Kitabı oku: «Fliederbordell», sayfa 3

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5. KAPITEL

„Und, hast du jemanden an die Strippe bekommen?“, fragte Thamm, kaum dass er Jettes Büro betreten hatte.

„Natürlich!“ Jette klang fast schon empört. „Aber die machen auf stur. Ohne offiziellen Bescheid vom Chefchen läuft da nichts. Wirst wohl noch ein bisschen warten müssen.“

„Hab ich mir schon beinah gedacht“, gab Thamm zu. „Kannst du bei dem mal nachhaken, ob nicht jetzt schon was möglich ist? Ich weiß, wir haben eigentlich noch keine konkreten Anhaltspunkte, aber genau darum geht’s ja auch. Und wir brauchen bei den Ämtern Bewegungsfreiheit.“

Jettes Miene verzog sich schlagartig zu einem gequälten Lächeln. Auf den Staatsanwalt war sie nicht sonderlich gut zu sprechen, seit er ihr einfach so kraft seiner Wassersuppe die doppelte Arbeit aufgetragen hatte. Zusätzlich zu ihrer eigenen Arbeit gab sie jetzt noch die Urlaubsvertretung für die Huber, die wegen ihrer Schilddrüse auf unbestimmte Zeit in Behandlung war. „Nun zeigen Sie sich doch mal flexibel“, hatte er in seiner besserwisserischen Altherrenart geantwortet, als Jette ihn um wenigstens eine Praktikantin gebeten hatte. „Frau Kleinschmidt, Sie schultern das schon. Sie sind doch eine Fixe!“

„Kannst du das nicht selber machen?“, maulte Jette nun. „Ey, ich komme hier überhaupt nicht mehr raus aus der Mache. Was ich derzeit an Überstunden schrubbe, werd ich wohl nie abbummeln können. Und dann soll ich mir noch Chefchens Visage antun?“

„Scheiß Verbrecher, nicht?“, fragte Thamm ironisch.

„Scheiß Behördenkram viel eher. Und ich bin nicht mal verbeamtet.“

„Ist doch nur ein kleiner Anruf. Von mir aus kannst du ihm auch mailen, da hast du dann gar nichts mit ihm zu schaffen.“ Thamm wusste, wie er Jette angucken musste, um sie zum Einknicken zu bringen. Sie war das Küken hier im Revier, gerade so 25 Jahre alt und irgendwie fühlte er sich in dieser manchmal ziemlich ruppigen Männerwelt ein kleines bisschen verantwortlich für sie. Sie waren halt ein Team.

Da lächelte sie auch schon wieder. Die Sache war also gebongt.

„Und, wie macht sich der Neue so?“

Was war denn das jetzt, dachte Thamm überrascht. Warum fuhrwerkte sie denn plötzlich durch ihre aufgestapelten Unterlagen und wich seinem Blick aus, gab sich nachträglich so viel Mühe, die Frage vollkommen nebensächlich erscheinen zu lassen? Ach Jette!

„Der ist doch bestimmt so alt wie ich“, sagte Thamm leise.

„Ich hab ja nur mal so gefragt“, log Jette tapfer. „Und er ist übrigens zwei Jahre jünger als du, also gar nicht so alt.“

„Ich bin also alt?“, hakte Thamm amüsiert nach. Jette sah ihn von unten her an. „Du weißt, wie ich das meine.“

„Na gut.“ Thamm konnte sein Grinsen nicht abstellen, auch wenn er sich etwas blöd damit vorkam. Zu väterlich.

„Also, ich bin im Büro. Stell durch, was reinkommt.“

An seinem Schreibtisch schaltete Thamm als erstes den Computer an und surfte ein bisschen durchs Netz. Was genau er zu finden hoffte, wusste er nicht. Er klickte sich einfach von Seite zu Seite. Das eigene Datennetz gab nicht viel her zum Thema, aber welche Schlagwörter ließen sich schon für zwei tote Asiaten finden? Asiaten, ging es Thamm durch den Kopf: Das stand bisher noch gar nicht fest, ob es nun Asiaten oder Deutsche mit Migrationshintergrund waren, normale Bürger, Ausländer, Asylanten, Illegale … Gott, diese ganzen Verklausulierungen machten es auch nicht gerade leicht, voranzukommen. Das konnte man benennen, wie man wollte, zum Schluss blieben es zwei ermordete Menschen. Und nichts weiter.

Aber die Wirklichkeit sah leider um einiges komplizierter aus. Das wusste Thamm aus Erfahrung und merkte es auch jetzt gleich wieder auf den Seiten vom Statistischen Landesamt: „… zählen Staatenlose und Personen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit bei der Bevölkerungsstatistik nicht mehr zu den Ausländern …“ Gott, das fing ja heiter an! Er klickte sich zu der Seite des Merseburger Ordnungsamtes durch – schon komisch, dass die für Katastrophen und Ausländer zuständig waren. Aber nicht witzig. Thamm klickte sich zur Homepage eines grünen Landtagsabgeordneten durch. Ein ehemaliges Mitglied der AG „Polizeilicher Umgang mit Rechtsextremismus“ – Thamm erinnerte sich dunkel an den großen Scheißer mit der noch größeren Klappe. Das war damals gewesen, als er gerade Kriminalhauptkommissar geworden war. Hoffmann hätte da mehr Einblick in diese Sache gehabt, der war da voll drin gewesen. Ein paar Politiker und Aktivisten hatten damals versucht, aus einigen vereinzelten Vorfällen allgemeine Schlüsse zu ziehen. „Es gibt viele Beamte, die engagiert gegen Rechts vorgehen – die Polizei insgesamt sehen wir aber noch nicht überm Berg“, las Thamm nun auf der Homepage. Ja, das hatte damals für ziemlich viel Ärger gesorgt. Jeder hatte sich plötzlich zu Wort gemeldet und Besserung gelobt. Die Polizei war zum Sündenbock erklärt geworden. Ein wirklich heißes Eisen, die rechte Szene …

Thamm klickte sich wieder ein paar Seiten zurück. Wo hatte es angefangen, diese Vermischung vom Stichwort Ausländer zu den Rechten? Es konnte doch nicht sein, dass die eine Sache automatisch mit der anderen zu tun hatte. Nein, der Gedanke lag viel zu nah, das war zu einfach!

Als die Bürotür geöffnet wurde, zuckte er leicht zusammen. Wolff. Und auf den stand also Jette. Nun gut, er sah ja auch nicht schlecht aus, so im Allgemeinen. Zumindest ist er nicht fett, ging es Thamm durch den Kopf.

„Du bist schon da?“, stellte Wolff erstaunt fest.

„Warum nicht?“, gab Thamm zurück.

„Ich dachte, weil du zu Fuß … ach, vergiss es.“ Er ließ sich schwer auf seinen Stuhl fallen. „Es sieht so aus, als ob wir kein bisschen voran gekommen wären. Zwei Leichen und wir tappen noch völlig im Dunkeln – Die Fachhochschule hat zwar einen Wachdienst, aber der kontrolliert nur die Gebäude, nicht das Gelände. Keiner will irgendwas bemerkt haben. Toll, nicht wahr?“

„Ganz so dramatisch würde ich das jetzt nicht sehen“, meinte Thamm. Wenn er eins hasste, dann fatalistisch veranlagte Pessimisten.

„Wieso, bist du an was dran?“, fragte Wolff interessiert.

„Das nun nicht gerade“, räumte Thamm ein, „aber es ist jetzt kurz vor zwölf Uhr. Wir sind erst seit knapp vier Stunden am Ball. Ich denke, wir können jetzt mal in aller Ruhe die Karten auf den Tisch legen und dann sehen wir weiter.“

Wie auf Kommando sprang Wolff auf und zerrte dieses dämliche Flipchart aus der Ecke, das Hoffmann früher immer als Garderobe benutzt hatte – und das nur deshalb noch nicht entsorgt worden war. Kein Mensch brauchte so einen überkandidelten Schwachsinn! Wenn sie wirklich mal was veranschaulichen wollten, hatten Hoffmann und Thamm ihr Material einfach auf dem Fußboden ausgebreitet und so lange angestarrt, bis ihnen die zündende Idee gekommen war. Dafür brauchten sie keinen Filzstift und kein Riesenplakat.

Nun aber verfolgte Thamm aufmerksam Wolffs künstlerische Ergüsse, die er an dem Papier ausließ. Zuerst zeichnete er einen großen Kreis, links und rechts davon zwei kleinere.

„Was wird denn das, wenn’s fertig ist?“, fragte Thamm.

„Pass auf. Das hier ist die Innenstadt, okay? Im Osten“, meinte er und deutete auf den rechten Kreis, „fließt die Saale lang. Dort findest du gestern Abend am Rand vom Schlossgarten die erste Leiche. Und heute Morgen dann den zweiten Toten im Südpark!“ Wolff stach mit dem Stift in den linken Kreis. „Fällt dir was auf?“

Thamm dämmerte, worauf sein Kollege hinauswollte. „Du meinst, beide Leichen wurden im Umkreis der Innenstadt abgesetzt, in Parks und irgendwie im Wasser?“

Wolff zuckte mit den Schultern. „Zumindest ist die Ähnlichkeit doch auffallend, oder? Die Frage ist nur, ob das was zu bedeuten hat oder Zufall ist.“

Thamm hob abwehrend die Hände. „Ordnen wir erst mal die Fakten – Sind wir uns einig, dass wir es mit einem Einzeltäter zu tun haben, der mehrmals zuschlug?“, fragte er. Wolff deutete vage Zustimmung an. „Gut“, gab sich Thamm zufrieden. „Er hat also zwei Typen erschlagen. Im Affekt, panisch, ohne Sinn und Verstand. Was macht nun so ein Kerl mit zwei Leichen? Er ist überfordert, sticht denen noch mal ein bisschen Luft in den Rücken, aber dann? Und siehst du, da komme ich nicht mehr mit. So voll neben der Spur müsste er doch die Leichen irgendwo eilig verschwinden lassen. Ohne groß nachzudenken. Vielleicht verbuddelt er sie oder verbrennt sie oder zerhackt sie meinetwegen und friert sie ein. Aber warum lässt er uns über sie stolpern? Erst panisch – dann voller Kalkül: Da haut was nicht hin.“

„Deine Grundannahme“, warf Wolff lächelnd ein. „Wer sagt denn, dass der Täter in Panik gemordet hat? Nur weil er wie ein Berserker auf seine Opfer eingeschlagen hat? Er könnte das aber auch ganz bewusst gemacht haben.“

„Noch mal eins nach dem anderen“, forderte Thamm.

„Er metzelt seine Opfer nieder, weil sie ihm nichts bedeuten. Er hat kein Mitleid mit ihnen, er weiß nicht mal, was ausreichen würde, um sie umzubringen. Die erste Leiche wirft er in die Saale. Sie soll einfach nur verschwinden. Bei der zweiten geht er einen Schritt weiter. Die wirft er in das Schweinegehege. Warum? Damit zeigt er, dass die Toten für ihn keine Menschen sind. Sie sind …“

„Und die Einstiche?“, hakte Thamm nach.

„Noch ein Anzeichen, dass der Täter eine gestörte Wahrnehmung hat. Er erschlägt seine Opfer und ist sich trotzdem nicht sicher, ob sie tot sind. Mit Panik hat das nichts zu tun.“

„Ein Psychopath also“, murmelte Thamm. Das hatte ihm noch gefehlt. Die tickten nach ihrer eigenen Uhr – das machte sie zwar berechenbar, aber ihr Handlungsmuster musste man erst mal erkennen! Und mit so einem Kerl hatte es Thamm bisher noch nie zu tun gehabt.

Wolff ging nicht darauf ein. „Kommen wir mal zum zweiten Fundort. Der erste gibt ja nicht sonderlich viel her. Aber über den Südpark wissen wir mehr. Der Täter kam nachweislich von Westen, sehr wahrscheinlich über den Campus der Hochschule. Aber woher er eigentlich kam, wo er sein Auto abgestellt hat und wohin er wieder abgehauen ist, wissen wir nicht.“

Thamm war von Wolffs ernüchternder Analyse enttäuscht. Obwohl er wusste, dass nicht mehr rauszuholen war aus den dürren Anhaltspunkten, die vorlagen, hatte er sich doch etwas mehr erhofft.

„Und die Tatzeit?“, fragte er.

Wolff zeichnete nun zwei Figuren auf das Plakat. Neben die eine schrieb er das Wort „Nachtwächter“, neben die andere „Pfleger“. „Die letzte Kontrolle des Parks fand ab vier Uhr statt“, erklärte er. „Der Wächter meinte, dass er seine Runde vorn am Eingang begonnen hat, also spätestens viertel fünf bei den Wildschweinen gewesen ist.“ Wolff notierte die Uhrzeit neben die eine Figur.

„Da hat er noch nichts Merkwürdiges gesehen. Aber es war noch dunkel und so genau hat er auch nicht in das Gehege reingeschaut, kurz: Er ist sich nicht sicher, ob die Leiche schon da war oder nicht. Zumindest hat er niemanden kommen oder gehen gesehen.“ Wolff umrahmte die Ziffer auf dem Plakat.

Thamm seufzte auf. „Also können wir die Zeit nicht eingrenzen.“

„Nur nach oben hin“, sagte Wolff. „Der Pfleger traf um acht am Schweinegehege ein, sah die Leiche kurz darauf und verständigte die Polizei. Die war dann gegen dreiviertel neun vor Ort, wir kurz nach neun.“ Wolff hatte alle Uhrzeiten peinlich genau untereinander geschrieben und steckte nun den Stift wieder in die Hülle. „Wir haben also eine Tatzeit zwischen viertel fünf und dreiviertel acht, wenn wir optimistisch sind.“

„Was die Platzierung der Leiche angeht“, berichtigte Thamm. „Die wurde aber woanders und somit auch früher ermordet. Heißt also im Klartext: Leiche Nummer eins wurde am Sonntagabend ermordet und trieb bis Montagabend in der Saale. Leiche Nummer zwei muss sich Krause erst noch ansehen, wurde aber irgendwann heute Morgen im Park abgelegt. Wunderbar“, seufzte Thamm.

Wolff besah sich seine Skizze. „Irgendwo da draußen ist also aller Wahrscheinlichkeit nach ein Auto mit einem total blutverschmierten Kofferraum oder ähnliches und wir haben keine Ahnung, wo.“

„Wir wissen überhaupt ziemlich viel nicht“, meinte Thamm. „Wir haben keinen Täter, keinen Tatort, unzuverlässige Zeiten. Nur zwei Leichen. Das ist alles.“

„Warum sperrst du dich eigentlich so gegen einen rechten Hintergrund?“, fragte Wolff plötzlich. Sein direkter Blick störte Thamm irgendwie. Was sollte das jetzt bitte schön heißen?

„Du hast nicht einmal zum Thema gemacht, dass die beiden Toten asiatischer Abstammung sind“, meinte Wolff immer noch in diesem vorwurfsvollen Ton. „Willst du es nicht wahrhaben oder bremst dich was?“

„Stopp mal!“, rief Thamm erregt. „Hast du nicht selbst gesagt, dass wir einen Psychopathen suchen? Ich denke, unser Herr Profilersteller hat schon seinen Täterkreis!“

„Ja, wir suchen einen männlichen, psychisch schwer gestörten Täter mittleren Alters, der gelernt hat, seine Macke zu verbergen. Aber das schließt doch ein rechtes Motiv nicht zwangsläufig aus. Ich meine, wir wissen nicht, was ihn antreibt und ob noch weitere Opfer kommen. Also sollten wir möglichst breit angelegt ermitteln. Denkst du nicht?“

„Ich finde das zu offensichtlich, zu sehr Klischee. Kaum ist ein Ausländer tot, schreien alle nach den Rechten. Viel wahrscheinlicher ist eine Beziehungstat, irgendwas im Bekanntenkreis …“

„Klingt nach Ausflucht“, unterbrach ihn Wolff gelangweilt.

„Oder nach Erfahrung“, beharrte Thamm. „Und selbst wenn: So ein Abstecher nach rechts ist keine Kleinigkeit.“

Wolff sah ihn mit großen Augen an. „Hast du etwa – Angst?“

„Kein bisschen“, meinte Thamm. „Ich möchte dich nur ganz höflich darauf aufmerksam machen, dass eine Ermittlung in diese Richtung enorm viel Staub aufwirbeln kann. Natürlich haben wir unseren Kontaktmann, den wir nur anzufunken brauchen. Aber wir haben auch ziemlich aufmerksame Lokalpolitiker und Möchtegernjournalisten, die nichts lieber tun würden, als uns genauestens auf die Finger zu schauen bei allem, was wir in dieser Hinsicht unternehmen. Da gibt es nur Fettnäpfchen für uns, egal was wir machen – und ich weiß nicht, ob wir bei deinem Einstand gleich so hoch pokern wollen.“

Wolffs Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. „Auf mich brauchst du keine Rücksicht nehmen. Von mir aus – nur zu!“

Thamm traute seinen Ohren nicht. War das der Sesselfurzer aus der Direktion? Wolff hatte wohl zu viel Frischluft geschnuppert. Konnte man mit dem was riskieren? Aber immerhin zeigte er schon einiges an Courage, wenn er von Anfang an aufs Ganze gehen wollte …

„Wenn du Richtung rechts gehst, beacker ich deine Theorie vom Bekanntenkreis“, erklärte sich Wolff nun bereit. „Krause wird uns ja zumindest die Identität von dem einen Toten wegen der Zähne bald verraten können. Immerhin ein Anfang.“

Schweigen.

Endlich, dachte Thamm, denn eigentlich war genug gequatscht worden. Es lag nun an ihm, die ganze Sache abzusegnen. Immer schön entspannt und nach den Spielregeln – oder gleich mal richtig auf die Kacke hauen? Lust hatte er ja schon, es mal so richtig krachen zu lassen. Zwei Morde – da schien doch ein Mindestmaß an Druck angebracht, oder?

6. KAPITEL

Jörg Reschke hieß der Mann.

Der war eine feste Größe im mittleren Spielfeld bei den Rechten, der kannte die braven Spießbürger mit ihren verdeckten braunen Ansichten ebenso wie die Glatzköpfe, denen man lieber nicht nachts auf der Straße dumm kam.

Reschke war seit Jahren für die Polizei aktiv, auch wenn er sich in letzter Zeit darauf beschränkt hatte, ziemlich nebulöse Andeutungen von sich zu geben. Was er mitzuteilen hatte, war immer unbrauchbarer für die Kollegen geworden, hatte Thamm in Erfahrung gebracht. Er selbst hatte noch nie mit Reschke zusammengearbeitet, aber zweifelsohne wurde der Kontaktmann bei den Nazis allmählich ausgebootet und somit auch für die Polizei unattraktiv.

Einem Treffen hatte Reschke umso bereitwilliger zugestimmt – obwohl er Thamm nicht vertrauen konnte. Es gab keine Beziehungen zwischen den beiden Männern. Ganz klar, hier klammerte sich jemand an den letzten Strohhalm: Wenn Reschke wirklich von beiden Seiten fallengelassen würde, durfte er nicht mehr mit Schonung rechnen. Die Nazis könnten ihn als mögliche undichte Stelle anfeinden und die Polizei würde in diesem Fall nicht eingreifen und ihn schützen können – weil dann genau dieser Verdacht der Spionage bestätigt wäre und Reschke erst recht Spießruten laufen würde.

Thamm empfand kein Mitleid mit dem wankenden Nazi. Der hatte sich doch selbst in diese Situation gebracht! Außerdem misstraute er ihm als Quelle. Wem das Wasser dermaßen bis zum Hals stand, der lieferte möglicherweise den eigenen Gegner, nicht aber den Gesuchten ans Messer der Polizei.

Nein, Thamm wollte auf der Hut sein und möglichst konzentriert auftreten. Er durfte sich nicht irre machen lassen, schon allein wegen der Toten nicht. Wer auch immer für deren Ermordung verantwortlich war, musste zur Rechenschaft gezogen werden. Das klang gut, dachte sich Thamm, richtig nach Polizeischule. Das Recht, es ging immer um das Recht – und auch ein bisschen um Gerechtigkeit. Dachte er an die Opfer, wurde ihm ein wenig christlich zumute, so als ob die Überführung des Mörders ihren Seelenfrieden wiederherstellen könnte. Ein recht netter Gedanke, der jedoch längst nicht alle Gefühle enthielt, die in dem Kommissar rumorten.

Da ganz hinten spürte Thamm noch etwas anderes. Er hatte versucht, es zurückzuhalten, weil er sich nicht auf diesen Trieb einlassen wollte – weil er befürchtete, unprofessionell zu werden – nicht in seinen Methoden, doch in seinen Motiven. Aber Wolff hatte daran gerührt, Wolff hatte ihn herausgefordert und genau an dieser unbequemen Empfindung gekitzelt: an seinem Jagdtrieb. Das war der eigentliche Grund, warum er zur Polizei gegangen war – doch nicht der Kampf für die Staatsordnung, vom Schreibtisch eines Provinzreviers aus! Wie albern das gewesen wäre. Nein, ihm ging es um das Aufspüren von Ungereimtheiten, um die kleinen Details – um das Lösen des Rätsels. Und um die Jagd nach einem Menschen.

Darüber konnte er sich glatt vergessen und wenn er auch zunächst noch seinen Drang nach dem Mehr an Information, dem Nähern an den Täter zurückhalten konnte und erst in Kleinarbeit allmählich zusammentrug und zusammenfügte – war da doch schon ein Lauern im Hintergrund, ein Abwarten vor dem endgültigen Zugriff. Und dieser sich immer wieder regende Zwang ließ Thamm gelegentlich vor sich selbst erschrecken. Dann redete er sich ein, dass das nur eine Berufskrankheit war. Wie andere eben die Rohrzange nicht aus der Hand legen konnten oder ihre ganze Verwandtschaft mit medizinischen Diagnosen versorgten. Es hatte halt jeder so seinen kleinen Tick, warum sollte er als Kleinstadtbulle da eine Ausnahme machen?

Aber in manchen Momenten nahm er sich diese Erklärung für das drängende Gefühl in sich nicht ab.

Thamm fuhr die Hallesche Straße runter, durch den Eisenbahntunnel in die Magistrale bis zum Bahnhof und dann in Richtung Innenstadt. Eine gute Gelegenheit, den Kopf mal ein bisschen frei zu bekommen. Ja, dachte er belustigt, die Arbeit hatte schon ihren Reiz.

Er staunte, wie gut gelaunt er gerade war – sicher, weil er sich trotz aller Bedenken doch viel von dem Gespräch mit Reschke erhoffte – denn eigentlich fuhr er nicht so gerne durch diesen Teil der Stadt. Das Elend fing gleich hinter der Hauptpost an und zog sich genau genommen bis hoch zum Krummen Tor, vors Schloss. Gutbürgerlich sah eindeutig anders aus, schoss es Thamm durch den Kopf, als er in die Bahnhofstraße bog, die ihn tief hinein in die Altstadt führte. Okay, da bröckelte der Putz von der katholischen Kirche, die Buchhandlung Stollberg träumte seit Jahrtausenden ein Stück weiter runter, dazu ein paar kleinere Läden und so weiter – alles ganz nett und richtig Kleinstadt. Aber jetzt hatte auch die Bäckerei hier dichtgemacht und sonst gab es nur noch diese Schmuddelläden mit ihren Handys und Billigklamotten und dem ganzen Müll. Und dieses komplette Elend überragte nur das Tivoli-Center mit seinem Apothekenarsenal und seinen tattrigen Bewohnern. Nicht gerade rosige Aussichten.

Mit der Stadt ging es ganz schön abwärts. Früher die Kriegsruinen, die sich bis über die Wende gehalten hatten, und jetzt der Leerstand. Alles wurde irgendwie ein bisschen kleiner von Jahr zu Jahr – Oder hatte es hier schon immer so scheiße ausgesehen? Thamm wusste nicht, ob er seinen vagen Kindheitserinnerungen glauben sollte.

Er ratterte über die Straßenbahnschienen, die in die Hölle führten – es hatte ihn schon als Teeny amüsiert, dass man die Kirche nur durch eine Straße erreichte, die Hölle hieß. Hier, in dem gleichnamigen Imbiss direkt auf der Ecke, war er mit dem Informanten verabredet. Was für eine Freude! Wo sich Thamm sonst von solchen Gestalten lieber fernhielt – nicht aus Berührungsangst, das war blanke Abscheu. Aber diesmal ließ es sich eben nicht umgehen.

Viel war nicht gerade los an der Essentheke von dem Laden. An den massiven Stehtischen drückten sich nur ein paar Hanseln zum verspäteten Mittag rum und die ausladende Kassiererin kam ganz gut mit den Bestellungen hinterher.

Thamm stellte sein Rad an den Resten der alten Stadtmauer ab, sah sich etwas suchend unter den Leuten um, aber niemand erwiderte seine Blicke. Also bestellte er an der Theke Currywurst und wählte einen Tisch, der etwas abseits stand. Jetzt könnte der Kerl aber wirklich mal langsam kommen, immerhin wollte er hier keine Wurzeln schlagen.

Er war er noch nicht mal beim dritten Wurststück angekommen, da hörte er eine dunkle Stimme hinter sich: „Thamm?“ Erwartungsvoll drehte er sich um – das also war Reschke. Oh mein Gott, ging es Thamm sofort durch den Kopf, da taten sich ja gleich hundert Schubladen auf bei diesem Anblick. Jörg Reschke war ein abgewrackter, ins Dickliche gealterter Schlägertyp. Das Stoppelhaar kaschierte kaum eine breit angelegte Glatze, im Gesicht hingen zwei träge Hamsterbacken um einen dünnen, femininen Mund.

Kleiner Murmelkopf auf fülligem Körper, Lederjacke, kräftiger Händedruck mit Fleischerfingern. Und mit dem sollte er sich jetzt die nächste Zeit vertreiben, dachte Thamm voller Selbstmitleid.

„Ich hol mir auch erst mal was“, erklärte Reschke und deutete auf die Speiseluke am Imbiss. Und war schon auf dem Weg, um kurz darauf mit einer Bratwurst und einem Pils wieder an Thamms Tisch aufzuschlagen.

„Also, es geht dir um das Fidschischwein“, setzte Reschke an und biss so kraftvoll in seine Wurst, dass er sich hinterher ein paar Fettspritzer vom Handrücken wischen musste. Mit malmenden Backen beobachtete er Thamm, der sich zu einem schmalen Lächeln durchrang. Wie kam der Scheißer dazu, ihn zu duzen?

„Ich bevorzuge Toter als Bezeichnung. Oder Leiche, je nachdem, von welchem Ende Sie das sehen wollen“, meinte Thamm mit größter Beherrschung und versuchte, Reschke nicht beim Kauen anzusehen. Stattdessen stocherte er zunehmend lustlos in seiner Currysoße.

„Aber das ist doch ein Fidschi, oder?“, ereiferte sich Reschke belustigt. „Ich meine, deshalb braucht ihr mich doch jetzt, wahr? Weil das morgen bestimmt im Lokalteil steht und alles ziemlich naheliegend ist, wahr? Darum geht’s doch. War’s ein Rechter und wenn ja, welcher? Das wollt ihr doch jetzt wissen.“ Reschke fraß mit halboffenem Mund weiter. Thamm ließ ihn machen. Sollte der sich ruhig erst mal warmreden, dann würde er später vielleicht mehr rausrücken. Und Reschke war nun wirklich keiner von der stillen Truppe. „Guck dir das doch nur mal hier alles an“, forderte er Thamm auf und zeigte mit seiner angebissenen Bratwurst in die Landschaft. „In jedem scheiß Laden da drüben sitzt einer von denen. Ist doch komisch, dass die sich die Mieten in der Innenstadt leisten können und andere nicht.“

Und damit war bei Thamm schon wieder der Ofen aus. Das wurde ihm jetzt doch zu dumm, schneller als erwartet. Er war doch nicht hergekommen, um sich solche abgedroschenen Stammtischparolen anzuhören, verdammt nochmal! „Herr Reschke, kommen Sie jetzt mal zur Sache“, knirschte er hervor. „Mir geht es um den Fall. Und mir wurde gesagt, dass Sie …“

Reschke sah ihn verärgert an. Die Bühne war weg. Der Kommissar ließ sich keine Vorträge halten. „Ich mein ja nur“, maulte er rum. „Sag das nur mal so vor mich hin. Man wird ja wohl noch laut denken dürfen. Das an der Saale und da im Südpark ist natürlich eine riesige Schweinerei. Das kann auch nicht die Lösung sein für dieses Ausländerproblem, echt nicht. Aber ich meine nur, dass ich so die generelle Meinung in der Bevölkerung verstehen kann.“

War ja rührend, wie der sich Sorgen um das Allgemeinwohl machte, dieser blöde Fettsack. Dass die immer einen auf Stimme des Volkes machten, kotzte Thamm ordentlich an. Und dann noch dieser bekloppte Reschke mit seinen drei grauen Windungen im Hirn – der rückte nun noch ein bisschen näher an Thamm heran. Der Gestank von Zigarette und Lederjacke stieg dem Kommissar in die Nase. Gott, das wurde ja immer besser, dachte er angewidert.

„Die Szene ist ziemlich durcheinander, musst du wissen“, raunte Reschke vertraulich. „Da sind Flügelkämpfe, unter der Oberfläche, versteht sich. Ein paar von den ganz Verrückten wollen das Ganze ein bisschen radikaler aufziehen, wollen präsenter in der Öffentlichkeit sein. Straßenkämpfe gegen links, stärker Position beziehen, mehr Druck nach vorn, gegen die Ausländer.“ Reschke nahm einen großen Schluck Bier.

„Die anderen sind vernünftiger. Wollen sich als ganz normale Bürger zeigen, wie du und ich halt. Es geht denen um die Jugendclubs, um die bestimmten Schichten in Merseburg-Nord, um die Weststadt, den Neumarkt. Überall da, wo sonst keiner mehr ist, wollen die Stimmung machen. Aber auf die friedliche Art. Ganz allmählich, immer sachte. Aber das geht manchen eben zu langsam, den Radikalen. Und das ist unser Meinungsproblem, aber das kriegen wir auch noch hin.“

Thamm hatte es aufgegeben, weiteressen zu wollen. Resigniert warf er die Plastegabel in die rote Pampe. Reschke gab als Informant wirklich nicht mehr viel her. Das war ja alles nur allgemeines Gelaber ohne jeden brauchbaren Inhalt. So was konnte sich Thamm in jedem Zeitungsbericht zusammenlesen, wenn er wollte. Dafür brauchte er keinen Insider.

Nein, das hier hatte wirklich keinen Wert.

Da brodelte es im rechten Lager, die Radikalen gewannen immer mehr die Oberhand – alles schön und gut. Aber noch nicht genug. Reschke versuchte doch nur, seine Haut zu retten. Der stand mit seinem Streichelkurs bei den Nazis mit dem Arsch an der Wand und wollte jetzt wenigstens der Polizei nicht ganz abhanden kommen – genauso wie Thamm sich das schon gedacht hatte. Und nun? Eine letzte Anbiederung beim Kommissar?

Aber da wollte Thamm nicht mitspielen. Da konnte er höchstens noch mal abklopfen, mehr war nicht drin.

„Was du bis jetzt geliefert hast, ist nichts. Und glaub bloß nicht, dass wir dich für solchen Mist weiterbezahlen“, meinte Thamm mit halblauter Stimme. Es machte ihm ziemlich viel Spaß, Reschke so eiskalt abzufertigen – und mal zu zeigen, wer hier am längeren Hebel saß. „Entweder du nennst mir jetzt mal ein paar konkrete Namen oder ich streiche dich eigenhändig von unserer Gehaltsliste.“

Reschke stutzte. Mit dem halboffenen Mund sah er noch dämlicher aus als vorher. Aber hinter diesem teigigen, trägen Gesicht ratterte es, das konnte Thamm geradezu hören. Er hatte ihn richtig angepackt.

„Ich verrate keinen von unseren Jungs“, sagte Reschke schließlich, aber nicht gerade überzeugend. Er zögerte noch, ob er Thamms plötzliches Durchgreifen ernst nehmen sollte oder nicht. Aber er schwankte schon.

„Wie rührend“, fuhr Thamm unbeeindruckt fort. „Ob die dich auch noch lieb haben, wenn ich mal mit denen über dich schwatze? Was du so für die Polizei gemacht hast in deinen besten Jahren …“

„Drecksack“, zischte Reschke, aber Thamm kümmerte das nicht weiter. Er hatte ihn am Haken.

„Ich will Namen“, forderte er laut. „Und zwar pronto.“

Reschke sah sich unruhig um. „Geht’s vielleicht noch ein bisschen lauter? Mensch, wir sind doch nicht auf dem Rummel!“ Thamm wandte seinen Blick nicht ab. Komm schon, dachte er, spuck’s endlich aus. Und dann knickte Reschke ein.

„Hannes Koslowski“, sagte er leise. „Den würde ich an deiner Stelle mal fragen.“

Thamm sah ihn zweifelnd an. „Sonst keinen? Komm schon, du willst mir doch nicht sagen, dass bei euch nur einer am Rad dreht.“

„Versuch’s bei dem und du hast alle am Wickel“, sagte Reschke nur. „Und jetzt kannst du mich mal.“

Er wollte sich wohl noch den letzten Rest Wurst in den Kopf stecken, bevor er den großen Abgang hinlegte, aber anscheinend war ihm der Appetit vergangen. Er warf den Zipfel samt Brötchen verächtlich weg und ließ auch das Bier stehen. Ohne sich noch einmal nach Thamm umzusehen, machte er sich von dannen.

Koslowski also.

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