Kitabı oku: «Courage. Im Schatten des Nanga Parbat 1934», sayfa 5

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Die Nationalsozialisten sahen in dem prestigeträchtigen Deutschen und Oesterreichischen Alpenverein mit seinen 240.000 Mitgliedern104 ein besonders begehrenswertes Ziel für eine politische Vereinnahmung. Der Alpenverein, gegründet 1869, wollte es dem 12 Jahre zuvor gegründeten britischen Alpine Club gleichtun. Während aber der britische Alpine Club eine exklusive Gesellschaft war, die ausschließlich wohlhabende Personen mit einem Nachweis von bergsteigerischen Leistungen aufnahm105, hieß das deutsch-österreichische Gegenstück alle Männer und Frauen willkommen, die an Bergen und Bergsteigen interessiert waren – unabhängig von Können, Klassenzugehörigkeit oder politischer Überzeugung. Mit diesem universellen Zugang stand der DuOeAV einzigartig unter den Alpenvereinen (wie z. B. in Italien, Frankreich oder der Schweiz) da und wurde zur größten alpinen Vereinigung weltweit.106 Während seiner Zeit in Peru war Hoerlin in den Verwaltungsausschuss des Vereins gewählt worden und hatte somit diese Funktion während einer stürmischen Periode inne, in der sogar die Existenz des Vereins bedroht war.


Schwäbisch Hall 1934. Die wehenden Naziflaggen an den Häusern sind in diesem Bild kaum sichtbar.

Die Geschichte des Alpenvereins ist reich an Debatten um die Erhaltung der Reinheit der Natur und ob der Bau und die Unterhaltung von Hütten mit diesem Ziel vereinbar seien. Seine Leiter bekämpften bitter die „Mechanisierung, Materialisierung, Kapitalisierung und Industrialisierung der Berge“107 bei ihrem Versuch, jene touristische Erschließung einzudämmen, welche durch das Vordringen von Eisenbahnen, Seilbahnen, Straßen und Hotels in die alpine Landschaft erst ermöglicht wurde. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam eine weitere heiß diskutierte Angelegenheit hinzu: der Antisemitismus. Einige Sektionen des Vereins, insbesondere in Österreich, verweigerten jüdischen Bewerbern die Mitgliedschaft. 1924 bezog die Vereinsführung keine konkrete Stellung und zitierte ihre langjährige Politik der offenen Türen und Enthaltung von politischen Dogmen. Trotzdem riet man jüdischen Bewerbern dazu, Mitgliedschaft in Sektionen ohne den so genannten „Arier-Paragrafen“ zu suchen.108 Währenddessen war Antisemitismus in den Alpen nur allzu weit verbreitet. Boshafte Zeichen auf Wegen und Hütten wiesen jüdische Bergsteiger ab und die Erlaubnis zur Benutzung von Alpenvereinshütten wurde ihnen oft nicht erteilt. Die Münchner Neue Deutsche Alpenzeitung war angemessen empört:

„Ihr heftet an die Schwelle eurer Schutzasyle die Frage nach Herkunft und Blut und vergesst stattdessen auf Geist und Fühlen! Ihr forscht nach Stammbaum und Schädelform und überseht den Herzschlag und den Seelenklang. Was wird das Ziel, das Ende sein?“109

Die Angelegenheit war auf der Türschwelle des Vereins gelandet, nachdem sich 1921 in Wien die neue Sektion „Donauland“ formiert hatte, die vornehmlich aus jüdischen Mitgliedern bestand. Sie hatte nur eine kurze Lebensdauer. Während der Jahreshauptversammlung des Alpenvereins 1924 stimmten 89 % der Vertreter aus Deutschland und Österreich für den Ausschluss von Donauland. Unter dem Druck der österreichischen Sektionen, aus dem Alpenverein auszutreten, falls Donauland nicht aufgelöst werden sollte, empfahl das Führungskomitee den Ausschluss, um den Einklang zwischen den deutschen und österreichischen Bergsteigerbünden zu wahren. Man hoffte, eine politische Rolle bei einer Vereinigung beider Länder zu spielen, die über das Bergsteigen hinausging, und wollte verhindern, dass weitere Streitigkeiten den Verein von seinem Fokus ablenkten, die Alpen vor Tourismus zu schützen.110 Gleichzeitig fürchtete der Verein die Ausbreitung des Antisemitismus und ordnete offiziell ein Moratorium in der Frage der jüdischen Mitgliedschaft für die kommenden acht Jahre an.

Der heutige Alpenverein bezeichnet die Versammlung vom Dezember 1924 als das dunkelste Kapitel seiner Geschichte.111 Es wurde weithin als öffentliche Denunzierung von Juden angesehen, auch wenn die Haltung des Vereins differenzierter war. Die Frage von Juden als Mitgliedern blieb bis 1933 unbeantwortet und kam mit dem Beginn des Dritten Reichs erneut auf. Obwohl die Wahl Hitlers von einigen Sektionen des Vereins bejubelt wurde, blieb die Mehrheit ruhig. Manche signalisierten ihre Einwilligung. Die Sektion München empfahl beispielsweise, so oft wie möglich die Hakenkreuzflagge an ihren Hütten zu hissen.112 Diese Verneigung vor den Nationalsozialisten reichte kaum aus, die neue Bürokratie von weiteren Einmischungen abzuhalten. Hitler ernannte einen neuen Reichssportführer, Hans von Tschammer und Osten, und trug ihm die sofortige Umsetzung der Gleichschaltung auf. Alle organisierten Formen sportlicher Betätigung wurden in den Staatsapparat der Nationalsozialisten einverleibt. Anfangs wurde für den Alpenverein noch eine Ausnahme gemacht. Da er landesweit ein hohes Ansehen genoss und sich unter seinen Mitgliedern hochrangige Nazi-Funktionäre befanden, wurde er – zumindest vorübergehend – verhätschelt. Es gab allerdings einige Bedingungen. Als sich der Reichssportführer im Juni 1933 mit Vertretern des Vereins traf, versicherte er ihnen, dass der Alpenverein nicht aufgelöst werden würde, wenn er sich der nationalsozialistischen Doktrin in der Judenfrage anschlösse.113 Oder einfach gesagt: Der Preis für die Unabhängigkeit der größten deutschen Bergsteigervereinigung war die Annahme ausschließlich arischer Mitglieder.114


„Der judenreine Alpenverein“, Karikatur von Paul Humpoletz, in: Der Götz von Berlichingen, Nr. 51, 1924; Historisches Archiv des OeAV, Innsbruck

Um das Ganze noch schlimmer zu machen, setzte der Reichssportführer seinen Kumpan Paul Bauer – die Nemesis meines Vaters – auf Posten mit höherer Machtbefugnis. Er gründete nationalsozialistische Organisationen wie den Deutschen Bergsteiger- und Wanderverband und übergab Bauer die Verantwortung. Bauer, der den Kangchendzönga ein Jahr vor Dyhrenfurths Internationaler Himalaya-Expedition 1930 versucht hatte, war ein bedeutender Bergsteiger, für den „das Bergsteigen die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln“ bedeutete115 – nur mit dem veränderten Szenario, dass Deutschland, anders als im Ersten Weltkrieg, siegreich hervorgehen würde. Deutschland, das noch immer unter seiner damaligen Niederlage litt, hatte sich auf das Bergsteigen als Schlüssel zur Rückgewinnung des Nationalstolzes gestürzt. So wurde es auch 1919 in den Statuten des Alpenvereins festgeschrieben: „Eines der wichtigsten Mittel, um die sittliche Kraft des deutschen Volkes wiederherzustellen, ist der Alpinismus.“116

Niemand nahm dieses Diktat ernster oder setzte es militaristischer um als Bauer. Obwohl er mehr wie ein bebrillter Professor als ein Feldherr aussah, verdeckte sein Vollbart nicht seinen schmallippigen Mund, der Befehle brüllte und von seinen Bergsteigern „bedingungslose militärische Untergebenheit“ forderte.117 Durch Bauers Expeditionsberichte zogen sich Begriffe wie Angriff, Kampf, Kolonnen, Stoßtruppen und Belagerung118 – politische Triumphe besaßen für ihn einen hohen Stellenwert, von einer Liebe zu den Bergen war dagegen wenig zu spüren. Bauer und der Reichssportführer appellierten an die Bergsteiger, die deutsche Jugend zu inspirieren, furchtlos und auf jeden Kampf vorbereitet zu sein.

Die Spannungen zwischen dem Alpenverein und Bauers Gruppe waren sofort spürbar und wurden mit der Zeit immer stärker. Mit der Zunahme von Bauers Einfluss intensivierte sich die Bedrohung der Autonomie des Alpenvereins und es bildeten sich innerhalb des Vereins mit seinem Kontingent an hochgradig individualistischen Bergsteigern bedeutende Splittergruppen. Das war eine Eigenschaft, welche die Nationalsozialisten nicht vollständig umrissen hatten, wie ein führender Experte beobachtete: „Die meisten guten Bergsteiger hassten Gehorsam […] und die starken Bergsteigerverbände hatten einen deutlich anarchistischen Einschlag.“119 Die Führung des Alpenvereins balancierte auf zwei schmalen Graten: innerlich zwischen den Rebellen und ihren konservativeren Gegenübern, und nach außen hin zwischen Unabhängigkeit und Zugeständnissen an die Nationalsozialisten. In ständigen Verhandlungen mit Bauer und dem Reichssportführer versuchte der Exekutivausschuss des Vereins einen gewissen Grad an Souveränität zu behalten und sich der Gleichschaltung zu widersetzen. In diesen Gesprächen stellte sich Hoerlin eisern gegen jede Form der Nazifizierung. Er war ein Dorn in Bauers Auge.

Während die Vereinspolitik einen großen Teil seiner Zeit beanspruchte, setzte der aufstrebende Doktorand seine Forschungen auf dem Gebiet der kosmischen Strahlung fort. Im Sommer 1933 reiste er nach Nordnorwegen, wo „… das Land der Mitternachtssonne und Eisberge die Eisfälle des Himalayas in den Schatten stellte“120, und anschließend in die Schweiz. Auf letzterer Etappe begleitete ihn der Sohn von Erich Regener, der 21-jährige Victor, der später ebenfalls ein Physiker werden sollte.121 Ihr Ziel war die internationale Forschungsstation auf der „Sphinx“ unterhalb der Jungfrau, einem der bekanntesten Alpengipfel. Mit einer Höhe von rund 3500 Metern war sie weit von der höchsten Messstation meines Vaters auf 6100 Metern in Peru entfernt. Seinen Bau verdankte das Laboratorium der Jungfraubahn, Europas höchster Zahnradbahn, mit der das schwere Baumaterial transportiert wurde. Dieses Wunder der Ingenieurskunst war 1912 eingeweiht worden und leitete genau jene Art von Tourismus ein, gegen die sich der Alpenverein aussprach. Achtzehn Jahre später sah man die Bahn in einem anderen Licht. Sie hatte jene Art von wissenschaftlichen Forschungen ermöglicht, die der Verein unterstützte: Forschungen in der Medizin, Meteorologie, Glaziologie, Astronomie, und – natürlich – zur kosmischen Strahlung.122 Diese Forschungsfelder umfassten auch die wissenschaftlichen Tätigkeiten der meisten Himalaya-Expeditionen dieser Zeit.

Auf dem Rückweg von einem seiner Forschungsaufenthalte im Höhenforschungszentrum machte Hoerlin in Zürich Halt und besuchte seinen alten „Bara Sahb“123, Günter Oskar Dyhrenfurth, den Leiter der Internationalen Himalaya-Expedition von 1930. Dieser organisierte gerade eine weitere internationale Expedition in das Karakorum-Gebirge, einer beeindruckenden Gruppe von Sieben- und Achttausendern im heutigen Pakistan.124 Dyhrenfurth hatte an Erwin Schneider geschrieben: „Wir setzen hier Himmel und Hölle in Bewegung, um unsere Karakorum-Expedition 1934 auf die Beine zu stellen. Wenn es zum Klappen kommt, wie ich dringend hoffe, so kann ich doch auf Deine und Pallas’ geschätzte Mitwirkung bestimmt rechnen? Hoffentlich kann auch Uli [Wieland] wieder mitmachen.“125 Vier Tage zuvor hatte Hoerlin einen Brief eines anderen ausgezeichneten Bergsteigers erhalten. Willy Merkl stellte ein Team deutscher Bergsteiger für eine Expedition zum Nanga Parbat (8125 m) zusammen, einem weiteren Achttausender, rund 150 Kilometer südwestlich des Karakorum, auf der anderen Seite des Industals.

Beide Großexpeditionen planten zum Frühlingsbeginn 1934 zu starten und suchten sowohl um die Unterstützung des Alpenvereins wie auch um die Teilnahme von Hoerlin, Wieland und Schneider an, die allesamt erstklassige Bergsteiger mit Himalaya-Erfahrung waren. Jede dieser Expeditionen wurde auf unterschiedliche Weise von der Politik der Nazizeit geprägt. Schneider war davon überzeugt, dass die Karakorum-Expedition eigentlich keine Chance auf deutsche Unterstützung besaß, weil sie einen internationalen und keinen nationalen Charakter hatte – und wegen Dyhrenfurth persönlich. Obwohl Dyhrenfurths Familie seit Generationen in Deutschland assimiliert war, galt Dyhrenfurth als „Judenstämmling“. Oder wie es Schneider formulierte: „Mit seinem Geburtsfehler wird er im Dritten Reich kaum mehr einen Blumentopf gewinnen können …“126 Zudem kam seine Frau Hettie aus einer angesehenen jüdischen Familie.

Sowohl Merkl als auch Dyhrenfurth übten unabhängig voneinander Druck auf Pallas, Schneider und Wieland – die „bösen Knaben aus dem Dritten Reich“, wie sie sich selbst nannten127 – aus, sich ihren jeweiligen Expeditionen anzuschließen. In seiner Einladung an Hoerlin128 warf Merkl den zusätzlichen Köder aus, Hoerlins zahlreiche Forschungsinstrumente mitzunehmen. Obwohl sie sich noch nie zuvor getroffen hatten, verfolgte Merkl diesen Weg hartnäckig: Ende Juli kam er nach Stuttgart, um Hoerlin und Professor Regener zu treffen,129 und im September besuchte er Hoerlins Forschungsprojekt auf dem Jungfraujoch.130 Er wusste, dass die wissenschaftlichen Aufgaben des Physikers der Expedition gegenüber dem Alpenverein zusätzliche Glaubwürdigkeit verleihen würden. Es war nicht eindeutig, ob Hoerlins Teilnahme an der Expedition für Merkl wegen dessen bergsteigerischem Können, seiner wissenschaftlichen Arbeit oder seiner Position im Alpenverein attraktiv war. Höchstwahrscheinlich wollte der politisch behände Merkl ihn aus allen drei Gründen.

Merkl versuchte, auch Schneider zu gewinnen, der aber für dessen Offerten nicht empfänglich war und sich dafür aussprach, bei Dyhrenfurth mitzumachen: „Wir kennen B.S. [Bara Sahb] genau, uns kann er nicht mehr viel vormachen, wir wissen auch, dass wir ihn sicher beeinflussen können und mit ihm gut auskommen werden. DAS WISSEN WIR ALLES VON MERKL NICHT! [Hervorhebung durch Schneider]“131 „Merkl ist, trotzdem er sicher ein netter Kerl ist, eitel und eingebildet und ein Dickschädel.“132 Dies schienen drei schwere Breitseiten gegen einen „netten Kerl“, aber im Verlauf der Expedition zeigte sich, dass Schneider Recht hatte. Schneider stellte auch Merkls Ruf in Frage. Seine Nanga-Parbat-Expedition 1932 war schlecht organisiert und von Unzufriedenheit der Träger geplagt gewesen. Das Zusammenspiel des Teams war aus dem Ruder gelaufen, was zu gegenseitigen Schuldzuweisungen und zum Zusammenbruch der Geschlossenheit geführt hatte. Würde sich diese Führungsschwäche 1934 wiederholen?

Ein wesentlicher Punkt für Schneider war, an welcher Expedition seine vertrautesten Partner Pallas und Wieland teilnehmen würden. Obwohl Letzterer ein weniger erfahrener Bergsteiger als Schneider oder mein Vater war, wären seine beständige Heiterkeit, Gelassenheit und Antrieb ein wertvoller Beitrag zur Expedition. Der ruhige Mann hielt sich mit einer Verpflichtung zurück und wusste nicht, wofür er sich entscheiden sollte.133 Im August neigte er dann aber zu Merkl, nachdem er mit ihm in der Schweiz geklettert war.134 Was aber bei Wielands Entscheidung letztendlich den Ausschlag gab, war ein Anruf des Reichssportführers von Tschammer und Osten, in dem er sich dafür aussprach, dass Wieland Merkls Gruppe beitreten solle.135 Es war schwierig, eine Bitte aus den höchsten Reihen der Regierung des eigenen Heimatlandes abzulehnen.

Hoerlin schwankte weiterhin. Er war nicht nur zwischen den beiden Expeditionen hin- und hergerissen, sondern wollte auch seine Doktorarbeit abschließen. Zudem bereitete ihm die Lage seiner Familie in Schwäbisch Hall Sorge. Sein Vater war im September erneut erkrankt und seine Schwester und Mutter mit der Verantwortung für den Familienbetrieb überfordert. Der stets ungeduldige Schneider bat Pallas in Brief um Brief darum, sich endlich zu entscheiden – wobei er mit poetischen Anreden wie „faules Schwein“, „Süßer“ oder „alte Rübe“ nicht sparte. „Lass Dir das alles durch Deinen Krautschädel gehen und schreibe mir möglichst bald Deine Ansicht, die mir immerhin wichtig erscheint.“136 Den eigenen würdevollen Vater auf so eine Weise angeredet zu lesen, amüsierte mich auch fast 80 Jahre später noch.

Im November fällte Hoerlin seine Entscheidung. Obwohl er Merkls vermeintliches Interesse an wissenschaftlichen Forschungen anerkannte, hinterfragte mein Vater dessen Führungsqualitäten und war über den zunehmenden nationalistischen Unterton der Nanga-Parbat-Expedition beunruhigt. Umgekehrt war er nervös, dass Dyhrenfurth seine Fehler bei der Organisation vom Kangchendzönga im Karakorum wiederholen würde. Doch endgültig entschieden wurde die Sache am 10. November, als sein Vater im Alter von 69 Jahren starb. Der Mann, der ihn wie kein anderer ermutigt hatte, unbekannte Horizonte zu suchen, war nicht mehr. Als mein Vater einmal schrieb, „Es ist ein alter Trieb […] der Trieb in die Ferne, die Sehnsucht in die weite Welt“,137 war dies ein Echo der Gefühle seines eigenen Vaters, der niemals die Möglichkeit hatte, selbst diesem Trieb zu folgen. Adolf Julius Hoerlin hatte die Gabe, sich über die Leistungen seines Sohnes als Entdecker, Bergsteiger und Wissenschaftler auf drei Kontinenten mitfreuen zu können. Doch nun war es Zeit für den Sohn, die Erinnerung an seinen Vater zu würdigen, indem er Verantwortung zuhause übernahm und seiner Mutter und Schwester im Laden aushalf sowie sein Studium abschloss. Vorerst zumindest war die Besteigung eines Achttausenders aus Pallas’ Plänen gestrichen.

KAPITEL 5: SCHICKSALSBERG

Nach dem Tod seines Vaters fand mein Vater Trost in den vielen Kondolenzbriefen, welche die Familie erreichten. Einer davon stammte von Merkl, der nach seiner Beileidsbekundung hinzufügte: „… Ich kann es einfach nicht glauben, dass Sie nicht [bei der Nanga-Parbat-Expedition] dabei sein sollen und ich hoffe nur, dass Ihre Teilnahme noch möglich werden wird. … Es wäre meine größte Freude, wenn Sie im März mit uns starten würden.“138 Doch all solches Flehen konnte Pallas nicht überzeugen. Wie sich am Ende herausstellen sollte, rettete ihm der Verzicht wahrscheinlich das Leben und veränderte es definitiv. Denn durch den Nanga Parbat lernte er meine Mutter kennen. Aber dies geschah erst Monate später.

Am 25. März 1934 verließ der Zug mit der Vorgruppe der Expedition – Merkl, Wieland, Schneider und dessen Landsmann Aschenbrenner – unter dem Jubel von Freunden und Verwandten den Bahnhof von München in Richtung Genua, wo sie den Dampfer „Victoria“ bestiegen. Sechzehn Tage später folgte die Hauptgruppe und ging am 13. April in Venedig an Bord der „Conte Verde“. Zu ihrer Überraschung teilten sie sich das Schiff mit Dyhrenfurths Internationaler Karakorum-Expedition. Zeitungsberichte spielten Animositäten zwischen den beiden Expeditionen hoch, diese Berichte decken sich jedoch nicht mit den tatsächlichen Schilderungen der Überfahrt.139 Die Bergsteiger vertrieben sich die Zeit mit freundlichen Rivalitäten bei einem Wurfringspiel an Deck. „Quoits“, bei dem Seilringe über einen Holzpflock geworfen wurden, war die Inspiration für das amerikanische Hufeisenwurfspiel. Offensichtlich hofften beide Expeditionen, bald einen noch größeren Seilring über einen noch größeren Pflock – einen Achttausendergipfel – werfen zu können.

Obwohl beide Expeditionen von einem Münchner Sporthaus mit der neuesten Bergausrüstung ausstaffiert worden waren, endeten damit die Gemeinsamkeiten. Das Mitteilungsblatt des Alpenvereins schrieb in seiner Juniausgabe, die Karakorum-Expedition stünde unter der „Leitung“ von Dyhrenfurth und die Nanga-Parbat-Expedition unter der „Führung“ von Merkl.140 Obwohl sich beide Worte in ihrer Bedeutung ähneln, deutet Letzteres „befehlen“ an und spiegelt einen subtilen Unterschied zwischen beiden Männern wider. Hettie und Günter Dyhrenfurts bewusster Betonung der Internationalität ihres Unternehmens und ihrer negativen Haltung gegenüber dem Dritten Reich, verstärkt durch ihren jüdischen Hintergrund, standen Merkls Verpflichtung zu einem rein deutschen Versuch und sein unbedingter Wille gegenüber, die Führung des Dritten Reichs zufriedenzustellen. Solche Angelegenheiten sind jedoch selten eindeutig. Einerseits hatte das angeblich „rein deutsche“ Nanga-Parbat-Team zwei österreichische Teilnehmer, Schneider und Aschenbrenner – und Schneider war offen gegen Hitler. Ebenfalls zu den Teilnehmern zählte ein junger Geologe, Peter Misch, der jüdischer Herkunft war und nach dem Arier-Paragrafen des Berufsbeamtengesetzes von der Nanga-Parbat-Expedition hätte ausgeschlossen werden müssen.141 Auf der anderen Seite zählte zu Dyhrenfurths Mannschaft der Eigenwerbung betreibende Bergsteiger und Filmemacher Hans Ertl, der später als „Hitlers Fotograf“ eine Schlüsselfigur in der Propagandamaschinerie der Nationalsozialisten wurde.142 So war die Zusammensetzung beider Expeditionsmannschaften ein ethnischer wie politischer Mischmasch.

Wenn sich auch beide, sowohl Dyhrenfurth als auch Merkl, auf eine Großexpedition mit Hunderten von Trägern festgelegt hatten, waren ihre Ziele doch verschieden. Merkl war zielstrebig: Sein vorrangiges Ziel war die Bezwingung des Nanga Parbat; geologische Forschungen und eine Filmdokumentation waren zweitrangig. Dyhrenfurth trat für einen weiter gefassten Plan ein: die Erforschung und Besteigung unbestiegener Gipfel im Karakorum und die Produktion des ersten Spielfilms im Himalaya. Das Drehbuch von „Der Dämon des Himalaya“ beinhaltete melodramatische Helden und gefährliche mythische Kräfte, die sich inmitten der majestätischen Gipfel bekämpften.143 Schneider spottete darüber in einem Brief an meinen Vater: „Sie [Dyhrenfurths Expedition] wollen in Gegend K2 einen ‚leichten‘ Achttausender behüpfen und einen Film drehen, dessen Manuskript ich einmal sah. Ich sage Dir, dabei wurde mir schon ganz schwach.“144 Es ist verständlich, dass Schneider weiche Knie bekam. Später wurde der Film als „Hoch-Kitsch“ verrissen, der die Würde des Bergsteigens erniedrige.

Die beiden Expeditionen unterschieden sich auch in der finanziellen Unterstützung, was ihre Ziele beeinflusste. Der größte Teil von Merkls Budget kam von der Deutschen Reichsbahn, während Dyhrenfurth von India-Ton finanziert wurde, einer kleinen Berliner Filmfirma, welche den Spielfilm produzieren wollte.145 Die Verwicklung der Filmemacher und Schauspieler mit der Expedition führte später zu Spannungen. Aber auch die Investition der Reichsbahn in die Nanga-Parbat-Expedition verkomplizierte Dinge. Die Eisenbahngesellschaft war sich sicher, dass ihr die Unterstützung der publicityträchtigen Unternehmung im Himalaya zur Ehre gereichen würde. In einem Dankschreiben gelobte ihr Merkl: „So etwas ist nur in Deutschland möglich. Für Deutschland werden wir kämpfen und werden alles daran setzen, den ersten Achttausender für Deutschland zu erobern. Heil Hitler!“146 Dies war gespielte Tapferkeit, denn Merkl hatte zuvor an Hoerlin mit größerer Bescheidenheit geschrieben: „Wir alle bedauern sehr, dass Sie nicht bei uns waren. Hoffentlich wird es [das Unternehmen] aber doch was.“147 Seine kurze Nachricht war auf einer Postkarte mit dem „Himalaya-Pfennig“ geschrieben, die ein Foto des Nanga Parbat zierte. Sie war Teil einer landesweiten Kampagne, Reklame für die Expedition zu machen und weitere Finanzen aufzutreiben. Mit solch sichtbarem Sponsoring war der Erfolgsdruck enorm.

In Deutschland war die Besteigung des Nanga Parbat zu einer fixen Idee geworden. So wie die Briten den Everest für sich beanspruchten, sahen die Deutschen den Nanga Parbat als „ihren“ Berg an. 1854 war er von den drei deutschen Brüdern Schlagintweit vermessen worden, und ein erfolgloser Besteigungsversuch unter der Leitung von Merkl 1932 hatte das Interesse der deutschen Öffentlichkeit geweckt. Die Nationalsozialisten sahen im möglichen Erfolg der Nanga-Parbat-Expedition eine Gelegenheit zur weithin sichtbaren Demonstration teutonischer Überlegenheit und Wiedererstarkung nach dem Ersten Weltkrieg. In den Worten des Reichssportministers: „Die Eroberung des Gipfels wird zum Ruhme Deutschlands erwartet.“148 Andere sahen die Expedition in einem anderen Licht. Mitglieder des Alpenvereins bestanden auf der Wichtigkeit ihrer wissenschaftlichen Forschungen neben den bergsteigerischen Zielen.149 Wiederum andere betonten die „spirituellen Werte“ des Bergsteigens, seine ursprüngliche Verbindung mit der Natur und seine im Grunde apolitische Haltung.150 Diese variierenden Konstrukte – politisch, wissenschaftlich und spirituell – mit ihren innewohnenden Konflikten sollten sich auf tragische Weise auf der steilen und eisigen Bühne des neunthöchsten Berges der Welt erschöpfen.

Die Expedition von 1934, eine zeitgenössische Version der Suche nach dem Heiligen Gral, zog die Aufmerksamkeit der Massen in Deutschland auf sich. Die Medienberichte hatten das öffentliche Interesse entfacht und machten das Unternehmen „… zum weitaus meistpublizierten bergsteigerischen Ereignis in der deutschen Geschichte“.151 Der Alpenverein beabsichtigte umfassende Berichte in seinem monatlichen Rundbrief und bat Hoerlin, der Koordinator aller Mitteilungen an die deutsche und auch an die weltweite Presse zu sein.152 Der designierte Pressesekretär der Expedition war Dr. Willi Schmid, ein eminenter Musikkritiker der Münchner Neuesten Nachrichten, einer der auflagenstärksten Zeitungen in Deutschland.


Käthe (l.) und Willi Schmid (r.), das Presseteam vom Nanga Parbat, bei einem Abschiedsfest für die Expedition in ihrem Haus (Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Alpenvereins)

©Deutscher Alpenverein, München

Obwohl er in gewisser Hinsicht eine ungewöhnliche Wahl war, hatte Schmid bereits bedeutende Arbeit als freier Journalist geleistet und würde von seiner Frau Käthe gekonnt unterstützt werden. Um sich um die zahlreichen Einzelheiten der Expedition kümmern zu können, hatte man in der geräumigen Wohnung der Schmids ein Büro eingerichtet, das zu einem zentralen Versammlungsraum für Besprechungen wurde. Das Paar stand Merkl nahe, den Willi durch gemeinsame Freunde kennengelernt hatte. Käthes Verhältnis zu Merkl war wie das einer etwas älteren (ein Jahr) Schwester: etwas rechthaberisch, warmherzig und kritisch. In ihren Briefen zu Expeditionsangelegenheiten an Merkl wechselt sie zwischen Tadel („Dass sie passierte, ist Deine Schuld“153), Fürsorge („Schau, dass Du zu genügendem Schlaf kommst“154) und Ratschlag („Ach Bub, das ist’s ja gerade, dass man als guter Führer vor allem u. bei allen ein guter Psychologe sein muss“155). Die Sammlung an Briefen umfasst die Zeit von den ersten Vorbereitungen bis zum 2. Juli, als die Bergsteiger ihren zweiten und letzten Gipfelversuch begannen.


Käthe Schmid und Expeditionsleiter Willy Merkl im Büro der Nanga-Parbat-Expedition im Hause Schmid (Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Alpenvereins)

©Deutscher Alpenverein, München

Die erste Etappe der Expedition begann Anfang Mai, als die Vor- und Hauptgruppe in Kaschmir wieder zusammentrafen. Eine Armee von fast 600 Trägern bewältigte den langen und ermüdenden Anmarsch zum Fuß des Berges, trug Verpflegung und Ausrüstung über tiefe Schluchten, reißende Flüsse, hohe Pässe und ausgedehnte Gletscher. Da nur 400 Sonnenbrillen für die Männer zur Verfügung standen, litten einige noch vor Erreichen des Basislagers am 26. Mai unter Schneeblindheit.156 Zwar hatte die Expedition zuvor schon von verschiedenen Punkten aus Ausblicke auf den Nanga Parbat erhascht, aber am nächsten Morgen enthüllte er sich in seiner vollen Pracht. Die Sahibs waren gebannt vor Ehrfurcht: „Hoch droben am Gipfel … flammt das erste Licht des jungen Tages. Langsam flutet die blendende Helle über die mächtige Steilmauer hinab auf den Gletscher … Wir blicken zu dem Berg auf wie zu etwas ganz Unwirklichem.“157


Deutsche Nanga-Parbat-Expedition 1934

©Wikipedia Creative Commons, Welzenbachs Bergfahrten, Berlin 1935

Es schien wenig Gelegenheit zu geben, die Schönheit des Berges zu bewundern oder ruhig darüber nachzusinnen. Postläufer mit ermutigenden Briefen, frankiert mit bunten Briefmarken aus aller Herren Länder, strömten regelmäßig ins Basislager. Fast täglich wurden Meldungen über den Fortschritt der Expedition via Kurzwellenradio, Telegramm oder Pressemitteilung versendet. Schlag auf Schlag berichteten die Nachrichtenmedien vom Geschehen am Berg. Manchmal übertrieben sie die Schilderungen, ein anderes Mal konzentrierten sie sich auf das schlechte Wetter oder Probleme mit den Trägern. Aber generell erzählten die Berichte eine Geschichte von Mut und Kameradschaft. Die Expedition besaß alle Zutaten für packende Nachrichten: eine beängstigende Herausforderung, Gefahren, Triumphe, individuelle Heldentaten und nationales Ehrgefühl.


Nanga Parbat, der deutsche „Schicksalsberg“

Bedauerlicherweise tendierten die Medien dazu, die Expedition und ihre Ziele mit nationalistischen Begriffen zu versehen. Inbrünstig hoffte man, dass die Hakenkreuzflagge auf dem Gipfel des Nanga Parbat wehen würde. Bis 1934 war die deutsche Presse vollständig mit Reportern besetzt worden, die mit dem Nationalsozialismus sympathisierten. Sie hatten die Arbeitsstellen von Juden übernommen, die durch Hitlers Gesetze entlassen worden waren.158 Ebenso wie die Entlassung von jüdischen Lehrern und Wissenschaftlern wurde der Ausschluss von jüdischen Mitgliedern aus dem Pressewesen ohne Protest akzeptiert; andere standen bereit, von ihrem Weggang zu profitieren – ein Umstand, der „… einen bedeutenden moralischen Verfall“159 unter den Deutschen signalisierte. Mit missionarischem Eifer stellten diese „Ersatz“-Reporter deutsche Taten unablässig positiv, wenn nicht gar aufgebläht dar, was zahlreiche Leser und Zuhörer an der Zuverlässigkeit ihrer Pressemitteilungen zweifeln ließ – jene über die Nanga-Parbat-Expedition eingeschlossen. Zu den kritischsten Stimmen zählte Erwin Schneider, der sich wie üblich kein Blatt vor den Mund nahm. In einem Brief an Hoerlin schrieb er: „Du wirst ja sicher wie immer am Deutschlandsender hängen und im Übrigen versorgen ja die üblichen Latrinengerüchte das Dritte Reich ausgiebig mit Schauernachrichten. Es ist schon zum Kotzen …“160

Nach Erreichen des Basislagers wurde der nicht mehr benötigte Großteil der Träger ausbezahlt und nach Hause geschickt. Zurück blieb eine leichter zu führende Gruppe von 60 Mann. Gemeinsam mit einigen von ihnen brach das dreiköpfige Wissenschaftsteam zu einer Umrundung des Nanga-Parbat-Massivs auf, um eine detaillierte topografische Karte aufzunehmen.161 Die lästige Aufgabe, die Träger für die Besteigung zu organisieren, fiel an Wieland, der die meisten von ihnen ausgewählt hatte und dem sie vertrauten. Oft leitete er Beschwerden der Träger an die Expeditionsleitung weiter. Die logistischen Aufgaben zermürbten Wieland, wie er Pallas in einem Brief gestand: „Große Expeditionen sind schrecklich. Immer ist es das Gepäck, was aufhält. So Gott will, werden wir drei noch einmal eine kleine [Betonung von Wieland] Expedition, aber auch mit großem Ziel, machen.“162 Schneider hatte zuvor in einem Brief eine ähnliche Sehnsucht ausgedrückt163 und schlug vor, dass die drei Freunde im nächsten Jahr wieder in die peruanischen Kordilleren gehen würden.

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