Kitabı oku: «Courage. Im Schatten des Nanga Parbat 1934», sayfa 4

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Kletterei durch absturzbereite Eis- und Schneeblöcke am Nevado Huascarán

Vor diesem Hintergrund und anhaltenden Gerüchten, Peck habe den niedrigeren Gipfel gar nicht erreicht, setzte sich die Expedition 1932 den höheren Südgipfel zum Ziel, den Peck nicht versucht hatte. Damit erkannten sie die Besteigung des Nordgipfels durch Peck an, die dieser im Alter von 58 Jahren im sechsten Anlauf gemeinsam mit zwei erfahrenen Schweizer Bergführern gelungen war. Der Nevado Huascarán weist enorme Spalten, brüchige Schneebrücken und fürchterliche Seracs (Eisabbrüche) auf, welche den Weg zur Garganta, dem Sattel zwischen Nord- und Südgipfel, blockieren.

Nachdem sie einen Weg durch das verschlungene Labyrinth gefunden hatte, hielt die Seilschaft von 1932, bestehend aus vier Deutschen und einem Österreicher76, auf den Südgipfel zu. Sie wateten durch Tiefschnee und versuchten sich von der monotonen Stapferei abzulenken, indem sie zunächst Schritte und dann auf Vorschlag des Expeditionsarztes ihren Pulsschlag zählten. Um 17 Uhr hatten alle den Gipfel erreicht. Schnell setzten sie einen 16 Meter hohen Fahnenmast, den sie in Segmenten hinaufgetragen hatten, zusammen und hissten die peruanische Flagge „… als Zeichen des Anstands“77 auf dem höchsten Berg des Landes. Wenige Tage später reichten sie in Yungay ein Teleskop unter den skeptischen Einheimischen herum, die noch immer Zweifel an Annie Pecks Besteigung hegten.78 So sahen sie mit eigenen Augen den Beweis, dass der Gipfel „ihres“ Huascarán erreicht werden konnte: Die Flagge war noch aus 19 Kilometern Entfernung sichtbar und blieb fünf Wochen lang stehen. Die Dorfbewohner schienen mehr darüber erfreut zu sein, ihre Landesflagge auf dem Gipfel wehen zu sehen, als über die erfolgreiche Gipfelbesteigung durch die „verrückten Gringos“. Traurigerweise stürzte durch ein Erdbeben 1970 ein gewaltiger Eis- und Felsblock vom Nevado Huascarán hinab und löste einen gigantischen Erdrutsch aus, der Yungay und einen Großteil seiner 19.000 Einwohner auslöschte.


Nevado Huascarán, der höchste Berg Perus

Nach dem Erfolg am Nevado Huascarán teilte sich die Gruppe auf. Die einzelnen Teilnehmer führten Erstbesteigungen von einigen zuvor unbestiegenen Gipfeln durch79 und gingen ihren jeweiligen topografischen, geografischen und kulturellen Forschungen nach. Was die Kartierung der Region anging, war es der Beginn einer langen Tätigkeit des angehenden Kartografen Schneider, der 1936, 1939, 1950 und 1954 nach Peru zurückkehrte.80 Heute verdeutlichen seine Aufnahmen und Messungen den dramatischen Rückgang der Gletscher über die Jahre. Seine genau gezeichneten Karten werden noch immer genutzt und von den peruanischen Bergführern gepriesen. Mein Sohn Noah und seine Verlobte Katherine erfuhren dies selbst, als sie im Herbst 2006 in Peru bergstiegen. Als Noah erwähnte, dass sein Großvater an der Expedition 1932 teilgenommen hatte, war sein Bergführer begeistert und zeigte ihm die Karte, die er benutzte – eine Landkarte des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins, erstellt von Erwin Schneider. Das Exemplar meines Vaters hängt in einem edlen Rahmen im Schlafzimmer von Noahs und Katherines kleinem Sohn.


Nestor Montez mit Hoerlins Geräten zur Messung der kosmischen Strahlung

Hoerlin hatte im Hochland der Cordillera Blanca mit seinen wissenschaftlichen Experimenten, den Messungen der kosmischen Strahlung, begonnen. Beim Aufstellen seine schweren Messinstrumente assistierte ihm ein bemerkenswerter Träger, Nestor Montez. „Der intelligente Mann überraschte mich mit Kenntnissen über unser Sonnensystem, […] der anderen Planeten, […] und auch politischen Gesprächen“, so mein Vater.81

Nestor82 war der kleinste unter den Trägern und besaß eine schier unersättliche Neugierde in Bezug auf die Forschung nach der kosmischen Strahlung. Mein Vater brachte ihm die Grundlagen bei, während Nestor ihn im Gegenzug über die politische Bewegung der APRA (Alianza Popular Revolucionaria Americana) aufklärte. Wie schon in Indien sympathisierte mein Vater mit der Revolution. Die Kämpfe hielten zehn Jahre an und kosteten schließlich auch Nestor das Leben.

Es war kein Problem, die sperrigen Gerätschaften Hoerlins auf einem Packesel zu transportieren. Sie jedoch zu einem 6000 Meter hoch gelegenen Beobachtungspunkt zur Messung der kosmischen Strahlung zu tragen, war etwas anderes. Das Strahlenmessgerät wog rund 300 Kilo. Es wurde zerlegt und von Trägern auf den Hualcan transportiert, einen der leichteren, aber dennoch nicht ungefährlichen Gipfel. Hoerlin errichtete dort eine Reihe von Messstationen, in denen er jeweils alleine einige Tage zubrachte: in der ersten auf 4700 m zwanzig Tage, in der nächsten auf 5500 m fünfzehn Tage und in der letzten auf 6100 m sechs Tage. Die letzte Station auf einer Schneekuppe machte es ihm einfach, während seines Aufenthalts mehrfach den nahen Gipfel (6122 m) zu besteigen.

Obwohl der Hualcan relativ einfach zu besteigen war, erwies er sich in anderer Hinsicht als unglückliche Wahl. Aufgrund seiner Lage innerhalb der Bergkette und zu den umliegenden Tälern zog er beständig eine Wolkendecke, heftige Gewitter und tosende Stürme an. Unter diesen furchteinflößenden Umständen und allein waren die Tage für Pallas quälend lang, und zu häufig verhinderte das Wetter jegliche Forschungsarbeiten. An einigen Tagen blieb dem einsamen Bergsteiger-Forscher nichts anderes übrig, als in seinem Zelt auszuharren. Seine einzige Begleitung waren attraktive, glänzende und – in einigen Augen – übergewichtige Instrumente, die sich ohne Entschuldigung in der engen Behausung breitmachten und ihm kaum Platz für seinen Schlafsack ließen. Andererseits dienten sie als sichere Verankerung für das Zelt, wenn Winde mit Sturmstärke drohten, ihn vom Berg zu blasen. In den schlimmsten Momenten der Gewitter verzog sich Pallas in eine Schneehöhle, die er gegraben hatte, da er befürchtete, das Zelt und sein Inhalt würden Blitze anziehen. Ein ums andere Mal riss der Himmel auf und erlaubte ihm, die Monotonie zu unterbrechen und den nahen Südgipfel des Hualcan zu besteigen, von wo aus er die spektakulären Berge der Umgebung bewundern konnte. „Da saß ich zufrieden und glücklich vor dem Zelt und freute mich der Schönheit [sic] dieser Hochgebirgslandschaft und der weiten Welt. Stundenlang konnte ich so sitzen …“83


Die höchste Messstation für kosmische Strahlung auf der Welt: Hoerlins Zelt mit dem Gipfel des Hualcan im Hintergrund

An diesen seltenen Tagen stapfte eine Handvoll Träger – meistens mit Nestor – in Begleitung des 47-jährigen Borchers den Berg hinauf, brachten Nachschub an Verpflegung und halfen, die Messinstrumente zu bewegen. Sehr zur Freude Hoerlins brachten sie Briefe von der Familie und Freunden – sicherlich einer der welthöchsten Postdienste. Diese willkommenen Abwechslungen, die mehr vom Wetter als von der Planung der wissenschaftlichen Arbeit bestimmt wurden, durchbrachen für kurze Zeit Hoerlins Einsamkeit, doch ansonsten war er über insgesamt 45 Tage allein. Pallas stellte damit vielleicht einen Rekord der anderen Art auf: die längste Zeit, die eine einzelne Person in dieser Höhe zugebracht hatte.84 Sicher brach er den Rekord für die Aufstellung und Besetzung der höchsten Messstation für kosmische Strahlung weltweit.

Bei Pallas’ Rückkehr ins Basislager herrschte große Freude. Den Teilnehmern der Expedition lag sehr viel am Erfolg seiner Forschungsarbeit. Seine Messinstrumente waren ein fester Bestandteil des Unternehmens geworden, eine geteilte logistische Herausforderung, die die körperliche und emotionale Unterstützung des ganzen Teams forderte. Borchers hatte eine Atmosphäre der gegenseitigen Unterstützung und Fürsorge geschaffen, weshalb Pallas ihn verdienterweise als „meinen Bergvater“85 bezeichnete. Mein Vater war in Hochstimmung über seine Resultate und seine Rückkehr in die „Zivilisation“, aber er schien um mindestens dreißig Jahre gealtert. Er sah faltig und abgemagert aus, sein glattes, jugendliches Gesicht hatte unter dem rauen Wetter und der Austrocknung in der Höhe gelitten. Als er ein Foto von sich selbst an seine Familie schickte, schrieb ihm seine Schwester zurück: „Mutter guckte das Photo an und sagte: Ist das mei Bua? Nein, er ist es nicht. Oder doch? Nein, nein, der ist es nicht.“86 Sie konnte ihren eigenen Sohn nicht wiedererkennen. Nach dem Leben in gefälligeren Höhen war das altersgemäße und vertraute Aussehen meines Vaters bald wieder hergestellt.

Die wesentlichen Ziele der Expedition waren erfüllt und ihre Teilnehmer trennten sich. Einige blieben, um weitere geologische Forschungen durchzuführen, andere, um weiter bergzusteigen87, und Hoerlin, um weitere Messungen vorzunehmen. Neben den Messungen auf Meereshöhe während der fünfwöchigen Anreise von Deutschland nach Peru konnte er weitere Ergebnisse während der einwöchigen Bootsfahrt von Peru nach Chile und der neunwöchigen Rückreise durch die Magellanstraße gewinnen.

Hoerlins südlichste Messungen, durchgeführt auf 42° südlicher Breite, waren fast genauso weit vom Äquator entfernt wie Hamburg, wo die nördlichsten Messwerte genommen wurden (53° N). Indem er Messwerte von beiden Orten verglich, konnte Hoerlin den Äquator-Effekt auf die kosmische Strahlung nachweisen und die Genauigkeit seiner Instrumente überprüfen. Seine Messergebnisse zeigten, grafisch aufgezeichnet, für Stärke und Richtung der kosmischen Strahlen ein fast symmetrisches Verhältnis zwischen beiden Erdhalbkugeln.

Ein amüsanter Aspekt des internationalen Wettbewerbs bei der Erforschung der Abhängigkeit der kosmischen Strahlung von der geografischen Breite wurde Anfang Dezember 1932 deutlich, als Hoerlin in Lima auf einen Frachter nach Europa wartete. Dort traf er die Assistenten von Millikan und Compton, den beiden Konkurrenten. Obwohl der Zeitpunkt des Treffens ein verblüffender Zufall war, war es doch nicht völlig zufällig, dass die ähnlichen Forschungsunternehmen auf der südlichen Hemisphäre in Kontakt kamen. Millikans Assistent war in den Bergen Südperus unterwegs gewesen, während Comptons Assistent Messwerte vom Dach eines Hotels in Lima aus genommen hatte. Die drei tauschten ihre Erfahrungen in einer spontanen Konferenz über kosmische Strahlung aus. Keiner der anderen Forscher hatte eine ähnlich reichhaltige und detaillierte Datensammlung über kosmische Strahlung in den Anden wie Hoerlin, aber beide nahmen an größeren Projekten teil, die über die ganze Welt ausgedehnt waren. Für meinen Vater war es der erste Kontakt mit der amerikanischen Wissenschaftsszene, die sich kühn in einem Forschungsgebiet zu etablieren begann, das bis dahin von Europäern dominiert worden war. Ein neues Zeitalter bahnbrechender Wissenschaft dämmerte, und die Sonne ging in den Vereinigten Staaten auf. Fünf Jahre später sollte Hoerlin selbst ein Teil dieser amerikanischen Szene sein.


Hoerlin vor seinen Forschungen zur kosmischen Strahlung am Nevado Huascarán.


Hoerlin, ausgedörrt, wettergegerbt und glücklich nach seiner einsamen Arbeitsschicht auf 4700 bis 6100 m am Nevado Huascarán.

Auf der Versammlung der American Association for the Advancement of Science zu Weihnachten 1932 nahmen Millikan und Compton an einem Symposium über kosmische Strahlung teil. Mein Vater befand sich zu diesem Zeitpunkt noch auf dem Frachtschiff nach Deutschland. Die beiden Wissenschaftler gingen kaum zivilisiert miteinander um und weigerten sich am Ende der Sitzung sogar, sich die Hand zu geben. Die Presse stürzte sich auf ihre beißende Debatte, welche schnell mit dem Bild von Wissenschaftlern als „[…] nüchtern, sachlich, vorsichtig, genau – und damit wert, gehört zu werden“ aufräumte. „Hier nun waren zwei Nobelpreisträger, die alle Leidenschaft und Fehlbarkeit gewöhnlicher Menschen zeigten.“88

Im Februar 1933 setzten sich schließlich Comptons Erkenntnisse durch: Die Abhängigkeit kosmischer Strahlung von der geografischen Breite war unbestreitbar und kosmische Strahlen somit definitiv Protonen. Mit den Worten eines angesehenen Wissenschaftshistorikers: „[Millikan] sprach fortan nicht mehr von Geburtsschreien der Atome und überließ es dem Klerus zu entscheiden, ob der Schöpfer noch immer am Werk sei.“

Erst im März beendete mein Vater seine Reise und kehrte nach Deutschland zurück. Seine Forschungsergebnisse, die mit jenen Comptons übereinstimmten, wurden erst im Juli 1933 in der renommierten Zeitschrift Nature veröffentlicht. Compton hatte seine Ergebnisse bereits in der Märzausgabe der Physical Review publiziert. Angesichts des großen Bekanntheitsgrads von Compton sowie der Größe und Ausdehnung seiner Forschungen – etwa sechzig Mitarbeiter und acht Expeditionen rund um die Welt – ist es nicht überraschend, dass ihm hauptsächlich die Feststellung des geomagnetischen Effekts auf kosmische Strahlung zugeschrieben wird. Aber wie in vielen anderen Bereichen der Wissenschaft war auch diese Entdeckung mehreren Forschern geschuldet. Einer davon war mein Vater.

KAPITEL 4: WO BÜCHER VERBRANNT WERDEN

Als Hoerlin am 3. März in Bremen von Bord des Frachters ging, waren alle seine Instrumente zur Messung der kosmischen Strahlung intakt und voll funktionstüchtig. Einige von ihnen wären beinahe in den Anden verloren gegangen, als Träger sie in über 6000 m Höhe in einem plötzlichen Sturm am Hualcan zurückließen. Am nächsten Morgen hatte mein Vater als der gewissenhafte Forscher, der er war, die Geräte gerettet, indem er die Teile aus dem Schnee ausgrub und vorsichtig in seine Messstation trug. Auf wundersame Weise überstand die Ausrüstung Schocks aller Art: frostige Temperaturen, enorme Höhen, Ritte auf Packeseln, Feuchtigkeit, Seereisen und … sogar das Zurückgelassenwerden im Schnee. Aber nun war alles sicher zurück in der Heimat. Als ihn sein Professor aus Stuttgart, Erich Regener, mit einem Lächeln und voller Anerkennung am Hafen empfing, trug Hoerlin zwei Pakete die Landungsbrücke hinab – Souvenirs aus Peru. Eines davon gab er Regener, einen edlen Poncho aus Alpacawolle, handgewebt von einem Dorfbewohner aus Huaraz. Das größere Paket, das Hoerlin bei sich behielt, enthielt eine seidige, weiche Decke aus Vikunjawolle, dem feinsten und teuersten Naturpelz. Vikunjas, kleine und grazile Tiere, haben einen mythischen Status in der peruanischen Seele. Mein Vater, der normalerweise nicht abergläubisch war, spürte, dass die Decke irgendwann ein gutes Zuhause finden würde.

Obwohl der Cordillera-Blanca-Expedition von 1932 zahlreiche Erstbesteigungen geglückt waren, wurde sie in Deutschland nicht mit demselben Pomp empfangen wie die Himalaya-Expedition 1930, als Hoerlin seinen Gipfelrekord aufgestellt hatte. Es stimmte zwar, dass die Unternehmung von 1932 „…das moderne Bergsteigen in den Anden eingeführt und […] Peru in der Bergsteigerwelt bekannt gemacht hatte“89, aber die Anden hatten nicht dasselbe Flair wie die Achttausender des Himalaya – ein dramatischerer Rahmen für deutsche Heldentaten. Und es waren Heldentaten, die Deutschland mit dem wiederaufkommenden Nationalismus und dem Anspruch als Herrenrasse suchte und würdigte.

Nach einem Jahr im Ausland war die Rückkehr nach Deutschland für meinen Vater ein gewaltiger Schock. Wenige Tage zuvor, in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar, war in Berlin der Deutsche Reichstag abgebrannt.90 Hitler nutzte die Gelegenheit und stellte den Brand als unwiderlegbaren Beweis dar, dass die Kommunisten einen Regierungsumsturz planten. Am nächsten Tag unterzeichnete er die Notverordnung „Zum Schutz von Volk und Staat“, mit der quasi die Grundrechte der Weimarer Republik außer Kraft gesetzt wurden. Das Recht auf freie Meinungsäußerung (inklusive der Pressefreiheit), das Versammlungsrecht, das Recht auf Unversehrtheit der Wohnung und des Eigentums wurden eingeschränkt oder aufgehoben. Mein Vater war gerade aus einem Land – Peru – zurückgekommen, in dem eine Revolution im Gange war, die aus der Notwendigkeit sozialer Reformen und demokratischer Ideale geboren wurde. Nun kehrte er in ein anderes Land – sein eigenes – zurück, in dem eine neue politische Partei eifrig dabei war, genau diese Ideale aufzugeben.

Hoerlin war sieben Monate unterwegs gewesen, als er an der Himalaya-Expedition 1930 teilgenommen hatte, und ein volles Jahr während der Cordillera-Blanca-Expedition 1932. Nach jeder Rückkehr musste er feststellen, dass sich die Lage in Deutschland erheblich verschlechtert hatte. Eine weltweite Wirtschaftskrise hatte das Land besonders hart getroffen; eine hohe Arbeitslosigkeit sorgte für Not und Aufruhr. Bittere Kämpfe zwischen den großen politischen Parteien hatten das Parlament ineffektiv werden lassen, und die anhaltende Instabilität der Regierung erzeugte ein Klima der Unsicherheit. Kommunisten, gemäßigte Sozialdemokraten und überzeugte Nationalsozialisten wetteiferten in einer Reihe von Wahlen um die Macht. Am 30. Januar 1933 wurde Hitler zum Reichskanzler ernannt – der Beginn einer der fürchterlichsten Schreckensherrschaften aller Zeiten. Mein Vater hatte es kommen sehen. Er sagte einmal zu mir: „Für längere Zeit weg zu sein, gab mir den Vorteil neuer Blickwinkel. Ich sah den Vertrauensverlust und Hitlers Beharrlichkeit in seinen Planungen, die Lücke zu füllen.“

Die neue Regierung der Nationalsozialisten infiltrierte mit blitzartiger Geschwindigkeit alle Aspekte des Lebens in Deutschland: den intellektuellen und kulturellen Unterbau des Landes, die wissenschaftlichen Gemeinschaften und sogar den Sport. Am 24. März verabschiedete der Reichstag das Ermächtigungsgesetz, das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“, welches die rechtliche Basis für Hitlers Diktatur bildete und ihm ungehinderte Macht gab.91 Kommunisten, Radikale, Juden, Zigeuner und Behinderte wurden systematisch an den Rand gedrängt und bedroht. Der Antisemitismus, der in großen Teilen Europas in unterschiedlicher Intensität seit langer Zeit existiert hatte, wurde nun in Deutschland durch Hitlers Politik bewusst angefeuert. Gleichzeitig dienten neue Gesetze dem Zweck, das Land von jüdischem Einfluss und letztlich von den Juden selbst zu befreien. 1933 lebten in Deutschland insgesamt etwa 525.000 Juden, weniger als 1 % der Gesamtbevölkerung – aber sie wurden zum Sündenbock für das gesamte Land. Einem bekannten Historiker der damaligen Zeit zufolge überwog „… ein Gefühl der Dringlichkeit, aber nicht der Panik“92, obgleich die Warnsignale leuchteten. 37.000 Juden flohen 1933 aus Deutschland, der größte Exodus bis 1937.

Während andere die Augen vor den unheilvollen Zeichen einer totalitären Machtübernahme verschlossen, wurde mein Vater Zeuge der zunehmenden Übergriffe und Ungerechtigkeiten. In den Monaten nach der Wahl wurde „Heil Hitler“ zum Standardgruß und Tumulte nahmen überhand. Antisemitische Pamphlete und rassistische Graffiti waren überall in deutschen Städten zu sehen. Juden wurden verspottet, beschimpft und körperlich misshandelt, wenn sie die Straßen entlanggingen. Hoerlin war zutiefst und unwiderruflich getroffen von „einer völlig grotesken und fröstelnden Welt, die unter dem Schleier einer noch mehr fröstelnden Normalität verborgen war“.93 Das Leben veränderte sich nicht nur für diejenigen, die sich in der Schusslinie befanden, sondern auch für reinrassige Arier. Im ersten Regierungsjahr Hitlers gab es sofortige Auswirkungen auf Hoerlins Arbeitsumfeld, seine Heimatstadt und sein geliebtes Bergsteigen. Das Leben unter den Nationalsozialisten wurde nach 1933 zunehmend schrecklicher, aber die Wurzeln des Horrors waren auch schon früh durchaus sichtbar.

Eine Naziflagge über dem Technischen Institut in Stuttgart war das nicht gerade subtile Signal, mit dem der zurückkehrende Bergsteiger/Wissenschaftler am Institut für Physik begrüßt wurde, wo die Kollegen Hoerlins Erfolge in Peru mit Champagner feierten. Während oberflächlich vielleicht eine „fröstelnde Normalität“ herrschte, war die unterliegende Stimmung am Institut mit seinem relativ hohen Anteil an Juden deutlich gespannt. Im Frühjahr 1933 erließ Hitler eine Vielzahl von Gesetzen, die über das Ermächtigungsgesetz hinausgingen und den Schraubstock seiner Macht anzogen. Das erste, welches im April genehmigt wurde, war das einzige offene Antisemitismus-Gesetz, das in Deutschland nach 1871 zur Anwendung kam. Das „Berufsbeamtengesetz“ ermöglichte es rechtlich, Bürger bzw. Beamte rein auf Basis ihrer Rassenzugehörigkeit aus dem Dienst zu suspendieren. Dazu genügte ein einziger jüdischer Großelternteil.94 Da das Universitätswesen verstaatlicht war, galten alle Angestellten als Staatsbeamte und mussten einen Beleg für ihre arische Herkunft vorlegen. Schlussendlich diente das Gesetz dazu, die Universitäten von Juden zu „säubern“. Hitler verachtete Universitäten, die Bastionen des intellektuellen Diskurses. Diese leisteten nur geringen Widerstand, und es wird geschätzt, dass allein 1933 an die 1200 Juden aus universitären Posten entlassen wurden.95

Nachdem Hoerlin ausgedehnte Dokumentationen seines Familienhintergrunds vorgelegt hatte, wurde er am 29. Mai 1933 als vollblütiger Deutscher und Christ beglaubigt.96 Dies bereitete ihm allerdings wenig Freude. Die Karrieren so einiger Arbeitskollegen und enger Freunde wurden durch das neue Gesetz abrupt beendet. Der höchste Beamte der Universität, der Physiker Peter Paul Ewald,97 hatte eine jüdische Mutter und einen halbjüdischen Vater. Ewald, einer von Hoerlins meistgeachteten Professoren, hatte das Physikalische Institut gegründet und war 1932 zum Rektor der Universität ernannt worden. Mit der Einführung des Berufsbeamtengesetzes konnte er diesen Posten nicht länger innehaben.

Das Gesetz vom April, welches zunächst auf Juden angewandt wurde, wurde im Juni auf Arier ausgeweitet, die mit Juden verheiratet waren. Ein Doktorandenkollege Hoerlins wurde als „politisch inkorrekt“ gebrandmarkt, da er mit einer Jüdin liiert war und zur politischen Linken tendierte. Er hatte die Pflegetochter Regeners, des Doktorvaters von Hoerlin, geheiratet. Auch Regener selbst war betroffen, da seine Frau Jüdin war. Naiv hoffte er, dass das Schlimmste vorbei war und konnte sich nicht vorstellen, dass die Judenverfolgung und die Zerstörung des akademischen Lebens in Deutschland gerade erst begonnen hatten.

Die meisten Universitätsstudenten waren enthusiastisch über den Regierungswechsel und begrüßten den Nationalsozialismus trotz seiner Bedrohung für den vortrefflichen Ruf der deutschen Wissenschaft. Mit der strategischen Brillanz, die nicht selten den Ausbau ihrer politischen Macht auszeichnete, hatten die Nationalsozialisten seit 1926 eifrig den Aufbau einer schlagkräftigen Studentendivision vorangetrieben. Die Mitglieder des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbunds trugen braune Hemden mit Hakenkreuzen und leiteten turbulente pro-nationalsozialistische Versammlungen. In unausweichlicher Folge wurden diese Versammlungen durch antisemitische Schlachtrufe aufgeheizt und endeten meistens in wahllosen Demütigungen und Verprügelungen von Juden.

Im Frühjahr 1933 organisierte der Studentenbund eine Kampagne zur Bücherverbrennung, um Deutschland von jüdischer und anderer ausländischer oder verräterischer Literatur zu „reinigen“. Die Kampagne startete im April mit der Ankündigung einer „Aktion wider den undeutschen Geist“. Der Plan für die Maifeierlichkeiten sah Fackelzüge, Marschmusik, Nazilieder, Reden von Naziführern und, am dramatischsten von allem, riesige Freudenfeuer vor, in die als undeutsch bezeichnete Bücher geworfen wurden. Darunter waren Bücher jüdischer Autoren wie Sigmund Freud, Albert Einstein und Leon Trotzki, aber auch nicht-jüdischer Autoren wie Helen Keller, Ernest Hemingway und Jack London. Auf der Berliner Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 verkündete der Reichspropagandaminister Joseph Goebbels:

„Deutsche Männer und Frauen! Das Zeitalter eines überspitzten jüdischen Intellektualismus ist nun zu Ende […] Und deshalb tut ihr gut daran, um diese mitternächtliche Stunde den Ungeist der Vergangenheit den Flammen anzuvertrauen. Das ist eine starke, große und […] symbolische Handlung – eine Handlung, die vor aller Welt dokumentieren soll: Hier sinkt die geistige Grundlage der November-Republik zu Boden, aber aus diesen Trümmern wird sich siegreich erheben der Phönix eines neuen Geistes.“ 98

Goebbels hatte Recht, was den neuen Geist betraf. Über 25.000 Bücher wurden verbrannt und die Bewegung breitete sich von den Universitätsstädten auf Städte in ganz Deutschland aus. Es war eine beängstigende Vorschau auf jene Zensur, welche die nationalsozialistische Regierung in der Zukunft praktizieren würde. Über hundert Jahre zuvor hatte der deutsch-jüdische Dichter Heinrich Heine auf schaurige Weise prophezeit: „Wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.“99

In Stuttgart wurden plündernde Gruppen von Studenten im letzten Moment davon überzeugt, den jüdischen Bibliothekar, den sie als des Teufels Assistenten ansahen, weil er aus ihrer Sicht fragwürdige Bücher erwarb, nicht zu belästigen. Gerüchten zufolge war der „politisch inkorrekte“ Regener ebenfalls ein Ziel. Als Hoerlin dies hörte, ernannte er sich sofort zum Wächter der Familie Regeners. Bewaffnet mit seinem Eispickel zog der unerschrockene Bergsteiger in ihr Appartement über dem Hörsaal des Physikalischen Instituts und schlief auf dem Boden hinter der Eingangstür, bereit gegen aggressive junge Schläger Widerstand zu leisten. Mit seiner Größe von über 1,85 Metern und auf der ganzen Universität für seine bergsteigerischen Taten bekannt, war Hoerlin eine furchterregende Abschreckung für jeden Aufwiegler. Das Haus der Regeners war sicher. Fünfzig Jahre später sollte Regeners Sohn die Güte meines Vaters zurückzahlen.

Kurz nach seiner Rückkehr aus Peru war Hoerlin wieder bei seiner Familie in Schwäbisch Hall, die erleichtert war, ihn wieder bei sich zu haben. Sein Vater, der großes Vertrauen in die bergsteigerischen Fähigkeiten seines Sohnes besaß, hatte sich mehr über die Gefahren der blutigen Revolution in Peru gesorgt als über die einer Besteigung der höchsten Gipfel.100 Seine Schwester, bei der kurz zuvor Tuberkulose diagnostiziert worden war, freute sich besonders, ihn wiederzusehen. Auch sie hatte sich Sorgen gemacht. In ihrer ausgedehnten Korrespondenz mit dem Bruder in Peru hatte sie ihm mitgeteilt, dass der für den 15. August geplante Südamerika-Flug des deutschen Zeppelins – des Stolzes der Nation – aufgrund von politischen „Wirren“ gestrichen worden war. Seine Mutter, für die gutes Essen Medizin gegen die meisten Ängste war, bereitete seine Leibspeise zu: Bärlauchsuppe, Spätzle, Rotkraut und Würste mit viel Senf. Die Gespräche während des Abendessens machten meinem Vater aufs Schärfste bewusst, wie sehr das neue nationalsozialistische Regime Schwäbisch Hall bereits erreicht hatte und alle Gefahren in den Schatten stellte, denen er in Südamerika begegnet war. Das typisch schwäbische Essen war zwar köstlich, bot aber nur kurzzeitig eine Atempause von den verstörenden politischen Entwicklungen.

Im Hause Hoerlin herrschte eine liberale Haltung. Am Tag von Hitlers Boykott jüdischer Läden und Geschäfte im April demonstrierte Adolf Hoerlin sein Missfallen, indem er seinen besten Sonntagsanzug anzog und resolut über den historischen Marktplatz von Schwäbisch Hall schritt, um sich an seine jüdischen Geschäftspartner zu wenden. Der politisch aktive Händler und Charakterkopf war zwischen 1920 und 1930 zum Stadtrat gewählt worden und war zudem ein bekanntes Mitglied der örtlichen Geschäftswelt. Seine Unterstützung der jüdischen Händler war eine unmissverständliche Nachricht an die Einwohner von Schwäbisch Hall. Zu dieser Zeit wurde selbst ein öffentlicher Händedruck zwischen Ariern und Juden schief angesehen. Bedauerlicherweise zählte mein Großvater zu einer Minderheit unter den 10.000 Einwohnern, von denen viele gejubelt hatten, als im Mai Bücher in einem gewaltigen Feuer auf dem Rathausplatz verbrannt wurden und einen schwarzen Brandfleck zurückließen. Heute erinnert ein Davidstern im Kopfsteinpflaster an den zerstörerischen Akt.

Nach der Wahl Hitlers zum Reichskanzler wurde es üblich, Nazi-Uniformen in den Gassen von Schwäbisch Hall, Hakenkreuzfahnen an den Häusern über dem idyllischen Fluss und geometrische nationalsozialistische Graffiti an den alten Steinmauern zu sehen.101

Unentrinnbar griff der Antisemitismus um sich; die Gifte von Feindseligkeit und Abscheu begannen die Atmosphäre bis zu dem Punkt zu sättigen, an dem Juden als „Parasiten des Volks“ gebrandmarkt wurden.102 Nazi-Funktionäre, die sich darauf konzentriert hatten, Nichtjuden einzuschüchtern, die sich mit Juden solidarisierten, begannen Sanktionen und Gesetze durchzusetzen, die religiösen Hass legitimierten. Mit erschreckender Geschwindigkeit breitete sich der Nationalsozialismus in allen Bereichen der Gesellschaft aus. Obwohl Hoerlin selbst kein Ziel von Gewalt, Intoleranz oder Ungerechtigkeit war, erschütterten die Machenschaften der nationalsozialistischen Regierung seine Grundwerte in Bezug auf Menschenwürde und Menschenrechte. Die Universität, an der er studiert hatte, war dezimiert, seine Heimatstadt befleckt und die Bergsteigerwelt eingenommen worden. Das Ziel der Nazis von Gleichschaltung vereinigte private und öffentliche Einrichtungen unter dem böswilligen Schirm einer vereinheitlichten und zentralisierten Staatsstruktur. Der daraus resultierende Identitäts- und Integritätsverlust von Vereinen, professionellen Gruppen, Organisationen und Institutionen bedeutete, dass die Nationalsozialisten die völlige Kontrolle über die Künste, Gewerkschaften, Kirche sowie Freizeit- und Sportvereine besaßen. Gleichschaltung wurde für viele zu einem Fluch in Deutschland, „… ein Wort so rätselhaft und unpersönlich, dass es keine Vorstellung von der Ungerechtigkeit, dem Terror und dem Blutvergießen vermittelt, welches es umfasste“.103

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