran zweifelt, dass es sich noch bewegen ließe. Spielt im Moment auch keine Rolle. Hier hat er seine Ruhe. Und wenn im Sommer alle Mieter vor ihrem Traumhäuschen auf ihren Campingstühlen sitzen, macht er es sich drinnen gemütlich.

Er tut, was er in seinem Leben immer tut, wenn ein Entscheid ansteht, sofern er überhaupt eine Wahl hat. Die hat er jetzt. 30 Minuten und zwei Deziliter Pinot später betrachtet er seine Pro-und-Kontra-Liste. Kontra bedeutet, Grindelwald endgültig den Rücken zu kehren. Dessen Tourismuspläne, den mysteriösen Todesfall und nicht zuletzt Lisa Pelletier zu vergessen, weil ihn all das nichts angeht. Der Entscheid pro fällt ihm erstaunlich leicht. Mit Großbuchstaben notiert er auf seinem Blatt: TRY OR DIE!

Vor zwei Tagen musste sie die Handbremse ziehen. Genau genommen trat sie zusätzlich mit beiden Beinen gleichzeitig auf das Bremspedal. Die beiden Vorderreifen baumelten bereits über der Klippe. 48 Stunden nach der traumatischen Szene in ihrer Küche wachte Lisa in ihrem Erbrochenen und ihren durchnässten, nach Schweiß, billigem Alkohol und Urin miefenden Klamotten auf. Mit dem Geruch in ihrer Wohnung hätte sie locker ein paar Franken verdienen können. Die dicke Luft ganz einfach mit einem Messer zerschneiden und portionenweise einer Biogasanlage verkaufen. Bis auf ein kurzes Déjà-vu aus einem Traum ist ihre Erinnerung an diese zwei Tage – oder waren es noch mehr? – ausgelöscht. Ein riesiges schwarzes Loch. Dieser kleine Traumausschnitt hatte es hingegen in sich: Wo nur ist Lisa, die Kämpferin geblieben? Die Opferrolle steht dir nicht, begegnete ihr aus dem Nichts ihre verstorbene Liebe und poppte weg wie eine Seifenblase, ehe sie Luft zum Antworten holen konnte. Wie gerne hätte sie wieder einmal ein gehaltvolles Gespräch geführt. Keinen oberflächlichen, achtlosen Small Talk, sondern einen Dialog, der diesen Namen verdient. Über Dinge, die berühren, Angst machen, Freude bereiten. Wenn’s sein muss auch über die eigenen Schwächen und Abgründe. Ein echter Austausch eben. Ohne Eskalation. Nicht wie beim Besuch von diesem Peter, oder wie er heißt, der beinahe mit einer Katastrophe geendet hätte. Immerhin, vermutet sie rückblickend, waren die zwei Sätze vom ehemaligen Partner so etwas wie der entscheidende Impuls, die Notbremse zu ziehen, aufzuwachen und als ersten Schritt den Restalkohol in ihrem Haushalt zu entsorgen. Im Ausguss, versteht sich.

Gerade noch rechtzeitig die Kurve gekriegt, reflektiert Lisa nach der ersten Null-Promille-Nacht seit einigen Wochen. Ein Gläschen wird dir nicht schaden. Jetzt sei doch nicht so stur. Stolz darauf, das Teufelchen ignoriert zu haben, startete sie den heutigen Tag katerfrei mit einem generalstabsmäßigen Wohnungsputz, gefolgt von einer gründlichen Körperpflege. Die Kassierin im Lebensmittelladen war so freundlich wie seit Langem nicht mehr, was vermutlich auch an Lisas Ausstrahlung und dem dezent aufgetragenen Make-up lag. Beim Hausputz hatte sie das verloren geglaubte Schminkset gefunden und ihr blasses Gesicht spontan mit etwas Farbe belebt. Zum ersten Mal seit … Sie konnte sich nicht erinnern.

Sie gönnt sich die erste richtige Mahlzeit seit Tagen. Das Frühstück mit Käse, Brot, echter Butter und selbstgemachter Brombeerkonfitüre aus besseren Zeiten schmeckt herrlich. Der Kaffeeduft weckt Erinnerungen an lebenswerte Tage und endgültig die noch dösenden Lebensgeister. Das Drei-Minuten-Ei sorgt definitiv dafür, dass es sich wie ein Fünf-Sterne-Brunch anfühlt. Ihr Appetit überrascht sie. Noch mehr, dass der Magen nicht subito rebelliert. Natürlich bist du längst nicht über den Berg, ermahnt sie sich. Trotzdem. Im Moment hat der Schutzengel in ihr Überwasser. Diesen Moment gilt es zu nutzen, umso mehr sie nicht weiß, wie weit dessen Schwimmkünste bei der nächsten großen Welle reichen werden.

Aber was tun? Quo vadis, Lisa? Hirnsturmmäßig beginnt sie zu notieren: Wer ist dieser Peter? Warum macht sich so jemand die Mühe, ihre Adresse herauszufinden und erst noch persönlich vorbeizukommen? Den Schal hätte er ja locker per Post schicken oder in den Briefkasten legen können. Und weshalb hat er das billige Teil nicht einfach auf dem Stuhl liegen lassen? Sein Kompliment wirkte echt. Woher willst du das wissen? Du warst ja völlig von der Rolle. Vielleicht ist er nur ein guter Schauspieler oder ein einsamer Spanner, der eine günstige Gelegenheit … Come on, Lisa, was bildest du dir ein? Wer sucht schon freiwillig die Nähe einer alternden, verbitterten Frau, die langsam, aber sicher ihre Selbstachtung verliert? Okay. Sähe er mich heute, wäre das vielleicht etwas anders. Aber so war es nicht. Zudem hatte er überhaupt nichts Spannerhaftes. Seit wann weißt du, woran man Spanner erkennt? Und überhaupt …

Mittlerweile dekorieren einige Papierknäuel den Küchentisch. Ihr Blick schweift von der blendend sauberen Chromstahl-Küchenkombination zum farbigen Fundgegenstand an der Garderobe. Dort verharren ihre Augen, ohne zu blinzeln, bis sie feucht werden. Was willst du wirklich, Lisa?

Einen Waldspaziergang und eine Kanne Koffein später heftet sie ihr Fazit mit einem Magnet an den Kühlschrank.

Würde! Kämpfen! Wim Peter? TRY OR DIE!

Juli (11)

Besser könnten die meteorologischen Bedingungen nicht sein. Das Hochzeitspaar strahlt mit der prallen Sonne um die Wette. Dem Bräutigam und den männlichen Gästen rinnt der Schweiß längst den Rücken hinunter. Für einmal haben die Damen einen großen Vorteil. Sie können den feierlichen Dresscode viel luftiger und freizügiger umsetzen. Nach gefühlten 50 bis 100 Mal »Cheeeese«, hat der Knipser endlich Erbarmen. Vestons werden ausgezogen, Hemdsärmel hochgekrempelt, Krawatten gelockert. Gegen die Achselnässe hatte kein Deo nur den Hauch einer Chance. Während der Fahrt mit dem Nostalgie-Postauto von der Kirche auf die Büössalp, wie sie die Einheimischen aussprechen, herrschte tropische Hitze. Glücklich, wer sich am Morgen für ein weißes Hemd entschieden hat.

Viel trinken ist bei diesen Temperaturen besonders wichtig. Dieser Vorsatz wird zügig umgesetzt, wenn auch nicht bei allen mit dem optimalen Verhältnis zwischen Wasser und Alkohol. Was soll’s. Wenn die Cervelat-Prominenz generös einlädt, kann man ruhig großzügig zulangen. Die Braut herself hat auf der Bussalp serviert, bevor sie bei irgend so einer Castingshow den zweiten Platz belegte. Das kurze Strohfeuer mit ihrem ersten und bisher einzigen Hit hatte gereicht, den Produzenten zu seiner zweiten Ehe zu verführen. Tönt reichlich nach Klischee. Ist es auch. Stimmt trotzdem.

Urchig und einfach soll es werden, hatte das Brautpaar der Berner Oberländer Zeitung verraten. Darüber kann das üppige Buffet nur lachen. Bereits die kalten Vorspeisen halten locker mit jedem Fünf-Sterne-Brunch im Schweizerhof mit. Vielfalt und Überfluss. Dekadenz pur. Kreativ sind die Horsd’œuvres auf überdimensionalen Spiegeln angerichtet, flankiert von buntem Gemüse, allerlei grünen Kräutern und essbaren Blumenblättern. Eine fischförmige, aus Eis geschnitzte Skulptur vollendet das Kunstwerk. Leider ist von der ganzen Pracht nach fünf Minuten nichts mehr zu sehen, was nicht daran liegt, dass der überdimensionale Eisfisch in Rekordtempo wegschmilzt.

Schlimmer als hungrige Tiere, denkt sich Lisa, während sie zusammen mit ihren temporären Servicekolleginnen versucht, die gröbsten ästhetischen Schäden nach dem ersten Ansturm der hungrigen Meute zu beheben. Das Vorhaben scheitert kläglich. »Konzentrier dich auf den Nachschub!«, wird sie vom Chef de Service zurechtgewiesen. Geschickt balanciert sie eine Spiegelplatte Richtung Buffet. Einzelne Gäste bedienen sich, bevor sie ihr Ziel erreicht. Die Giftpfeile, die sie mit ihren Augen schießt, werden ignoriert.

Maul halten, Lisa! Sei froh, dass er dich überhaupt aufgeboten hat, redet sie ihrer Empörung ins Gewissen. Tatsächlich hatte sie in letzter Zeit einige Aussetzer gehabt. Zu viele Absenzen, zu viele Scherben, zu viele Kundenreklamationen wegen unfreundlichen Verhaltens. Nur dank dem Chef de Service wird sie noch für Banketteinsätze angefragt. Er erinnert sich zum Glück daran, wie sie in der Vergangenheit bei Engpässen flexibel einsprang. Dieser Kredit ist aufgebraucht. Beim Besitzer des Hotels hat sie längst einen Malus. Der wartet nur auf den nächsten Ausrutscher, um sie endgültig loszuwerden.

Weit nach Mitternacht bringen Shuttlebusse die Gesellschaft zurück ins Dorf. Wer nicht gleich einnickt, starrt während der Fahrt mit glasigem Blick nach vorne. Waren das am Nachmittag gleich viele Kurven, scheint sich manch ein Hochzeitsgast zu fragen. Die Nachtschicht an der Réception hat alle Hände voll zu tun, als das wankende Partyvolk im Hotel eintrifft. Einige sind dankbar für die charmante Begleitung zum Zimmer. Die Übernachtung hatte Heinz Grob seinem Busenfreund im Hotel Kirche vermittelt. Im Gegenzug erhielt er Unterstützung von der Küchenbrigade für das Hochzeitsbuffet. Nicht zum ersten Mal hatten sich so beide Betriebe ergänzt und einen lukrativen Anlass an Land gezogen.

Noch bevor der Sonntagsgottesdienst beginnt, erscheinen erstaunlich viele zum Katerfrühstück. Nicht dass irgendjemand der übernächtigten Festgesellschaft die sieben Stammgäste in der Kirche verstärken möchte. In Grindelwald ist die Kirche noch im Dorf. Zumindest geografisch, sprich einen Steinwurf neben dem gleichnamigen Hotel. Trotzdem traut sich keines der bleichen Gesichter im Frühstückssaal die paar Schritte zum Gotteshaus zu, obgleich beten in ihrem Zustand vielleicht helfen würde. Fehlt die Kraft? Reicht der gestrige, nicht ganz unfreiwillige Besuch für die nächsten Monate, wenn nicht Jahre? Weder noch. An diesem Sonntagmorgen sind es in erster Linie die fehlenden Sanitärinstallationen. Apathisch sitzen die Bleichgesichter murmelnd vor ihrem Kamillen- oder Lindenblütentee. Appetit? Fehlanzeige! Das Frühstücksbuffet ist noch gleich schön wie vor eineinhalb Stunden, als es Lisa hergerichtet hat. Nach dem Feierabend auf der Bussalp reichte die Zeit für eine Dusche und einen Turboschlaf auf dem Sofa. Solche Dauereinsätze zu verkraften ist reine Kopfsache, ist sie überzeugt. Ohne Alkohol sowieso.

»Wird ein Fall für die Food-Waste-Polizei werden heute. Hat das Schlagersternchen schon die Scheidung eingereicht oder haben sie es mit den Trinkspielen übertrieben?«, fragt Lisa den ältesten Kochlehrling, der vergeblich die Rühreistation hütet.

»Das mediterrane Klima hat sicher mitgeholfen, dass es auch weniger trinkfeste Gäste übertrieben haben. Einen Gratisrausch hätte ich mir ebenfalls nicht entgehen lassen«, schmunzelt der Eierchef.

»Beim Hochzeitstorten-Holdrio war die Stimmung zwar schon laut und ausgelassen, die letzten einengenden Kleidungstücke längst gelockert, wenn nicht sogar abgelegt. Feuchtfröhlich ja, Komatrinken nein.«

»Wer nur säuft, wenn andere dafür zahlen, hat nicht genügend Übung, verträgt zu wenig. Meine Meinung.«

»So viele können das doch nicht sein. Schau dich um. Ein Saal voller ausgewrungener Waschlappen. Das kann unmöglich nur am Alkohol liegen«, flüstert Lisa weiter hinter vorgehaltener Hand.

»Willst du etwa sagen, wir hätten in der Küche gepfuscht!?! Wir haben 36 Stunden quasi durchgearbeitet. Ein Buffet hingezaubert, das mindestens zwei Michelin-Sterne verdient hätte. Interessiert hat das aber keine Sau!«

»Nicht so laut«, mahnt sie mit dem Zeigfinger vertikal über den Lippen.

»Mir doch egal. Die sind im Moment eh nur mit sich und ihrer Verdauung beschäftigt. Ich sage nur, selber schuld. Du hast ja erlebt, wie sie über unsere geile Arbeit hergefallen sind. Rücksichtsloser als jede Büffelherde auf der Flucht vor den Apachen. Außerdem ist Hygiene das Lieblingsthema des Küchenchefs. Bei den aktuellen Temperaturen ist er geradezu paranoid, was Salmonellen und andere Gefahren betrifft. Du hast ja keinen Plan, wie viel Zeit wir mit Putzen verplempern. Die haben sich schlicht zu schnell vollgefressen und mit zu viel Alk nachgespült. Mein Magen würde das auch nicht goutieren. Und glaub mir, der verträgt einiges.«

»Ist ja gut, Gino. Habe mich nicht minder aufgeregt. Von Knigge keine Spur. Immerhin war die Bezeichnung Katerfrühstück noch nie treffender als heute«, fügt sie mit vielsagendem Blick hinzu.

Heulende Sirenen übertönen das Vaterunser. Die Orgel kämpft mit mäßigem Erfolg gegen den ohrenbetäubenden Lärm. Die blinkenden Blaulichter durch die farbigen Kirchenfenster verleihen den heiligen Mauern einen leichten Disco-Touch. Aus zwei Ambulanzwagen vor dem Hotel Kirche springen je eine Ambulanzfahrerin und ein Pfleger mit Rucksack. Während die Pfleger zügig, aber nicht hektisch das Hotel betreten, entladen die Fahrerinnen rollende Betten, Plastikbeutel mit durchsichtiger Flüssigkeit, Erste-Hilfe-Koffer. Jeder Handgriff sitzt. Gesprochen wird nicht. Innert weniger Sekunden folgen sie ihren Kollegen.

In der Hotellobby herrscht Chaos. So etwas hat er nicht einmal beim Run auf das neueste iPhone erlebt. So gut es geht, versucht der junge Chef de Réception die aufgebrachten Hochzeitsgäste zu beruhigen. Die Honeymoon-Initianten hatten alles unternommen, die Promihochzeit nach Grindelwald zu holen. Keinen Aufwand gescheut, die Feier auf der Bussalp zu organisieren. »Feuertaufe für ›Honeymoon-Alp‹«, wollte die Zeitung als Schlagzeile dann doch nicht übernehmen. Beste Publicity, ein unbezahlbarer Werbespot sollte es werden. Überflüssig zu erwähnen, dass nicht nur die regionale Presse eingeladen war.

Dieser PR-Schuss droht im Moment zum Rohrkrepierer zu werden. »Bitte bleiben Sie ruhig, meine Damen und Herren! Warten Sie im Speisesaal oder in Ihrem Zimmer. Wir informieren Sie, sobald wir mehr wissen. Bestimmt wird alles gut«, wirft der Kaderangestellte frisch ab der Hotelfachschule seine gesamte knabenhafte Autorität in die Waagschale.

In der Hektik übersieht er, dass während seiner Ansprache ein Bett aus dem Lift gerollt wird, den frisch Vermählten im Schlepptau.

»Was erzählen Sie denn für einen Bockmist! Überhaupt nichts wird gut. Sie junger Schnösel haben doch keine Ahnung. Oder sind Sie schon einmal neben einer Leiche aufgewacht?«

»Sie lebt noch«, korrigiert ihn einer der Ambulanzhelfer.

»Mir doch egal! Also. Ich meine … Ähhh. Jedenfalls fühlte es sich so an, wie sie da so leblos neben mir lag.« Wie ein Auerhahn plustert er sich vor dem bemitleidenswerten Chef de Réception auf, den rechten Zeigfinger auf dessen Brust tippend, als würde er ihn aufspießen wollen. »Für Sie und Ihre Küchenbrigade wird das hier auf keinen Fall gut enden. Spätestens, wenn sich herausstellt, dass irgendwelche Käfer, Viren, Stalagmiten, was weiß ich, dafür verantwortlich sind, werden Sie sich warm anziehen müssen. Egal wie lange dieser Hitzesommer dauert.«

»Sie meinen wohl Staphylokokken.«

»Sag ich doch. Stalaktitten.«

»Übrigens: Wollen Sie Ihre Gattin in die Ambulanz begleiten oder selbst ins Spital fahren?«

Mit dem gleichen Käsegesicht wie die Gäste im Frühstücksraum und kalten Schweißperlen auf der Stirn, aber erleichtert, dass die Ambulanzfahrerin ihn erlöst hat, wiederholt der jugendliche Vorgesetzte seine Bitte an die Hotelgäste, bevor er sich Richtung Toilette verabschiedet.

Zum Glück hat der Retro-Ehegatte – oder wie nennt man jemanden, der zum zweiten Mal verheiratet ist? – in der Hysterie einen zweiten Krankenwagen bestellt. Während die Kirchenglocken zum Sonntags-Apéro läuten, chauffiert dieser weitere Gäste Richtung Spital Interlaken.

Berner Oberländer Zeitung

Vom Traualtar ins Spital

Von Stefan Schreiber

Grindelwald. Kein Happy End für den neuen Star am Schlagerhimmel Jasmin Meier, kurz JM (25) und ihren Produzenten, Rudi Hohlen (45). Nach dem Ja-Wort und einer berauschenden Party endet die Hochzeitsnacht im Spital. Verantwortlich dafür ist nicht etwa die Libido des Paares, sondern ein mysteriöser Virus.

Samstag, 20. Juli. Trotz einem weiteren Hitzetag stehen einige Hundert Menschen, Jung und Alt, Groß und Klein, viele mit dem gut trainierten Lächeln ihres Lieblings auf dem T-Shirt, kribbelig und ungeduldig Spalier. Die Zeremonie dauert länger als vorgesehen. Ob sie es sich noch anders überlegt? Um 15.30 Uhr ist es endlich so weit. Unter tosendem Applaus und teenieähnlichem Gekreische von unterschiedlichen Generationen, im Hintergrund untermalt von Orgelklängen, verlässt das frisch getraute Promipaar die Kirche. Gekonnt bleiben die zwei Verliebten mit einem royalen Winken beim Kirchausgang stehen, bevor sie Hand in Hand leichtfüßig unter Reisregen durch die spalierstehende Menschenmenge schweben. Flankiert von unzähligen herzförmigen Luftballons. Der perfekte Tag! Wer hätte gedacht, dass dieses junge Glück bald ein jähes Ende nehmen würde? Aber alles der Reihe nach.

Im Anschluss an die spontane Autogrammstunde beginnt die Hochzeitsparty für die geladenen Gäste auf der Bussalp, exakt dort, wo demnächst »Honeymoon-Alp« entstehen soll. Vor ihrem kometenhaften Aufstieg hat JM als einfache Angestellte im Bergrestaurant ihre Brötchen verdient. Für Heinz Grob,

Mitinitiant des Honeymoon-Projekts (www.hmoon­alp.com), war es Ehrensache, seine Lokalität zur Verfügung zu stellen.

19.30 Uhr. Nach dem ersten Showblock einer Hip-Hop-Truppe, die den vielseitigen Musikgeschmack von JM beweist, wird das riesige Buffet eröffnet. Mit Heißhunger stürzen sich die Gäste darauf. Noch ahnt niemand, dass etliche dies einige Stunden später bereuen werden. Allen voran JM. »Wie eine Leiche lag sie neben mir«, meinte ihr besorgter Gatte, bevor er am Sonntagvormittag kurz nach 11.00 Uhr die Ambulanz bestieg, um seiner zweiten Ehefrau in dieser schweren Stunde beizustehen.

Weitere zehn Gäste wurden kurz darauf mit den gleichen Symptomen (Schüttelfrost, starke Magenschmerzen, Diarrhö) abtransportiert. Über den Auslöser tappen die Spezialisten bislang im Dunkeln. Auf Anfrage im Spital Interlaken wurde einzig mitgeteilt, dass ein Teil der Betroffenen nach der Erstversorgung entlassen werden konnte. Ob Lebensmittel oder etwas anderes verantwortlich waren, könne man noch nicht sagen. Die schwereren Fälle, darunter die bemitleidenswerte JM, wurden für weitere Abklärungen ins Inselspital Bern verlegt. Weitere Auskünfte wurden mit dem Hinweis auf das Arztgeheimnis ebenso verweigert. Im Übrigen müsse man sich für die Information der Öffentlichkeit an die Gemeinde wenden. Wir konnten kurz und exklusiv mit Luke Mischler sprechen. Kein Unbekannter, wenn es um die touristische Zukunft von Grindelwald geht, und mitverantwortlich, dass die Promihochzeit im Eigerdorf stattfand.

Berner Oberländer (BO): »Herr Mischler. Sehen Sie Parallelen zum tragischen Vorfall vor wenigen Wochen in der Schulklasse?«

Luke Mischler (LM): »Natürlich leiden wir nach wie vor mit den Angehörigen dieser Schülerin mit. Verbindungen zum aktuellen Ereignis sehen wir keine. Nach meiner Einschätzung ist es schlicht ein äußerst unangenehmer Zufall.«

BO: »Beide Fälle ereigneten sich in Betrieben mit demselben Besitzer. Sowohl bei der Schulklasse als auch beim Hochzeitsfest besteht der Verdacht auf verunreinigte Lebensmittel. Auch das kein Zufall?«

LM: »Was wollen Sie ihm unterstellen? Beginnen Sie nicht, wild zu spekulieren. Ich versichere Ihnen, er ist nicht nur ein ehrenwerter Bürger von Grindelwald, sondern ein gewissenhafter Mensch. Glauben Sie mir. Ich kenne ihn beinahe mein ganzes Leben. Er wird diesen Fall genau analysieren und nur bei der kleinsten Ungereimtheit Konsequenzen ziehen. Letztlich ist auch er ein Opfer.«

BO: »Ist beim Klassenlager mittlerweile bekannt, ob tatsächlich nur der Kartoffelsalat schuld war? Und wenn ja, was wurde in der Zwischenzeit unternommen?«

LM: »Laut meinen Informationen wurde die Person obduziert. Das Ergebnis kenne ich nicht. Unabhängig davon hat der Besitzer gehandelt, so wie es seine gründliche Art ist. Zum Beispiel hat er gemeinsam mit dem Lebensmittelinspektor die Küche überprüft und eine schwarze Liste mit Lagermenüs erstellt, die gerade bei heißem Wetter heikel sind. Auch personelle Veränderungen, was die Verantwortung der Lagerküche betrifft, sind aufgegleist. Aus Daten- und Persönlichkeitsschutz kann ich Ihnen keine weiteren Details verraten.«

BO: »Das heißt: Kartoffelsalat hat diese junge Frau umgebracht? Für die Leserinnen und Leser ist das einfach schwer verständlich oder gar unglaubwürdig. Eine krasse Magenverstimmung davontragen ja, aber sterben?«

LM: »Das habe ich so nicht gesagt. Verdrehen Sie nicht meine Aussagen. Gäbe es eine eindeutige Todesursache, hätten wir das bestimmt erfahren. Die plausibelste Erklärung für mich ist nach wie vor, dass verschiedene unglückliche Umstände zusammengekommen sind. Gemunkelt wird unter anderem, dass die Schülerin schon seit einiger Zeit gesundheitliche Probleme hatte. An Gerüchten beteilige ich mich aber nicht. Ansonsten: kein weiterer Kommentar.«

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Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
272 s. 5 illüstrasyon
ISBN:
9783839269442
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