Kitabı oku: «Totensee», sayfa 3
Überschrift 1
9. Kapitel
Lisa hob den Blick und bemerkte, dass auch der junge Typ etwas verloren herumstand. Sie beobachtete, wie er sie musterte und versuchte, ihren Blick zu erhaschen. Genervt blickte sie in eine andere Richtung, aber dadurch ließ er sich offensichtlich nicht abschrecken. Er pflügte durch die sportlichen Senioren entschlossen auf sie zu und machte Anstalten, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Immerhin, er roch gut, stellte Lisa fest, als er endlich neben ihr stand. Er hatte sein verschwitztes Reiseshirt von vorhin gegen ein rotes T-Shirt getauscht. Diesmal prangte darauf der Aufdruck einer bekannten Tierschutzorganisation. „Safe the Animals of the World“. Lisa entzifferte mühsam die ausgewaschenen Buchstaben. Immerhin, sehr abwechslungsreich, amüsierte sie sich heimlich.
„Hey, bist du auch zum Wandern hergekommen?“, fragte er Lisa, nicht eben einfallsreich.
„Ja, unter Anderem bin ich auch zum Wandern hergereist.“ Lisa lächelte ihn höflich an.
Eine Augenbraue rutschte frech nach oben:
„Unter anderem???“, bohrte er nach.
Lisa biss sich in Gedanken auf die Zunge. Der Typ war nervig, hatte sie doch gleich gedacht. Und schlau war er auch, sonst hätte er nicht sofort das entscheidende Wörtchen aufgespießt. Aber ihr Anliegen ging keinen etwas an. Sie riskierte nur sensationslüsterne Nachfragen.
Ihre Antwort fiel demnach patziger aus, als gewollt: “Ja, unter anderem“.
Das tat seiner guten Laune keinen Abbruch.
„Ach, entschuldige, ich habe mich dir noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße Jonas.“
„Lisa“, murmelte sie und schaute nach vorne zu Bruder Ansgar, der gerade mit seiner Führung über das Klostergelände starten wollte.
Jonas lachte:
„O.K., ich habe mir gleich gedacht, schon als ich dich im Bus gesehen habe, dass du irgendwie nicht zu den alten Leuten passt, die hier rumschwirren. Junge Leute verschlägt es nicht unbedingt freiwillig in diese Einöde. Ich bin auch eher beruflich hier. Wir sehen uns hoffentlich später.“
Mit diesen Worten verabschiedete er sich von ihr und wandte sich den herzkranken Herren zu, um sie in ein Gespräch über Wandertouren zu verwickeln.
Erleichtert nahm Lisa seine Worte zur Kenntnis. So übel, wie sie zuerst gedacht hatte, war der Typ gar nicht. Er war sogar ganz nett, wenn sie es recht bedachte. Allerdings hatte sie keine Zeit für einen unbeschwerten Urlaub, sie musste sich auf ihre Aufgabe konzentrieren. Diese Klosterführung war wichtig, so erhielt sie einen ersten Überblick über die Örtlichkeiten.
Bruder Ansgar kannte die Geschichte des Klosters seit dessen Gründung im Jahre 1165 in und auswendig. Er überhäufte seine Schäflein mit Daten und Fakten, dass ihnen allen der Kopf schwirrte.
Die Gruppe der Neuankömmlinge trabte ergeben hinter Bruder Ansgar über den Kopfsteingepflasterten Innenhof des Klosters in Richtung der imposanten Kirche. Der Rundgang über die Klosteranlage war wie eine Zeitreise ins düstere Mittelalter. Der gotische Baustil hatte etwas Magisches an sich, dachte Lisa, als sie, den Kopf im Nacken angesichts der hoch aufstrebenden Architektur, die Säulen und Bögen bewunderte. Die meisten Bauwerke der Anlage waren teilweise noch erstaunlich gut erhalten. Allerdings waren auch fortlaufend Restaurierungsarbeiten notwendig. Diese Aufgabe verschlang immens viel Geld, das musste Bruder Ansgar auf eine Nachfrage seitens der alten Herren eingestehen. Nach dieser Information beschloss Lisa, sich nicht mehr über die Hotelpreise zu ärgern.
Die mächtige Kirche war der Mittelpunkt und das Prunkstück der Klosteranlage. Lisa bewunderte im Inneren des sakralen Bauwerkes die hoch aufragenden Säulen, die zahllosen Reihen der unbequemen, hölzernen Kirchenbänke und den mächtigen, Ehrfurcht gebietenden Altar. Dahinter ragten die bunt verzierten, kostbaren Kirchenfenster in die Höhe, die wichtige Begebenheiten aus der heiligen Schrift zeigten.
Am Ende der Besichtigungstour besuchte die Gruppe den mittelalterlichen Kräutergarten. Die Mönche hatten diesen Garten wieder, dem Vorbild um 1450 entsprechend, gestaltet. Bei der Begehung entpuppte sich eine der älteren Damen als regelrechte Kräuterhexe und fragte Bruder Ansgar Löcher in den Bauch.
Bei einer ausgesprochen seltenen Pflanze, die in einem Beet blühte, musste er allerdings bei der lateinischen Bezeichnung passen, die das Kräuterweib unbedingt wissen wollte. Lisa wandte erstaunt den Kopf und starrte Jonas an, als er blitzschnell in die Bresche sprang und die lateinische Bezeichnung dieses Krautes parat hatte. Sofort hingen alle Rentnerinnen regelrecht an den Lippen dieses gebildeten jungen Mannes. Sie löcherten ihn nun mit ihren botanischen Fragen.
Lisa bemerkte, wie Bruder Ansgar beleidigt war, dass er nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. Sie nutzte diesen Augenblick, um ihm eine scheinbar harmlose Frage zu stellen, die ihr die ganze Zeit schon auf der Seele brannte, nämlich ob es hier alte Legenden oder Schauergeschichten gab, die sich um die Geschichte des schwarzen Sees rankten.
Der Mönch erstarrte kurz, sein misstrauischer Gesichtsausdruck verstärkte sich, dann riss er sich zusammen, lachte die Frage weg und verkündete salbungsvoll, im Brustton der Überzeugung:
„Über diesen gottgeweihten Flecken gibt es keine Schauergeschichten zu erzählen. Zu allen Zeiten haben hier gottesfürchtige Mönche ein hartes, arbeitsames und friedliches Leben geführt.“
Aber Lisa bemerkte sofort, wie sich ein feindseliger Ausdruck in seine Augen schlich. Sie ließ nicht locker:
„Ich habe mal gehört, dass es hier irgendwo eine Gedenkstätte geben soll, die den Opfern des Totensees gewidmet ist. Stimmt das?“
Bruder Ansgar konnte jetzt nur noch mit Mühe und Not seinen aufkeimenden Ärger unterdrücken. Er wiegte den Kopf bedächtig hin und her.
„Der Abt unseres Klosters sieht es nicht gern, wenn solche alten Geschichten ausgegraben werden. Das ist unserem modernen, auf Erholung ausgerichteten Image nicht zuträglich. Wir wollen keinen Gruseltourismus, sondern Gäste die die vollkommene Ruhe und Abgeschiedenheit suchen,“ flüsterte er Lisa zu, in der Hoffnung, die anderen würden es nicht mitbekommen.
Lisa insistierte nachdrücklich:
„Aber es gibt diese ungewöhnliche Gedenkstätte?“
Bruder Ansgar wand sich sichtlich und schaute nervös zu den anderen Gästen, die immer noch den jungen Mann umringten. Er rang sich zur Wahrheit durch:
„In der Tat, es gibt diesen Ort, der den Opfern des,“ er senkte seine Stimme zu einem heiseren Flüstern,“ Totensees gewidmet ist. Aber das gehört nicht zum allgemeinen Besichtigungsprogramm. Aber…,“ er zögerte, „meines Wissens sind dort Gott sei Dank in den vergangenen Jahren keine Gedenkveranstaltungen mehr durchgeführt worden. Es gab wohl schon länger keine Opfer …“, seine Stimme verlor sich in unangenehmen Erinnerungen.
“Zeigen sie mir den Weg dorthin!“
Lisa erschrak vor ihrer eigenen Stimme. Das war ihr fast im Befehlston herausgerutscht.
Bruder Ansgar wand sich erneut, aber dann flüsterte er ihr ins Ohr, welchen Weg sie nehmen musste.
Lisa nickte ihm zu und machte sich sofort auf die Suche.
Überschrift 1
10. Kapitel
Lisa gelangte nach nur wenigen Minuten eiligen Fußmarsches an ihr Ziel.
Allerdings konnte sie nicht fassen, welcher Anblick sich ihr bot. Darauf wäre sie nicht im Traum gekommen. Hatten sie alle angelogen?
Aber ihre Großmutter war nicht mehr ganz bei Kräften gewesen, vielleicht waren ihre Erinnerungen unvollständig oder sie hatte aus Trauer entscheidende Fakten verdrängt.
Und auf die Aussagen des Mönchs konnte sie sich gar nicht verlassen, dass hatte sie schon bemerkt. Die Klosterleitung wollte aus geschäftlichen Gründen die Vergangenheit verschweigen.
Was sie hier überblickte war jedenfalls kein Denkmal!
Lisa überwand ihren ersten Schock und betrachtete genauer die Umgebung.
An der äußersten Ecke der hohen, teils verwitterten Außenmauer fand Lisa das vernachlässigte Gräberfeld. Es wurde von einer verfallenen, mit Moos überwucherten, brusthohen Ziegelsteinmauer umfriedet, die von einem schiefen, verrosteten Metalltor durchbrochen wurde. Vor lauter Aufregung beschleunigte sich ihr Atem.
Jetzt würde sich zeigen, ob ihre Großmutter auf dem Totenbett noch ganz bei Sinnen gewesen war.
Das Tor quietschte leise, als sie es zögernd aufdrückte und der Kies knirschte unter ihren Fußsohlen, als sie den Hauptpfad entlang schritt. Gleichzeitig beschleunigte sich abermals ihr Herzschlag und hämmerte wie ein Schmiedehammer in ihrer Brust. Erneut hielt sie inne, schaute sich sichernd nach allen Richtungen um und überblickte dann die einsam und verlassen in der Nachmittagssonne liegenden Grabstätten, die einen trostlosen Eindruck machten. Sie waren von Moosen und Flechten überwuchert. Einige Grabsteine waren im Laufe der Zeit umgefallen, andere halb im Erdreich versunken. Die Schatten in den Mauerecken wurden bereits länger. Aus dem Augenwinkel meinte sie zu sehen, wie eine Gestalt hinter der Mauer abtauchte, aber vielleicht hatten ihre überreizten Nerven sie bloß getäuscht.
Hierher, in diese gottverlassene Einöde, verirrten sich keine Hotelgäste.
Die bloße Existenz dieser Gräber war für Lisa immerhin der erste reale Beweis, dass die seltsame Geschichte ihrer Großmutter nicht der Fantasie der alten Frau entsprungen war. Es handelte sich allerdings nicht um eine bloße Gedenkstätte.
Tatsächlich handelte es sich hier um einen Friedhof. Das fand sie äußerst merkwürdig! Wo sich ein Friedhof befand, waren mit Sicherheit auch Leichen begraben worden. Wie vertrug sich das mit der Erzählung, der angeblich verschwundenen Opfer des Totensees? Mit noch immer klopfendem Herzen und abwesendem Blick stromerte sie einmal quer durch die Gräberreihen und erhaschte hier und da eine verwitterte Grabinschrift. Nach und nach beruhigte sie sich und ihr gesunder Menschenverstand gewann wieder die Oberhand. Sie beschloss, die Suche nach der Grabstätte ihrer verstorbenen Großtante systematischer anzugehen.
Lisa versuchte mit ihren Augen die Größe des Friedhofs abzuschätzen. Dabei bemerkte sie, dass die Sonne schon tief im Westen stand und die Bäume lange, dunkle Schatten warfen. Der Wind hatte ein wenig aufgefrischt und brachte sie zum Frösteln.
Zum allerersten Mal beschlich Lisa an diesem Nachmittag das dumpfe Gefühl, dass der Totensee dunkle Geheimnisse verbarg, die besser nicht ans Tageslicht kommen sollten. Hier war sie weit, weit weg vom modernen Wellness Betrieb der Hotelanlage. Und auch sehr einsam. Sie schaute sich um, keine Menschenseele war zu entdecken.
Lisa machte sich daran, alle Gräberreihen systematisch abzuschreiten und die Gräber zu zählen. Außerdem wollte sie dabei Ausschau nach dem Grab halten, welches sie suchte. Aber sie machte sich keine übertriebene Hoffnung, die Stelle schon heute ausfindig zu machen. Langsam brach die Abenddämmerung herein und sie hielt sich in einer besonders schattigen Ecke auf. Außerdem waren viele Gräber mit Moos und anderen Flechten derart überwuchert, dass man kaum die Inschriften entziffern konnte. Womöglich musste sie einige Grabinschriften freilegen, um die Namen zu lesen.
Mit gesenktem Kopf und verschränkten Armen, um das Frösteln zu unterdrücken, wanderte Lisa an den Gräbern entlang. Sie kam nur langsam voran. Zufällig hatte sie die älteste Ecke des Gräberfeldes erwischt, was daran zu erkennen war, dass die Grabsteine so verwittert waren, dass die Inschriften nur noch mühsam zu entziffern waren. Ab und zu erhaschte sie eine Jahreszahl.
Dabei fiel Lisa noch eine Tatsache unangenehm ins Auge, die ihr ihre Großmutter nicht erzählt hatte oder hatte sie nichts davon gewusst?
Sie verdrängte das aufkeimende Gefühl drohenden Unheils, kramte einen Stift und ein gefaltetes Blatt Papier aus der Tasche ihrer Jeans und überschlug die Anzahl der Grabstätten, indem sie ihre eigenen Schritte abzählte.
Lisa maß auf diese Weise die Breite und Länge der Anlage und einzelner Gräber. Sie kam auf die erschreckende Anzahl von über tausend Gräbern. Allerdings relativierte sich diese Zahl, weil sich der Zeitraum der Begräbnisse auf über achthundert Jahre erstreckte. Das machte ein bis zwei unerklärliche Todesfälle pro Jahr aus. Inzwischen war sie bei den Feldern aus dem zwanzigsten Jahrhundert angelangt.
Plötzlich meinte sie, einen bekannten Namen erkannt zu haben und ging in die Hocke, um die Inschrift genauer zu betrachten. Sie streckte gerade die Hand aus, um die moosbedeckten Buchstaben eines Namens, der mit einem „M“ begann, freizulegen.
„Na, wie war ich?“, hörte sie, wie aus dem Nichts, eine fröhliche Stimme hinter sich und erlitt vor Schreck fast einen Herzinfarkt. Mit heftig zitternden Knien sank sie ins hohe Gras und fiel mit ihren Oberkörper gegen den Grabstein.
Als Lisa das Gesicht hob, erkannte sie Jonas, der über sie gebeugt da stand und sie frech angrinste. Allerdings wechselte sein Ausdruck zu ehrlicher Sorge, als er bemerkte, wie stark er sie erschreckt hatte.
„Oh, entschuldige, das wollte ich nicht. Tut mir leid. Ich wollte die alten Leutchen nur ablenken, damit du den Mönch ausfragen konntest. Dir liegt was auf der Seele, das merke ich dir an,“ sagte er mit besorgter Stimme und hockte sich zu ihr ins hohe Gras.
Lisa brachte nur ein kraftloses Nicken zustande und meinte müde:
„Für heute reicht es mir. Ich bin erschöpft und will in mein Zimmer. Vielleicht erzähle ich dir die Geschichte mal, aber nicht mehr heute.“
Sie streckte ihm ihre Hand hin, damit er ihr aufhalf und war immer noch so angeschlagen, dass sie sich bei ihm einhaken musste. Gemächlich wanderten sie ins Hotel zurück.
Zusammen mit der Gruppe der Neuankömmlinge nahm Lisa ein frühes Abendessen ein, bei dem sie sich geduldig die Geschichten der alten Herren über ihre sportlichen Erfolge anhörte. Sie fühlte sich fast wie bei ihrer Arbeitsstelle im Seniorenheim. Lisa beobachtete, wie Jonas mit der selbsternannten Kräuterhexe und Bruder Ansgar über seltene Kräuter fachsimpelte und tauschte mit ihm einen amüsierten Blick aus. Anschließend suchte sie ihr Hotelzimmer auf. Sie schaffte es gerade noch, sich die Zähne zu putzen, bevor sie erschöpft in ihr Bett fiel und auf der Stelle einschlief.
Überschrift 1
11. Kapitel
In den frühen Morgenstunden verfiel Lisa in einen unruhigen Schlaf. Sie wachte davon auf, dass ein blaues Blinklicht durch das offene Fenster sein grelles, rotierendes Licht bis auf ihre Bettdecke schickte. Sie meinte, auch das schwache Geräusch eines Martinshorns in der Ferne zu vernehmen.
Wie von Furien gejagt sprang Lisa aus dem Bett und stolperte schlaftrunken ans Fenster. Die kühle Nachtluft belebte schlagartig ihre Sinne. Waghalsig beugte sie sich hinaus über die Brüstung und forschte in der Dämmerung nach der Ursache des Blaulichts.
Der bläuliche Schein kam aus der Richtung, in der sie den See vermutete. Seine riesige, schwarze Fläche wirkte im bleichen Mondlicht tatsächlich wie der Höllenschlund und strahlte etwas Unheilverkündendes aus. Es waren in der Tat mehrere Blaulichter, die eine gespenstische Szenerie beleuchteten.
Ganz schwach meinte sie in der langsam aufkommenden Morgendämmerung mehrere Fahrzeuge als kleine Punkte am Seeufer zu erkennen. Sie kniff angestrengt die Augen zusammen. Polizeifahrzeuge? Feuerwehr?
Unwillkürlich überkam Lisa ein nie gekannter Adrenalinschub. Jetzt gab es kein Halten mehr. Nichts und Niemand würde sie davon abhalten, den Dingen hier auf den Grund zu gehen.
Flüchtig tauchte in ihrem Kopf noch der Gedanke auf, ihren neuen Bekannten Jonas, dessen Zimmer sich nur einige Meter entfernt auf dem Flur befand, zu fragen, ob er mitkommen wollte. Lisa verwarf diesen Gedanken jedoch in der gleichen Sekunde, in der er sie streifte. Nein, das war allein ihre Angelegenheit. Sie würde keinen anderen Menschen da mit hineinziehen.
In Windeseile fuhr Lisa in ihre Jeans und streifte ein T-Shirt über. Dann raffte sie ihre Treckingschuhe zusammen und rannte mit fliegenden Haaren und bloßen Füßen, um kein lautes Getrampel zu verursachen, durch die menschenleere Hotelhalle in den Innenhof des Klosters.
Lisa drückte die Klinke des Haupttores.
„So ein Mist auch“, entfuhr es ihr. Es war verschlossen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich erneut um einige Takte. „War das hier nachts etwa ein Gefängnis?“
Mit fliegenden Händen hangelte sie sich an der Mauer entlang. Nach einigen Metern ertastete sie eine kleine Seiteneingangstür, die mit einem altmodischen Türschloss gesichert war. Lisa rüttelte energisch daran, nichts tat sich, offensichtlich auch abgeschlossen. Sie ging einige Meter rückwärts, nahm ordentlich Anlauf und rannte gegen das Hindernis, wobei sie versuchte, das Holz mit ihrem soliden Wanderstiefel einzutreten. Erstaunlicherweise hielt das Schloss stand, aber die Bohlen des Türblatts waren vom Alter morsch und splitterten entzwei.
Lisa bückte sich, bog die entstandene Öffnung mit den Händen auseinander und kroch hindurch. Schon befand sie sich im Freien. Mit zerkratzten Armen und von Brennnesseln geschundenen Beinen rappelte sie sich auf und peilte die Lage.
Genau, das Blinklicht zeigte ihr den Weg. Erst rannte sie Querfeldein, bis sich ein kleiner Trampelpfad im Morgengrauen zeigte, der in Richtung des dunklen Wassers führte. Lisa beschleunigte ihre Schritte. Jetzt kam ihr ihre Fitness zugute. Tag für Tag legte sie unzählige Schritte bei ihrer Arbeit zurück. Längere Strecken im Laufschritt bewältigte sie, dank dieses Trainings, routiniert. Endlich öffnete sich das Gebüsch und gab den Blick auf den Uferstreifen frei. Sie schätzte, dass sie nur etwa einen Kilometer gerannt war.
Ihr Laufschritt wurde durch ein weiß-rotes Absperrband brutal abgebremst, als sie um eine enge Kurve rannte. Fast hätte sie das Band zerrissen.
Obwohl gerade erst die Morgendämmerung hereinbrach, hatte sich wie aus dem Nichts eine überschaubare Menschenmenge versammelt. Vermutlich kamen die Leute aus dem nahe gelegenen Dorf, überlegte Lisa. Nachdem sie einige Sekunden, wie alle anderen, mit offenem Mund wie versteinert auf die gespenstische Szenerie gestarrt hatte, gewann ihr Verstand wieder die Oberhand.
Sie war nicht hier um zu glotzen, sondern um herauszufinden, was passiert war und ob das für ihre eigenen Nachforschungen eine Bedeutung hatte.
Ein sehr unangenehmes Ziehen in der Magengegend, das Lisa immer als Bauchgefühl bezeichnete, meldete ihr bereits jetzt, dass irgendetwas schreckliches hier am See passiert sein musste. Auch wenn sie bislang noch keinerlei Beweise dafür beibringen konnte, bis auf das große Aufgebot an Hilfskräften zu nächtlicher Stunde.
Sie zählte die Einsatzfahrzeuge. Es waren drei Polizeiwagen vor Ort, zwei wuchtige, große Feuerwehrfahrzeuge und ein Notarztwagen dessen hintere Türen offen standen und den Blick auf eine leere Bahre freigaben. Zu guter Letzt bemerkte Lisa einen schwarzen, altmodischen Leichenwagen mit einem vornehm eingravierten Engel auf der mattierten Seitenscheibe, dessen hintere Türen ebenfalls geöffnet waren. Auf der Erde, neben dem Fahrzeug lag ein Leichensack auf einer Bahre.
Lisa kannte sich mit solchen Dingen aus, schließlich arbeitete sie im Pflegeheim und der Tod war durchaus Alltag an ihrem Arbeitsplatz. Das Bestattungsinstitut Lange, holte fast wöchentlich die Verstorbenen ab. Aber da war Lisa auch sicher, dass alle nach aufopferungsvoller Pflege eines natürlichen Todes gestorben waren.
Überschrift 1
12. Kapitel
Innerhalb des abgesperrten Geländes wuselten mehrere Personen umher. Sie sah einige Polizisten, unschwer an ihren Uniformen zu erkennen. Die in Zivil gekleideten Personen waren Kripobeamte, da war sich Lisa sicher. Die Mitarbeiter der Spurensicherung waren leicht auszumachen. Sie liefen in weißen Overalls herum und wirkten wie Außerirdische, die mit den ersten Strahlen der Morgensonne auf die Erde gerutscht waren. Jetzt verfolgte sie, wie eine ältere Frau, mit einer Arzttasche in der Hand, zum Leichensack ging und sich hinunterbeugte, um den Reißverschluss zu öffnen.
Vor lauter Entsetzen wurde Lisa schwindelig. Sie hatte vermutet der Sack sei leer, weil er so flach dalag. Das durfte einfach nicht sein, dass sich eine Leiche darin befand. Das konnte nur der tote Körper eines dünnen, schmalen Menschen sein. Die Frau war dann mit Sicherheit eine Gerichtsmedizinerin.
Es gab kein Halten mehr für Lisa. Sie beugte sich unter dem Plastikband hindurch und lief in Windeseile auf die Frau zu, die gerade den Sack öffnete.
Sofort rannten mehrere Polizisten hinter ihr her, um sie abzufangen. Vergeblich. Lisa schlug Haken wie ein Feldhase und flitzte schnell wie ein Wiesel den Uniformierten davon. Aus vollem Lauf, so dass die Grassoden stoben, stoppte sie vor der Ärztin und beugte sich schwer atmend, mit den Händen auf ihren gebeugten Knien, nach vorne. Keuchend stieß sie hervor:
„Bitte, ich muss die Leiche sehen. Vielleicht kenne ich den Toten.“
Verwundert nickte die Frau und öffnete den Kunststoffsack. Darin lag tatsächlich eine sehr zierliche Gestalt. Ein Teenager von vielleicht sechzehn Jahren. Lisa hatte das Gefühl, als würde sich die Welt um sie herum drehen. Die Geschichte ihrer Großmutter wiederholte sich, genau in diesem Augenblick.
Und in diesem Moment wurde ihr auch klar, dass die Geschichte der Verstorbenen der Wahrheit entsprach. Sie hatte nichts erfunden und nichts ausgedacht. Das Mädchen, das leblos zu ihren Füßen lag, war der Beweis. Die Geschichte wiederholte sich. Allerdings war dieses Opfer nicht verschwunden, sondern lag leblos zu ihren Füssen!
Es war wieder passiert!!! Der Totensee hatte seinen Tribut gefordert.
„Es ist ein Teenager,“ keuchte sie. Die Ärztin sah sie vollkommen verblüfft an:
„Ja, das stimmt. Ein etwa sechzehnjähriges Mädchen. Vermutlich war es ein Schwimmunfall und sie ist ertrunken.“
Lisa wandte sich ab und sagte mit erstickter Stimme:
„Sie ist es nicht. Ich kenne dieses Mädchen nicht.“
Dann sprang sie auf und rannte, wie von Furien gejagt, davon. Blitzschnell tauchte sie unter der Absperrung hindurch und floh in den Wald hinein. Irgendwann stolperte Lisa und fiel der Länge nach auf den weichen Moosboden.
Für eine gefühlte Ewigkeit blieb sie dort liegen, bis ihr Atem sich beruhigte und sie wieder bei Sinnen war.
Lisa erhob sich mühsam und wanderte in gemächlicherem Tempo durch den Wald zurück zur Absperrung. Allerdings hielt sie sich diesmal sehr im Hintergrund, hinter halbhohen Büschen versteckt, um nur ja nicht die Aufmerksamkeit der Polizisten oder eines der Kripobeamten zu erregen. Sie hatte genug Aufruhr verursacht. Was sollte sie denn antworten, wenn die Kripo sie in die Mangel nahm?
Mit der Story, die sie von ihrer Großmutter gehört hatte, machte sie sich doch nur lächerlich. Vermutlich war die Jugendliche bei einem Badeunfall ertrunken. Punkt aus und Schluss. Die Obduktion würde sicherlich ergeben, dass Wasser in die Lungen eingedrungen war, was auf einen Tod durch Ertrinken schließen ließ. Vielleicht war auch Alkohol mit im Spiel gewesen. Auch das würde die Polizei sicherlich überprüfen.
Lisa saß in den Büschen in der Nähe des Ufers und dachte intensiv nach.
Inzwischen war die Nacht dem Tag gewichen und die Morgensonne kroch über den Horizont. Ihr Magen machte sie darauf aufmerksam, dass er nach Nahrung verlangte, indem er lautstark knurrte. Lisa beschloss, zurück ins Hotel zu wandern, um eine heiße Dusche zu nehmen und zu frühstücken.
Sie stand auf und nahm abschließend die ganze Szenerie in sich auf. Im Morgenlicht wirkte nicht mehr alles so gruselig wie in der Nacht, aber trotzdem hatte Lisa das Erlebnis hier nicht geträumt. Der Leichenwagen war inzwischen mit seiner traurigen Fracht abgefahren. Eine verzweifelt aussehende Frau rannte am Ufer hin und her. Ihr verzweifeltes Weinen wehte bis in Lisas Versteck hinüber. Sie beobachtete, wie eine Polizistin die Frau am Arm fasste und versuchte, sie zu beruhigen. Das gelang ihr nicht so richtig. Die Frau wurde in den Notarztwagen gebracht, der mit Blaulicht davon raste. Hinter dem Absperrband befanden sich, immer noch oder schon wieder, neue Schaulustige.
Eine Person aber konnte Lisa sofort ausmachen. Die charakteristische Gestalt war unverkennbar. Als sich ihr Blick in seinen Rücken bohrte, drehte er sich um und entdeckte Lisa in den Büschen. Augenblicklich huschte ein Lächeln über sein Gesicht und er kam auf sie zu.
Sie begrüßten sich, fast schon ein wenig vertraut und machten sich gemeinsam zurück auf den Weg in das Klosterhotel. Auch Jonas gab zu erkennen, dass er fast am Verhungern war.
Als ob er ihr Kommen heimlich beobachtet hätte, öffnete ihnen Bruder Ansgar das Tor zum Innenhof. Lisa bemerkte, wie er sie mit unergründlichem Blick musterte, aber seine Neugier offensichtlich zügelte.
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