Kitabı oku: «Die Waffen nieder», sayfa 6
»Ihr seid ja dort in sehr eifriges Geflüster vertieft!« rief einmal beim Kartenmischen mein Vater zu uns herüber. »Was komplottiert ihr denn?«
»Ich erzähle der Gräfin Feldzugsgeschichten –«
»So? Das ist sie schon von Kindheit an gewohnt. Ich erzähle dergleichen auch zuweilen. Sechs Blatt, Herr Doktor, und eine Quartmajor –«
Wir nahmen unser Geflüster wieder auf.
Plötzlich, während Tilling sprach – er hatte seinen Blick wieder in den meinen gesenkt und aus seiner Stimme klang so inniges Vertrauen – fiel mir die Prinzessin ein.
Es gab mir einen Stich und ich wandte den Kopf ab.
Tilling unterbrach sich mitten in seinem Satz:
»Was machen Sie so ein böses Gesicht, Gräfin?« fragte er erschrocken; »hab' ich etwas gesagt, das Ihnen mißfallen?«
»Nein, nein ... es war nur ein peinlicher Gedanke. Fahren Sie fort.«
»Ich weiß nicht mehr, wovon ich sprach. Vertrauen Sie mir lieber Ihren peinlichen Gedanken an. Ich habe Ihnen die ganze Zeit über so offen mein Herz ausgeschüttet – vergelten Sie mir das.«
»Es ist mir ganz unmöglich, Ihnen das mitzuteilen, woran ich vorhin dachte.«
»Unmöglich? darf ich raten? ... Betraf es Sie?«
»Nein.«
»Mich?«
Ich nickte.
»Etwas Peinliches über mich, was Sie mir nicht sagen können? ... Ist es –«
»Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf; ich verweigere jede weitere Auskunft!« Dabei stand ich auf und blickte nach der Uhr.
»Schon halb zehn ... Ich werde dir jetzt adieu sagen, Papa –«
Mein Vater schaute von seinen Karten auf.
»Gehst du noch in eine Soiree?«
»Nein, nach Hause – ich bin gestern sehr spät zu Bett gegangen –«
»Und da bist du schläfrig? Tilling, das ist kein Kompliment für Sie.«
»Nein, nein,« protestierte ich lächelnd, »den Baron trifft keine Schuld ... wir haben uns sehr lebhaft unterhalten.«
Ich verabschiedete mich von meinem Vater und dem Doktor; Tilling bat sich die Erlaubnis aus, mich bis zu meinem Wagen zu geleiten. Er war's, der mir im Vorzimmer den Mantel umhing und der mir über die Treppe hinab den Arm reichte. Beim Hinuntergehen blieb er einen Moment stehen und fragte mich ernsthaft:
»Nochmals Gräfin, habe ich Sie etwa erzürnt?«
»Nein – auf Ehre.«
»Dann bin ich beruhigt.«
Indem er mich in den Wagen hob, drückte er fest meine Hand und führte sie an die Lippen.
»Wann darf ich Ihnen meine Aufwartung machen?«
»An Sonnabenden bin ich –«
Er verneigte sich und trat zurück.
Ich wollte ihm noch etwas zurufen, aber der Bediente schloß den Wagenschlag.
Ich warf mich in die Ecke zurück und hätte am liebsten geweint – Tränen des Trotzes, wie ein erbostes Kind. Ich war auf mich selber wütend: wie konnte ich nur so kalt, so unhöflich, so beinahe grob mit einem Menschen sein, der mir so warme Sympathie einflößte ... Daran war diese Prinzessin schuld – wie ich die haßte! Was war das? ... Eifersucht? Jetzt blitzte mir das Verständnis dessen auf, was mich bewegte: ich war in Tilling verliebt – – –
»Verliebt, liebt, liebt« rasselten die Räder auf dem Pflaster, »du liebst ihn,« leuchteten mir die vorüberfliegenden Straßenlaternen zu – »du liebst ihn,« duftete es mir aus dem Handschuh, den ich an meine Lippen führte – an der Stelle, die er geküßt.
* * *
Tags darauf trug ich in die roten Hefte folgende Zeilen ein: »Was mir gestern die Wagenräder und die Straßenlaternen sagten, ist nicht wahr, oder doch zum mindesten sehr übertrieben. Ein sympathischer Zug zu einem edlen und gescheiten Menschen! – ja; aber Leidenschaft? – nein. Ich werde doch mein Herz nicht so hinschleudern an jemand, der einer anderen gehört. Auch er empfindet Sympathie für mich – wir verstehen uns in vielen Dingen; vielleicht bin ich die einzige, der er seine Gedanken über den Krieg mitteilt – aber darum ist er noch lange nicht verliebt in mich – und ebensowenig darf ich es in ihn sein. Daß ich ihn nicht aufforderte, mich an einem anderen Tage als an den ihm so verhaßten Empfangstagen zu besuchen, mochte wohl nach dem vorausgegangenen, vertrauensvollen Gedankenaustausch etwas unfreundlich geschienen haben ... Aber es ist vielleicht besser so. Wenn nur erst ein paar Wochen über die geistigen Eindrücke, die mich so tief erschüttert haben, verstrichen sind, dann werde ich Tilling wieder ganz ruhig begegnen können, mit der Idee vertraut, daß er eine andere liebt und mich harmlos an seinem freundschaftlichen und geistanregenden Umgang erlaben. Denn es ist wahrhaft ein Vergnügen, mit ihm zu verkehren – er ist so anders, so ganz anders als alle anderen. Ich bin wirklich froh, daß ich das heute so gelassen konstatieren kann – gestern mußte ich einen Augenblick schon fürchten, daß es um meine Ruhe geschehen sei, und daß ich die Beute quälender Eifersucht würde ... heute ist diese Furcht verflogen.«
Am selben Tage besuchte ich meine Freundin Lori Griesbach – dieselbe, bei der ich den Tod meines armen Arno erfahren. Sie war unter den jungen Frauen meiner Bekanntschaft diejenige, mit welcher ich am meisten und am intimsten verkehrte. Nicht, daß wir in vielen Hinsichten übereinstimmten, oder daß wir uns gegenseitig vollkommen verstanden – wie dies doch die Grundlage echter Freundschaft sein soll; – aber wir waren als Kinder Gespielinnen, als jung verheiratete Frauen Stellungsgenossinnen gewesen; hatten damals fast täglich verkehrt und so war eine gewisse Gewohnheitsvertraulichkeit zwischen uns entstanden, welche trotz so mancher Grundverschiedenheit unserer Wesen – unseren gegenseitigen Umgang zu einem recht angenehmen und gemütlichen gestaltete. Es war ein gewisses, engbegrenztes Gebiet, auf dem wir uns begegneten, aber auf dem anderen waren wir einander aufrichtig gut. Ganze Seiten meines Seelenlebens blieben ihr ganz verschlossen. Von den An- und Einsichten, zu welchen ich in meiner stillen Studierzeit gelangt war, hatte ich ihr nie ein Wort mitgeteilt und fühlte auch kein Bedürfnis dazu. Wie selten kann man sich einem Menschen ganz geben! Das habe ich recht oft im Leben erfahren, daß ich dem einen nur diese, dem anderen nur jene Seite meiner geistigen Persönlichkeit erschließen konnte; daß, so oft ich mit diesem oder jenem verkehrte, sozusagen ein gewisses Register sich aufzog, die ganze übrige Klaviatur aber stumm blieb.
Zwischen Lori und mir gab es der Gegenstände genug, die uns zu stundenlangem Plaudern Stoff boten: unsere Kindheitserinnerungen, unsere Kleinen, die Ereignisse und Vorkommnisse unseres Gesellschaftskreises, Toilette, englische Romane und dergleichen mehr.
Loris Knabe, Xaver, war im Alter meines Sohnes Rudolf und dessen liebster Spielkamerad, und Loris Töchterchen, Beatrix, damals zehn Monate alt, wurde scherzweise von uns bestimmt, einst Gräfin Rudolf Dotzky zu werden.
»Sieht man dich endlich wieder!« empfing mich Lori. »Du bist ja in letzter Zeit ganz Einsiedlerin geworden. Auch meinen künftigen Schwiegersohn habe ich schon lange nicht die Ehre gehabt bei mir zu sehen – Beatrix wird das sehr übelnehmen ... Jetzt erzähle, Kind, was treibst du? ... Und wie geht es Rosa und Lilli? Für Lilli habe ich übrigens eine interessante Nachricht, die mir mein Mann gestern aus dem Kaffeehaus mitgebracht: es ist einer sehr verliebt in sie, einer, von dem ich glaubte, er machte dir die Cour ... doch das erzähle ich später. Was du da für ein hübsches Kleid hast – von der Francine, nicht wahr? Das habe ich gleich erkannt – sie hat doch ein eigentümliches Cachet ... Und der Hut von Eindreau? Steht dir allerliebst ... Er macht jetzt auch Kostüme, nicht nur Hüte ... auch mit ungeheurem Geschmack. Gestern abend bei Dierichstein – warum bist du nicht gekommen? – hatte die Nini Chotek eine Eindreausche Toilette an und sah beinahe hübsch aus ...«
So ging es eine Zeitlang fort und ich antwortete im selben Tone. Nachdem ich das Gespräch geschickt auf die in der »Welt« kursierenden Klatschereien gelenkt, stellte ich in möglichst unbefangener Weise die Frage:
»Hast du auch gehört, daß, Prinzessin*** ein Verhältnis mit – mit einem gewissen Baron Tilling haben soll?«
»Ich habe so etwas gehört – aber jedenfalls ist das de l'histoire ancienne. Heute ist es eine allbekannte Sache, daß die Prinzessin für einen Burgschauspieler schwärmt. »Interessierst du dich etwa für diesen Baron Tilling? Du wirst rot? Da hilft kein verneinendes Kopfschütteln – beichte lieber! Es ist ohnedies unerhört, daß du so lang kalt und gefühllos bleibst ... es wäre mir eine wahre Genugtuung, dich einmal verliebt zu wissen ... Freilich, eine Partie für dich wäre Tilling nicht – da hast du glänzendere Bewerber – er soll gar nichts haben. Nun, du bist selber reich genug – aber er ist auch zu alt für dich ... Wie alt wäre jetzt der arme Arno? ... Das war doch gar zu traurig damals ... den Augenblick werde ich nie vergessen, da du mir meines Bruders Brief vorgelesen ... Ja, es ist doch eine schlimme Einrichtung, der Krieg ... Für manche – für andere ist er eine wunderschöne Einrichtung: Mein Mann wünscht sich nichts sehnlicher, als daß es bald wieder zu etwas käme; er möchte sich so gern auszeichnen. Ich begreife dies – wenn ich ein Soldat wäre, würde ich mir auch wünschen, eine Großtat machen zu können, oder doch in der Karriere vorwärts zu kommen –«
»Oder verkrüppelt oder totgeschossen zu werden?«
»Daran dächt' ich nie. Daran soll man nicht denken – und es trifft ja doch nur die, denen es bestimmt ist. – So war es deine Bestimmung. Herz, eine junge Witwe zu werden.«
»Darum mußte der Krieg mit Italien ausbrechen?«
»Und wenn es meine Bestimmung ist, die Frau eines verhältnismäßig jungen Generals zu sein –«
»So muß es nächstens zu einem Völkerkonflikt kommen, damit Griesbach schnell avancieren könne? Du zeichnest der Weltordnung einen sehr einfachen Lauf vor. – Was wolltest du mir mit Bezug auf Lilli erzählen?«
»Daß euer Vetter Konrad für sie schwärmt. Ich vermute, er wird nächstens um sie anhalten.«
»Das bezweifle ich. Konrad Althaus ist ein viel zu flatterhafter und toller Bursch', um ans Heiraten zu denken.«
»Ach, toll und flatterhaft sind sie ja alle und heiraten doch, wenn sie sich vernarren ... Glaubst du, daß er der Lilli gefällt?«
»Ich habe nichts bemerkt.«
»Es wäre eine sehr gute Partie. Wenn sein Onkel Drontheim stirbt, so erbt er die Herrschaft Selavetz. Apropos Drontheim – weißt du, daß der Ferdi Drontheim, derselbe, der sein Vermögen mit der Tänzerin Grill durchgebracht hat, jetzt eine reiche Bankierstochter heiraten soll? – Nun – empfangen wird sie doch niemand ... Kommst du heute abend zur englischen Botschaft? Wieder nicht? Eigentlich hast du recht – in diesen Gesandtschafts-Naouts fühlt man sich doch nicht so ganz unter sich: es sind so viele fremdartige Leute dabei, von denen man nicht sicher weiß, ob sie comme il faut sind; jeder durchreisende Engländer, der sich bei seinem Gesandten vorstellen läßt, wird da eingeladen – wenn es auch ein bürgerlicher Gutsbesitzer, oder gar Industrieller oder so etwas ist. Ich habe die Engländer nur in der Tauchnitz-Edition gern ... Hast du »Jane Eyre« schon ausgelesen? – nicht wahr, wunderhübsch? Wenn Beatrix zu sprechen anfängt, werde ich ihr eine englische Bonne nehmen ... Mit der Französin des Xaver bin ich gar nicht zufrieden ... Neulich bin ich ihr auf der Straße begegnet , wie sie dort Kleinen ausführte, und ein junger Mann – anscheinend ein Kommis – ging nebenher, in angelegentlichstem Gespräch mit ihr. Plötzlich stand ich vor ihnen – die Verlegenheit hättest du sehen sollen! Überhaupt, mit den Leuten hat man sein Kreuz! ... Da ist meine Jungfer, die hat mir gekündigt, weil sie heiratet – jetzt, wo ich sie gewohnt war – es ist nichts unausstehlicher, als neue Gesichter zum bedienen ... Was? Du willst schon fort?«
»Ja, liebes Herz – ich muß noch einige unaufschiebbare Besuche machen ...«
Und ich ließ mich nicht bewegen, auch »nur noch fünf Minuten« zu bleiben, obwohl die unaufschiebbaren Besuche erlogen waren. Sonst hatte ich es doch stundenlang ausgehalten, solch inhaltloses Geplapper anzuhören und mitzuplappern – aber an diesem Tage widerte es mich an. Eine Sehnsucht ergriff mich: ... Ach nur wieder so ein Gespräch wie gestern abend – ach Tilling – Friedrich Tilling ... Die Wagenräder hatten also doch recht mit ihrem Refrain! ... Es war eine Wandlung mit mir geschehen – ich war in eine andere Gefühlswelt hinaufgehoben; diese kleinlichen Interessen, in welche meine Freundin so ganz vertieft war: Toiletten, Bonnen, Heirats- und Erbschaftsgeschichten aus der Gesellschaft – das war doch gar zu nichtig, zu erbärmlich, zu erstickend ... Hinaus, hinaus in eine andere Lebensluft! Und Tilling war ja frei: die Prinzessin »schwärmt für einen Burgschauspieler« ... Die hat er wohl nie geliebt ... ein vorübergehendes – ein vorübergegangenes Abenteuer, weiter nichts.
Es verstrichen mehrere Tage, ohne daß ich Tilling wiedersah. Jeden Abend ging ich ins Theater und von da in eine Soiree, in der hoffenden Erwartung ihm zu begegnen, aber vergebens.
Mein Empfangstag brachte mir viele Besuche, aber natürlich nicht den seinen. Den hatte ich auch nicht erwartet. Es sah ihm nicht ähnlich, nach seinem bestimmten »Gräfin, das dürfen Sie mir nicht zumuten« und seinem am Wagenschlag gesagten »Ich verstehe – also gar nicht« sich dennoch an einem solchen Tage bei mir einzufinden.
Ich hatte ihn an jenem Abend gekränkt, daß war gewiß; und er vermied es, mit mir zusammenzukommen, das war offenbar. Allein, was konnte ich tun? Ich brannte danach, ihn wiederzusehen, meine damalige Unfreundlichkeit wieder gut zu machen und eine neue solche Plauderstunde zu erleben wie jene in meines Vaters Haus; eine Plauderstunde, deren Reiz mir jetzt noch hundertfach erhöht worden wäre, durch das mir nunmehr klar gewordene Bewußtsein meiner Liebe.
In Ermangelung Tillings brachte mir der nächstfolgende Sonnabend doch wenigstens Tillings Cousine – dieselbe, auf deren Ball ich ihn kennen gelernt. Als sie eintrat, fing mir das Herz zu pochen an; jetzt konnte ich doch wenigstens etwas von demjenigen erfahren, der meine Gedanken so beschäftigte. Ich brachte es jedoch nicht über mich, eine diesbezügliche Frage zu stellen; ich fühlte, daß ich nicht imstande wäre, den gewissen Namen auszusprechen, ohne verräterisch zu erglühen und so unterhielt ich meine Besucherin von hundert verschiedenen Dingen – unter anderen auch vom Wetter – aber nur nicht von dem, was ich auf dem Herzen hatte.
»Ah, Martha,« sagte jene unvermittelt, »ich habe eine Post an Sie zu bestellen: mein Vetter Friedrich läßt Sie grüßen – er ist vorgestern abgereist.«
Ich fühlte, daß mir das Blut aus den Wangen wich.
»Abgereist? Wohin? Wurde sein Regiment versetzt?«
»Nein ... er hat nur einen kurzen Urlaub genommen, um nach Berlin zu eilen, wo seine Mutter auf dem Sterbebette liegt. Der Arme, er dauert mich; denn ich weiß, wie er seine Mutter vergöttert.«
Nach zwei Tagen erhielt ich einen Brief von unbekannter Hand, mit dem Poststempel Berlin. Noch ehe ich nach der Unterschrift geschaut, wußte ich, daß das Schreiben von Tilling kam. Es lautete:
»Berlin, Friedrichstr. 8, 30. März 1863. 1 Uhr nachts.
Teure Gräfin! Ich muß jemandem klagen ... Warum gerade Ihnen? habe ich ein Recht dazu? Nein – aber den unwiderstehlichen Drang. Sie werden mir nachfühlen – ich weiß es.
Hätten Sie die Sterbende gekannt. Sie würden sie geliebt haben. Dieses weiche Herz, dieser helle Verstand, diese heitere Laune, diese Hoheit und Würde – und das alles soll jetzt ins Grab – keine Hoffnung!
Ich habe den ganzen Tag an ihrem Lager verbracht und werde auch die Nacht über hier bleiben – ihre letzte Nacht ...
Sie hat viel gelitten, die Arme. Jetzt ist sie ruhig – die Kräfte schwinden, der Pulsschlag hat beinah schon aufgehört ... Außer mir wachen noch ihre Schwester und ein Arzt im Krankenzimmer.
Ach, diese schreckliche Zerreißung: der Tod! Man weiß doch, daß er alle fällen muß, und doch kann man's nie recht fassen, daß er auch unsere Lieben hinraffen darf. Was mir diese Mutter war, das vermag, ich nicht zu sagen.
Sie weiß, daß sie stirbt. Als ich ankam, heute morgen, empfing sie mich mit einem Freudenschrei:
– Also doch – sehe ich dich noch einmal, mein Fritz! Ich fürchtete so, du kämst zu spät.
– Du wirst ja wieder gesund werden, Mutter, rief ich. – Nein, nein – davon ist keine Rede, mein alter Bub'. Nimm diesem unserem letzten Beisammensein nicht die Weihe durch die üblichen Krankenbettvertröstungen. Sagen wir uns Lebewohl –
Ich fiel schluchzend an der Bettseite in die Knie.
– Du weinst, Fritz? Schau, ich sage dir auch nicht das üble »Weine nicht«. Es ist mir lieb, daß dir der Abschied von deiner besten alten Freundin leid tut. Das bürgt mir, daß ich lange unvergessen bleibe –
– So lang ich lebe, Mutter!
– Erinnere dich dabei, daß ich viel Freude an dir gehabt. Außer der Sorge, die mir deine Kinderkrankheiten bereitet, und dem Bangen, während du im Kriege warst, hast du nur glückliche Gefühle verursacht und hast mir alles tragen helfen, was das Schicksal mir Trübes auferlegt. Ich segne dich dafür, mein Kind.
Jetzt kam wieder ein Anfall ihrer Schmerzen über sie. Wie sie jammerte und stöhnte, wie ihre Züge sich verzerrten – es war herzzerreißend. Ja, es ist ein fürchterlicher, grimmer Feind, der Tod ... und der Anblick dieser Agonie rief mir alle Agonien ins Gedächtnis, welche ich auf den Schlachtfeldern und in den Lazaretten gesehen ... Wenn ich denke, daß wir Menschen bisweilen willkürlich, frohgemut einander dem Tod entgegenhetzen, daß wir der vollkräftigen Jugend zumuten, diesem Feind sich willig zu ergeben, gegen den das müde und gebrechliche Alter sogar noch verzweifelt ringt, es ist – niederträchtig!
Diese Nacht ist schaurig lang ... Wenn die arme Kranke nur schlief – aber sie liegt mit offenen Augen da. Ich verbringe immer halbe Stunden lang regungslos an ihrem Lager, dann schleiche ich mich zu diesem Briefbogen, um ein paar Worte zu schreiben – dann wieder zurück zu ihr. So ist es schon vier Uhr geworden. Ich habe eben die vier Schläge von allen Glockentürmen hallen gehört – es mutet einem so kalt, so teilnahmslos an, daß die Zeit stetig unbeirrt durch alle Ewigkeit fortschreitet, während eben für ein heißgeliebtes Wesen die Zeit aufhören soll – für alle Ewigkeit. Aber je kälter, je teilnahmsloser das All sich zu unserm Schmerz verhält, desto sehnsüchtiger flüchten wir an ein anderes Menschenherz, von dem wir glauben, daß es mitfühlend schlägt. Darum hat mich das weiße Papierblatt, das der Arzt beim Rezeptschreiben auf dem Tische liegen ließ, herangelockt – und darum schicke ich das Blatt an Sie ...
7 Uhr. Es ist vorbei.
– Lebe wohl, mein alter Bub'. Das waren ihre letzten Worte. Darauf schloß sie die Augen und schlief ein. – Schlaf wohl, meine alte Mutter!
Weinend küßt Ihre lieben Hände Ihr zu Tode betrübter
Friedrich Tilling.«
Diesen Brief besitze ich noch. Wie zerknittert und verblaßt sieht das Blatt nicht aus! Nicht nur die verflossenen fünfundzwanzig Jahre haben diese Verwitterung verursacht, sondern auch die Tränen und Küsse, mit welchen ich damals die lieben Schriftzüge bedeckte. »Zu Tode betrübt« – ja – aber auch »himmelhochjauchzend« war mir zu Mute, nachdem ich gelesen. Deutlicher – obwohl kein Wort von Liebe darin stand – konnte kein Brief den Beweis erbringen, daß der Schreiber die Empfängerin – und keine andere – liebte. Daß er in solcher Stunde, am Sterbelager der Mutter, sein Leid nicht am Herzen der Prinzessin auszuweinen sich sehnte, sondern an dem meinen – das mußte doch jeden eifersüchtigen Zweifel ersticken.
Ich überschickte am selben Tage einen Totenkranz aus hundert großen weißen Kamelien, mit einer halberblühten roten Rose drin. Ob er wohl verstehen würde, daß die blassen, duftlosen Blumen der Dahingeschiedenen galten, als Symbole der Trauer, und das glutfarbige Röschen ihm? ...
* * *
Drei Wochen waren vergangen.
Konrad Althaus hatte um meine Schwester Lilli angehalten und einen Korb bekommen. Er nahm jedoch die Sache nicht tragisch und blieb wie zuvor ein eifriger Besucher unseres Hauses und umschwärmte uns in den Salons der Gesellschaft.
Ich drückte ihm einmal meine Verwunderung über seine unerschütterte Vasallentreue aus:
»Es freut mich sehr,« sagte ich, »daß du nicht zürnst; aber es beweist mir, daß dein Gefühl für Lilli doch kein so heftiges war, wie du vorgibst, denn verschmähte Liebe pflegt boshaft und nachträglich zu sein.«
»Du irrst, verehrteste Frau Cousine – ich habe die Lilli rasend gern. Zuerst glaubte ich, mein Herz gehöre dir; du hast dich aber so zurückhaltend kalt erwiesen, daß ich noch rechtzeitig die keimende Leidenschaft erstickte; dann hab' ich mich eine Zeitlang für Rosa interessiert; schließlich aber hat sich meine Neigung bei Lilli fixiert – und dieser Neigung werde ich jetzt treu bleiben – bis an mein Lebensende.«
»Sieht dir ganz ähnlich.«
»Lilli oder keine!«
»Da sie dich aber nicht will, mein armer Konrad?«
»Glaubst du, ich wäre der erste, der einen Korb bekommen, der sich bei derselben einen zweiten und dritten geholt und beim vierten Antrag angenommen wurde? – schon um der Zudringlichkeit ein Ende zu machen? ... Lilli hat sich nicht verliebt in mich, eine nicht ganz erklärliche – aber immerhin eine Tatsache. Daß sie unter so bewandten Umständen der für so viele Mädchen unwiderstehlichen Verlockung, Frau zu werden, widerstanden hat, und auf einen, vom weltlichen Standpunkt annehmbaren Antrag nicht eingegangen ist, das gefällt mir eigentlich sehr gut von ihr, und ich bin noch verliebter als zuvor. Nach und nach wird meine Anhänglichkeit sie rühren und Gegenliebe erwecken; dann sollst du noch meine Schwägerin werden, liebste Martha. Hoffentlich wirst du mir nicht entgegenwirken?«
»Ich? – o nein, im Gegenteil; mir gefällt dein Verharrungssystem. So sollte immer um uns geworben werden – mit Zeit- und Zärtlichkeitsaufwand – was die Engländer to woe and to win nennen. Aber minnen und gewinnen: dazu geben sich unsere jungen Herren wahrlich nicht die Mühe. Sie wollen ihr Glück nicht erst erringen, sondern es mühelos pflücken, wie eine Blume am Wegesrand!«
Tilling war seit vierzehn Tagen nach Wien zurückgekehrt – so hatte ich erfahren – doch kam er nicht zu mir. In. den Salons konnte ich natürlich kaum erwarten, ihm zu begegnen, da ihn seine Trauer von allen gesellschaftlichem Umgang fern hielt. Doch hatte ich gehofft, daß er zu mir kommen oder wenigstens mir schreiben würde; es verging aber ein Tag um den andern, ohne mir den erwarteten Besuch oder Brief zu bringen.
»Ich begreife nicht, was du hast, Martha,« so sprach mich eines Morgens Tante Marie an; »du bist seit einiger Zeit so verstimmt, so zerstreut, so, ich weiß nicht wie ... du hast sehr, sehr unrecht, daß du keinem deiner Bewerber Gehör schenkst. Dieses Alleinsein – das habe ich zu allem Anfang gesagt – taugt nicht für dich. Die Folge davon ist dieser Spleen, der dich jetzt auszeichnet. – Hast du schon deine österliche Andacht verrichtet? Das würde dir auch gut tun.«
»Ich denke, beides: heiraten und beichten, sollte aus Liebe zur Sache getan werden und nicht als Spleenkur. – Von meinen Bewerbern gefällt mir keiner, und was das Beichten betrifft –«
»So ist es höchste Zeit: morgen ist Gründonnerstag ... Hast du Billetts zur Fußwaschung?«
»Ja – Papa hat mir welche verschafft – aber ich weiß wirklich nicht, ob ich gehen werde.«
»O das mußt du – es gibt nichts Schöneres und Erhebenderes als diese Zeremonie ... der Triumph der christlichen Demut: Kaiser und Kaiserin auf dem Boden rutschend, um die Füße armer Pfründner und Pfründnerinnen zu waschen – symbolisiert das nicht so recht, wie klein und nichtig die irdische Majestät vor der göttlichen ist?«
»Um durch Niederknien Demut sinnbildlich darzustellen, muß man sich eben sehr erhaben fühlen. Es drückt aus: was Gott Sohn im Verhältnis zu den Aposteln, das bin ich, Kaiser zu den Pfründnern. Mir kommt dieses Grundmotiv der Zeremonie nicht gerade demütig vor.«
»Du hast kuriose Ansichten, Martha. In den drei Jahren, die du in ländlicher Einsamkeit und mit Lesen schlechter Bücher zugebracht hast, sind deine Ideen so verschroben worden.«
» Schlechte Bücher?«
»Ja, schlecht – ich halte das Wort aufrecht. Neulich, als ich in meiner Unschuld zum Erzbischof von einem Buch sprach, das ich auf deinem Tisch gesehen und das ich dem Titel nach für ein Andachtsbuch hielt: »Das Leben Jesu« von einem gewissen Strauß – da schlug er die Hände über dem Kopf zusammen und rief: ›Barmherziger Himmel, wie kommen Sie zu so einem ruchlosen Werk?‹ Ich wurde ganz feuerrot und versicherte, daß ich das Buch nicht selber gelesen, sondern nur bei einer Verwandten gesehen. ›Dann fordern Sie diese Verwandte bei ihrer Seligkeit auf, diese Schrift ins Feuer zu werfen.‹ Das tue ich hiermit, Martha. Wirst du dies Buch verbrennen?«
»Wären wir um zwei- oder dreihundert Jahre jünger, so könnten wir zusehen, wie nicht nur das Werk, sondern auch der Autor in Flammen aufginge. Das wäre wirksamer – momentan wirksamer – auch nicht für lang'...«
»Du antwortest mir nicht. Wirst du das Buch verbrennen?«
»Nein.«
»So kurzweg nein?« »Wozu lange Reden? Wir verstehen einander in dieser Richtung doch nicht, mein liebstes Tantchen. Laß dir lieber erzählen, was gestern der kleine Rudolf ...«
Und damit war das Gespräch glücklich auf ein anderes, sehr ergiebiges Thema gelenkt, wo es zu keiner Meinungsverschiedenheit zwischen uns kam; denn über die Tatsache, daß Rudolf Dotzky das herzigste, originellste, für sein Alter vorgeschrittenes Kind der Welt ist – darüber waren wir beide einig.
Am folgenden Tag entschloß ich mich doch, der Fußwaschung beizuwohnen. Etwas nach zehn Uhr, schwarz gekleidet, wie es sich für die Karwoche ziemt, begaben wir uns, meine Schwester Rosa und ich, in den großen Zeremoniensaal der Burg. Daselbst waren auf einer Estrade Plätze für die Mitglieder der Aristokratie und des diplomatischen Korps vorbehalten. Man war da also wieder unter sich und teilte rechts und links Grüße aus. Auch die Galerie war dicht gefüllt: gleichfalls Bevorzugte, welche Eintrittskarten erlangt hatten – aber doch etwas »gemischt«, nicht zur »Creme« gehörig, wie wir da unten, auf unserer Estrade. Kurz, die alte Kastenabsonderung und -bevorrechtung – anläßlich dieser Feier der symbolisierten Demut.
Ich weiß nicht, ob den anderen irgendwie religiös-weihevoll zu Mute war; aber ich erwartete das Kommende mit ganz derselben Empfindung, mit welcher man im Theater einem angekündigten Spektakelstück entgegensieht. Ebenso gespannt, wie man da – nachdem die Grüße von Loge zu Loge getauscht, den aufzurollenden Vorhang ansieht, schaute ich nach der Richtung, wo die Chöre und Solisten des bevorstehenden Schaugedränges erscheinen sollten. Die Dekoration war schon aufgestellt – nämlich die lange Tafel, an welcher die zwölf Greise und zwölf Greisinnen Platz zu nehmen hatten.
Ich war doch froh, gekommen zu sein; denn ich fühlte mich gespannt, was immerhin eine angenehme Empfindung ist, und eine Empfindung, welche momentan von kummervollen Gedanken befreit. Mein steter Kummer war der: »Warum läßt sich Tilling nicht sehen?« Jetzt hatte mich diese fixe Idee verlassen; was ich zu sehen erwartete und wünschte, waren die kaiserlichen und pfründnerischen Mitwirkenden der angesetzten Feier. Und gerade in diesem Augenblicke, wo ich seiner nicht dachte, fielen meine Augen auf Tilling. Soeben nach beendeter Messe waren die Hofwürdenträger in den Saal getreten, gefolgt von der Generalität und dem Offizierkorps; ich ließ meinen Blick gleichgültig über alle diese uniformierten Gestalten schweifen – dieselben waren ja nicht die Träger der Hauptrollen, sondern nur zum Ausfüllen der Bühne bestimmt – da plötzlich erkannte ich Tilling, der gerade unserer Tribüne gegenüber Aufstellung genommen hatte. Es durchzuckte mich wie ein elektrischer Schlag. Er sah nicht in unsere Richtung. Seine Miene trug die Spur des in den letzten Wochen durchgemachten Leides: es lag ein tieftrauriger Ausdruck in seinen Zügen. Wie gern hätte ich durch einen stummen, innigen Händedruck mein Mitgefühl ihm ausgedrückt! Ich ließ meinen Blick hartnäckig auf ihn geheftet, hoffend, daß dies durch eine magnetische Gewalt ihn zwingen würde, auch zu mir aufzuschauen – aber vergebens.
»Sie kommen, sie kommen!« rief Rosa, mich anstoßend. »So sieh doch hin ... Wie schön! Wie ein Gemälde!« Es waren die Greise und Greisinnen, angetan in altdeutsche Tracht, welche jetzt hereingeleitet wurden. Die jüngste von den Frauen – so hatten die Zeitungen berichtet – war achtundachtzig, der jüngste von den Männern fünfundachtzig Jahre alt. Runzlich, zahnlos, gebückt; – ich konnte Rosas »Ach wie schön« wahrlich nicht bestätigt finden. Was ihr gefiel, war jedenfalls die Verkleidung. Diese stimmte eigentlich auch vortrefflich zu der ganzen, von mittelalterlichem Geist durchwehten Zeremonie. Die Anachronismen hier waren wir, in unseren modernen Kleidern und mit unseren modernen Begriffen – wir paßten nicht in dies Gemälde.
Nachdem die vierundzwanzig Alten ihre Sitze an der Tafel eingenommen hatten, trat eine Anzahl goldgestickter und ordengeschmückter, zumeist ältlicher Herren in den Saal: – die Geheimen Räte und Kammerherren; viele bekannte Gesichter – auch Minister »Allerdings« befand sich darunter. Zuletzt folgten die Geistlichen, welche bei der feierlichen Handlung fungieren sollten. Jetzt also war der Einmarsch der Statisten vorüber und die Erwartung des Publikums auf das höchste gespannt.
Meine Augen waren jedoch nicht so starr, wie diejenigen der übrigen Zuschauer, nach jener Richtung geheftet, wo der Hof erscheinen sollte, sondern lehrten immer zu Tilling zurück. Dieser hatte mich nunmehr gesehen und erkannt. Er grüßte.
Wieder legte sich Rosas Hand auf meinen Arm: »Martha – ist dir unwohl? Du bist plötzlich blaß und rot geworden – schau'! ... jetzt! jetzt!!«
In der Tat: der Kapell – will sagen der Oberzeremonienmeister holt seinen Stab und gab das Zeichen, daß das Kaiserpaar nahe. Dies versprach nun allerdings einen lohnenden Anblick, denn abgesehen davon, daß es das höchste war – war es sicherlich eins der schönsten Paare im Lande. Mit Kaiser und Kaiserin zugleich waren auch mehrere Erzherzöge und Erzherzoginnen hereingekommen, und jetzt konnte die Feier beginnen. Truchsessen und Edelknaben trugen die gefüllten Schüsseln herbei, und der Monarch und die Monarchin stellten dieselben vor die sitzenden Alten hin. Das war wieder mehr Gemälde als je. Das Geräte und die Speisen und die Art der Pagen, dieselben zu tragen, erinnerte an verschiedene berühmte Bilder von Festgelagen im Renaissancestil.