Kitabı oku: «Stimmen des Yukon», sayfa 2

Yazı tipi:

AUFBRUCH

Trotz der frühen Morgenstunde verlief die einstündige Fahrt zum Flughafen sehr gesprächig und unterhaltsam zwischen Julie und ihrer Mutter. Die orangegelb strahlende Sonne ging gerade auf, als die beiden auf die Straße zum Abflugterminal einbogen. Sie hatten Glück und konnten direkt vor dem Eingang parken. Nachdem sie ausgestiegen waren, öffnete Julie den Kofferraum, um ihre Taschen herauszunehmen. Sie legte die Jacke um ihre Hüfte, schnallte ihre Bauchtasche um und setzte den Rucksack auf den Rücken. Dann wandte sie sich ihrer Mutter zu, die bereits auf dem Gehsteig wartete. Für einen Moment standen sich die beiden schweigend gegenüber, bevor sie sich fest in die Arme nahmen.

»Viel Spaß und alles Gute wünsche ich dir, Julie! Melde dich kurz, wenn du angekommen bist!«, bat die Mutter, während sie ihre Umarmung lösten.

»Danke! Danke auch nochmal, dass du mich hierher gefahren hast! Ja, ich werde anrufen, wenn ich da bin. Versprochen!« Ein liebevolles Lächeln lag dabei auf ihrem Gesicht und ein Augenblick des Schweigens folgte. »Dann mach ich mich jetzt auf den Weg. Komm gut wieder nach Hause, Mami!«

Julies Mutter hob noch einmal ihre Hand zum Abschied, bevor sie sich in den Wagen setzte und losfuhr.

Die immense automatische Drehtür quietschte, als Julie die riesige Abflughalle betrat. Nach ein paar Metern hielt sie an, um sich zwischen der umherlaufenden Menschenmenge zu orientieren. Schon von weitem sah sie nun die große, leuchtende Tafel hoch oben in der Mitte der Halle, an der die Abflugzeiten, die Check-in-Schalter und die Abflugterminals bekannt gegeben wurden. Sie ging los in deren Richtung und blieb davor stehen, um nachzusehen, an welchem Schalter sie sich für ihren Flug einchecken musste. Andere taten es ihr gleich und es herrschte reges Gemurmel um sie herum. Nachdem sie daraufhin eingecheckt und ihr Gepäck aufgegeben hatte, passierte sie die Zollkontrolle. Sie stellte fest, dass sie noch genügend Zeit hatte, bevor das Flugzeug starten würde und so entschloss sie sich zu einer Tasse Kaffee und einem kleinen Frühstück. Sie musste nicht weit gehen und entdeckte ein Café.

Aromatischer Kaffeeduft drang an ihre Nase und im Hintergrund lief entspannende Klaviermusik aus kleinen dunklen Lautsprechern. Wie sie so dasaß, die Beine übereinandergeschlagen, die Ellbogen auf den Tisch stützend und ihre Tasse zum Mund führend, bemerkte Julie, wie sie anfing, die vorbeiströmende Menschenmenge zu betrachten. Ihr fiel ein Pärchen auf, das sich beim Vorübergehen zankte, ein Vater, der mit seiner Tochter lauthals diskutierte, ein Geschäftsmann, der sich vor Eile beinahe überschlug, und eine Familie, die scheinbar völlig entnervt schweigend nebeneinander herging. Ihr fielen durchaus auch fröhliche Menschen auf. Dennoch waren es die Gehetzten und Gestressten, die Julies Blicke auf sich zogen. Sie dachte darüber nach, warum es ihr manchmal so vorkam, dass hierzulande die Menschen so unzufrieden schienen. War es das Bestreben nach immer mehr, oder der auferlegte Zwang, in der Gesellschaft mithalten zu müssen? »Vermutlich beides«, gab sie sich in Gedanken selbst zur Antwort. Julie stellte ihre Tasse ab und lehnte sich mit einem innerlichen Seufzen zurück. »Im Gesamten betrachtet, ist es doch wohl eher eine Misere des Systems!«, überlegte sie und in ihrem Gesichtsausdruck spiegelten sich Verständnis und Mitgefühl.

Dies war einer der Gründe, warum sich Julie schon früh für ein zurückgezogenes Leben entschieden hatte. Die Abgelegenheit und Einfachheit ihres kleinen Hauses, die Nähe zur Natur und das harmonische Miteinander ihrer Familie, mitsamt den Tieren, gaben ihr die innere Ruhe und Zufriedenheit, der es bedurfte, um dem Einfluss der hektischen und auf psychische Manipulation angelegten Gesellschaft zu entkommen. Nicht immer stieß sie jedoch auf Verständnis, was ihre Lebensweise betraf, und es machte auch bei Weitem nicht alles einfacher. Allerdings war dies der Weg, den Julie für sich ausgesucht hatte und sie war glücklich dabei. War es nicht genau das, worauf es im Leben ankommen sollte?

Julie richtete nun ihre Aufmerksamkeit auf das Brötchen, das vor ihr lag, und biss mit Genuss hinein. Nachdem sie aufgegessen und ihren Kaffee getrunken hatte, schlenderte sie noch ein wenig durch die Flughafengeschäfte, ehe sie sich zum Abflugterminal begab. Die verbleibende Zeit, bevor das Flugzeug starten würde, wollte sie mit Lesen verbringen. Sie setzte sich in die Wartehalle und packte ihr Buch aus. Erst eine Frauenstimme, die nach einer Weile über große Lautsprecher an ihr Ohr drang, ließ sie aufhorchen.

»Meine sehr verehrten Damen und Herren. Das Flugzeug mit der Flugnummer 8484 nach Vancouver steht nun an Terminal 147 zum Einsteigen bereit. Bitte halten Sie Flugticket und Ausweis bereit. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.«

Julie lächelte voller Vorfreude, während sie das Buch verstaute und ihren Pass und ihr Ticket aus der Tasche zog. Als sie aufsah, hatten sich bereits einige Leute in eine Warteschlange eingereiht. Sie packte ihre Sachen zusammen, stand auf und stellte sich in die Reihe. Schließlich übergab sie der wartenden Stewardess ihr Ticket, das diese entwertete, und folgte daraufhin einem langen Gang, der am Bug des Flugzeuges endete. Beim Betreten der Maschine wurde sie freundlich von der Crew begrüßt. Nach einem kurzen Blick auf ihr Ticket zeigte ihr die Stewardess den richtigen Gang zu ihrem Sitzplatz. Julie verstaute zunächst die Jacke und die Tasche in der Ablage über ihrem Sitz, ehe sie sich setzte. Sie atmete tief ein und langsam wieder aus und bemerkte, wie sich jeder Muskel in ihr zu lockern begann.

Flugangst war für Julie nie ein Thema gewesen. Ganz im Gegenteil. Sie fühlte sich immer sehr wohl, hoch oben über den Wolken. Beim Start der großen Maschinen war sie schon immer von der gewaltigen Kraft fasziniert, die dahinterstecken musste, um solch einen Kollos in die Lüfte zu heben.

Während das Flugzeug nun zur Startbahn rollte, schloss Julie die Augen. Sie ließ sich voll und ganz auf den Moment ein, in dem sie durch die zunehmende Geschwindigkeit der Maschine zunächst sanft und dann aber mit stetig steigender Vehemenz in die Tiefe ihres Sitzes gezogen wurde.

AN DEN UFERN DES YUKON

Julie öffnete die Augen. Durch einen Spalt zwischen den Vorhängen, der der anbrechenden Helligkeit Einlass gewährte, sah sie, dass draußen allmählich der neue Tag erwachte. Sie streckte und räkelte sich gähnend, wobei ihre Muskeln teilweise leicht erzitterten.

Nach ihrer Ankunft am späten Vorabend am Flughafen von Whitehorse war sie, nachdem sie mit einem Shuttle-Bus zum ›Best Western‹ gefahren war und ihrer Familie über ihre sichere Ankunft berichtet hatte, so übermüdet, dass sie nur noch ins Bett gefallen war. Nun hatten der Schlaf, Tatendrang und freudige Erwartung sie mit neuer Energie aufgeladen.

Ohne Eile und dennoch zügig stand sie auf, zog sich an und verließ das Hotelzimmer. Bereits bei ihrer Ankunft hatte Julie bemerkt, wie sorgfältig das Hotel gestaltet war. Aber nun, als sie aus dem Aufzug trat und in Richtung Restaurant ging, fühlte sie sich in eine andere Zeit versetzt. Das gedrechselte nussbraune Geländer, das die Treppe und die Abgrenzung der ersten Etage zierte, der Fußboden, der beim Betreten knarzte, und selbst die Rezeption, die an eine alte Poststelle erinnerte, alles war aus einfachem Holz gezimmert und voller Harmonie. Ein riesiger ausgestopfter Elchkopf mit weit ausladenden elfenbeinfarbenen Schaufeln schmückte den Holzbalken direkt neben dem Wartebereich und ließ den Betrachter die unmittelbare Nähe zur Wildnis spüren. Die Uhr war stehen geblieben und die Zeiten des Goldrausches am Yukon wurden lebendig.

Julie hatte sich entschlossen einen Tag in Whitehorse zu verbringen, um die Hauptstadt des Yukon Territoriums zu erkunden, bevor es weiter zur Ranch gehen sollte. Daher verließ sie nach dem Frühstück das Hotel. Es war noch früher Morgen und düsteres, ja beinahe bedrohliches, graues Tageslicht umgab sie. Vor dem Eingang blieb sie stehen. Ihr Blick richtete sich gen Himmel. Dicke schwere Wolken, die ein Durchdringen der Sonnenstrahlen unmöglich machten, bedeckten ihn. Julie schloss die Augen. Die frische klare Morgenluft durchströmte ihre Lungen nach einem tiefen Atemzug. Ein herb holziger Geruch drang an ihre Nase. Ganz in der Nähe musste sich ein Wald befinden. Langsam öffnete sie ihre Augen wieder und nach kurzer Orientierung ging sie los. Auf Höhe des Hougen Centers, vierer aneinandergereihter verschiedenfarbiger Kaufhäuser, die in einem liebevoll gestalteten, beinahe nostalgischem Baustil gehalten waren, überquerte Julie die Straße. Sie hielt erneut an und sah sich um. Es irritierte sie ein wenig, dass sie nach wie vor die einzige Person war, die weit und breit zu sehen war. Kein einziges Auto bewegte sich auf den Straßen und es herrschte absolute Stille. Nur der feine Wind, der ihr ein paar Haarsträhnen ins Gesicht blies, säuselte in ihren Ohren. Die Stadt schien wie ausgestorben. »Das muss wohl an der frühen Morgenstunde liegen«, überlegte sie. Wohl gerade deshalb genoss Julie diesen Moment, scheinbar alleine inmitten der Hauptstadt des Yukon zu stehen.

Als sie weiterging, sah sie, wie hoch oben der Wind immer stärker wurde. Heftige Windböen türmten verschieden graugefärbte Wolkenschichten übereinander. An anderer Stelle rissen sie die Wolkendecke auseinander. Ein türkisfarbenes Himmelszelt kam zum Vorschein. Grelle Sonnenstrahlen blitzten durch die sich öffnenden Wolken. Weiß- und pastellgelb leuchtende Lichtstrahlen fielen auf die Fassaden der Gebäude. Häuser wechselten im Sekundentakt ihre Farbe. Schatten tanzten ein Ballett über den Dächern. Letzte Lichtstrahlen kämpften an den Wolkenrändern, bevor schwarze Wolken die Helligkeit wieder löschten. »Meine Güte, was für ein Anblick!«, waren ihre Gedanken, als sie dieses Vorgehen voller Ehrfurcht betrachtete.

Überwältigt von der Naturkraft ging Julie dennoch weiter, denn sie sah ihn nun von weitem vor sich liegen. Den Yukon River! Sie freute sich schon gleich an seinem Ufer zu stehen. Ehe sie den Fluss jedoch erreichte, zog ein langes Holzhaus, auf dessen Dach ein riesiges dunkelgrünes Schild mit der gelben Aufschrift ›White Pass & Yukon Route‹ angebracht war, ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie trat näher heran und sah ein weiteres, kleineres Schild, das an der Fassade des braunen Rundstammhauses befestigt war. Unter einem naturalistischen Schlittenhundekopf und einem daneben abgelichteten Musher, der von zwölf laufbegierigen Hunden durch eine sagenhafte Winterlandschaft gezogen wurde, standen die englischen Worte ›Yukon Quest Official Start/ Finish Line‹.

»Dies ist also die berühmte Start- und Ziellinie des legendären Yukon Quest!«, hörte sich Julie beeindruckt leise in Gedanken murmeln. Sie wusste, dass das Yukon Quest eines der härtesten Hundeschlittenrennen der Welt ist und Mensch und Tier an seine Grenzen zu bringen vermochte. Daher stand sie für einen Augenblick einfach nur da und ließ diesen Ort auf sich wirken.

»Was er wohl alles erzählen würde, könnte er nur sprechen«, ging es Julie durch den Sinn, als sie schließlich das Ufer des Yukon erreicht hatte. Mächtig und breit lag er in einem langgestreckten Kies- und Steinufer eingebettet zu ihren Füßen. An mancher Stelle stand sattgrünes Gras und die in der Nähe gewachsenen Baumgruppen spiegelten sich leicht, durch die immer mehr an Oberhand gewinnenden Sonnenstrahlen, auf seiner Oberfläche. Unermessliche, klare Wassermassen rauschten friedlich an Julie vorüber. Die Luft war frisch und sie duftete nach dem bittersüßen, terpentinartigen Harzgeruch, der von den die Ufer säumenden Weißtannen, Kiefern und Birken ausging. An manchen Stellen ragten größere Gesteinsbrocken aus dem Wasser und das Rauschen des daran vorüberziehenden Wassers drang wie ein liebliches Lied an ihr Ohr. Julie war so vereinnahmt von dem Augenblick, dass sie nun direkt an diesem riesigen Fluss stand, der Weltgeschichte geschrieben hatte, dass sie alles um sich herum vergaß. Erst der die Stille zerreißende Aufschrei eines Weißkopfseeadlers ließ sie zusammenzuckend ihren Blick abrupt vom sanft dahinfließenden blaugrünen Wasser abwenden und in die Höhe schweifen. Sein Ruf hallte über die gesamte Weite des Flusstales. Julies Nackenhaare stellten sich unwillkürlich auf und ein Schauer lief über ihren Rücken und verursachte eine Gänsehaut. Sie entdeckte ihn gerade am Himmel auf der anderen Seite des Ufers, als sein Ruf von einem weiteren Weißkopfseeadler, der den Fluss hinaufgeflogen kam, erwidert wurde. Zu zweit zogen sie mit breit geweiteten Schwingen ihre Bahnen entlang des gegenüberliegenden Ufers. Julie schaute sich mit einem Strahlen im Gesicht um, ob denn jemand anderes die beiden ebenso sehen würde. Aber es war nach wie vor niemand in sichtbarer Nähe. So richtete sich ihr Blick wieder auf die beiden Weißkopfseeadler und es dauerte nur unwesentlich länger, bis noch drei weitere Adler durch deren Rufe angelockt wurden. Sie flogen entweder umher und verkündeten in der Luft, was sie zu berichten hatten, oder saßen hoch oben in den Wipfeln der tannengrünen Fichten, von wo aus sie sich gegenseitig zuriefen. Es war eine ohrenbetäubende Konversation, denn die Stille, die über dem Flusstal lag, hob die Schreie der Adler noch stärker hervor. Sie begannen immer tiefer zu fliegen, um in der Nähe des Flussufers Beute ausfindig zu machen. Einer der größeren Exemplare stieß schließlich einen Schrei aus, der einem in Mark und Bein fuhr. Er setzte zum Sturzflug an und schoss mit rasanter Geschwindigkeit hinab. Kurz vor der Wasseroberfläche weitete er seine Schwingen und für den Bruchteil einer Sekunde schien er über ihr zu schweben, bevor er blitzschnell an seichterer Stelle mit seinen Klauen die Wogen des Flusses durchbrach. Er hatte Erfolg und konnte einen Fisch erbeuten. Mühsam erhob er sich mit kräftigen Flügelschlägen in die Lüfte und hatte damit zu kämpfen, dass ihm seine nach allen Seiten ausschlagende Beute nicht wieder verloren ging. Am kiesreichen Ufer, an dem er sich niederließ, vermochte er den Fisch schließlich zu bändigen. Noch tiefer bohrten sich nun die riesigen Klauen des Adlers in das Fleisch des Fisches, während er sich nach allen Seiten umsah. Der Fisch versuchte noch ein paarmal verzweifelt zappelnd sich zu befreien, bevor er sich schließlich, in seinen Bewegungen immer langsamer werdend, seinem Schicksal hingeben musste. Der Weißkopf schüttelte sich. Erhaben und anmutig saß er aufgeplustert da und beäugte für einen Moment mit geneigtem Kopf, scheinbar voller Stolz, seine Beute. Anschließend beugte sich sein reinweiß gefiederter Kopf zu seinen Klauen hinab und sein riesiger gelber Schnabel hackte tief in den Fisch, um diesem ein Stück seines saftigen Fleisches zu entreißen. Er war nicht lange alleine, denn ein anderer Adler gesellte sich alsbald zu ihm und versuchte dem erfolgreichen Jäger ein Stück seiner Beute abspenstig zu machen. Die Situation verlief glimpflich, denn nach nur kurzer Zankerei flog der Dieb, nachdem er ein Stück der fremden Beute ergattern konnte, hinauf gen Himmel und ließ sich auf dem Ast einer hohen Kiefer nieder, um sich sein Mal schmecken zu lassen. Währenddessen flog ein Steinadler das Ufer an Julies Seite an. Er landete auf einer Felsplatte, die von ihr nicht weit entfernt lag.

Julie konnte ihn genau betrachten. Das weiche dunkelbraune Federkleid und die klaren, aufmerksamen, stechenden, ja beinahe orangefarbenen Augen, denen vermutlich nichts entgehen konnte, schimmerten glänzend in den momentan vereinzelten, aber intensiven Strahlen der Morgensonne. Sein steingrauer Schnabel war mächtig und spitz nach unten gebogen. Julie getraute nicht, sich zu bewegen, denn sie wollte diesen wunderschönen Vogel so lange wie möglich aus nächster Nähe bewundern. Als der Adler sich mit seiner Brust in ihre Richtung drehte, neigte er seinen Kopf etwas zur Seite. Sein zum Fluss gerichtetes Auge blitzte auf und Julie bildete sich ein, das Spiegelbild der Landschaft darin erkennen zu können. Es machte den Anschein, als betrachte nun der Adler Julie genauer und nicht umgekehrt. Für einen kurzen Moment schauten sie sich direkt in die Augen und es schien, als fließe eine außergewöhnliche Art Energie zwischen ihnen beiden.

Nachdem sich das unsichtbare Band wieder vorsichtig gelöst hatte, senkte und hob der Steinadler sein Haupt, bevor er sich unter einem zischenden Aufschrei wieder abwendete und sich von seinen mächtigen Schwingen in die Luft tragen ließ. Julie stand wie angewurzelt, nicht nur gefesselt von diesem beeindruckenden Moment, sondern auch spürend, dass sie etwas tief in ihrem Inneren soeben berührt hatte. Obwohl es ein ihr vertrautes Gefühl war, wusste sie immer noch nicht, was es ihr mitteilen wollte. Allerdings hatte sie gelernt, es zu akzeptieren und auch zu genießen und sich nicht allzu sehr damit zu beschäftigen, denn die Antwort, die sie erhielt, lag lediglich in ihrer Vermutung.

Die Adler verschwanden genauso schnell, wie sie gekommen waren, und Julie bemerkte plötzlich, dass sie nicht mehr die einzige Person war, die das Ufer des Yukon besuchte. Sie wunderte sich nur, dass sie nicht schon eher bemerkt hatte, dass bereits zuvor andere Menschen an ihr vorbeigegangen sein mussten. Wie lange hatte sie wohl wirklich dem morgendlichen Treiben der Adler geistesabwesend beigewohnt? Julie hatte sämtliches Zeitempfinden während deren Vorstellung verloren und überlegte, dass es an der Zeit war, weiterzugehen.

Die zuvor am Himmel düster hängende Wolkenschicht hatte nun im Gesamten aufgehellt und an einigen Stellen konnte man immer besser einen Blick auf den wunderbar hellblau strahlenden Himmel dahinter erhaschen. Julie wollte zunächst die Gegenwart des Flusses noch weiterhin genießen und dann den restlichen Tag mit der Erkundung der Stadt verbringen. Während sie weiterging und die herrliche Umgebung in sich aufsog, hallte der Aufschrei des Adlers immer wieder, zum Verblüffen ihrer selbst, in ihren Gedanken nach. Etwas irritiert, aber dennoch entspannt, folgte Julie dem Weg, der unmittelbar am Ufer des Flusses entlang führte und auf dessen rechter Seite für eine kurze Strecke eine Eisenbahnschiene verlief. Um auf dem Weg weitergehen zu können, musste sie nach einer Weile die Hauptstraße überqueren. Auf der anderen Straßenseite sah sie einen riesigen reinweißen Dampfer mit kräftig orangefarbenem Schaufelrad auf dem trockenen Kiesbett liegen. Er trug die Aufschrift ›Klondike‹. Interessiert betrachtete sie ihn für kurze Zeit und genoss den grandiosen Anblick auf den sich windenden Yukon, der sich ihr von diesem Platz aus bot. In seiner Mitte waren ein paar Kiesbänke zu sehen, die stellenweise mit leuchtend hellgrünem Gras bewachsen waren und auf denen sich so manches Treibholz angesammelt hatte. Fasziniert riss Julie sich dennoch los und ließ die Stadt hinter sich liegen.

Vereinzelt zierten kleine Rosenbüschchen mit weißgelben Blüten den Wegesrand und vor einem Wald, dem sie sich allmählich näherte, stand das herrliche schmalblättrige Weidenröschen meterhoch in Hülle und Fülle. Seine gegenständig angeordneten Laubblätter waren dunkelgrün gefärbt und die schirmtraubigen Blütenstände, mit einer Vielzahl an kleinen vierzähligen Blüten, leuchteten rosa bis purpurrot in der Sonne. Die dahinter liegenden ockerbraunen Stämme der hohen Kiefern, mit ihren nadelwaldgrünen Baumkronen, boten ein kontrastreiches Bild, wobei die Weidenröschen besonders gut zur Geltung kamen. Die direkt am Fluss stehenden Exemplare spiegelten sich glänzend auf dessen Oberfläche.

Auf dem weiterführenden Weg stieß Julie auf ein Hinweisschild, welches ihr verriet, dass sie sich auf dem ›Millennium Trail‹ befand. Von dort aus, dem Weg folgend, tauchte sie ein in ein mit Fichten, Kiefern, Espen und Birken bewaldetes Gebiet. Feiner, ätherischer Geruch von den Blättern und der Rinde der Bäume stieg in ihre Nase. Der weiche hellbraune Waldboden wurde an manchen Stellen, durch die einfallenden Sonnenstrahlen, hell erleuchtet. Hier und da sah sie, wie kleine freche Streifenhörnchen ihren Weg kreuzten, um auf der gegenüberliegenden Seite ihr lustiges, pfeifendes Treiben fortzusetzen. Vergnügt durch die Gegebenheiten spazierte Julie in fröhlicher Gelassenheit durch den Wald, bis sie gewaltig rauschende Wassermassen, die in der Ferne zu hören waren, aufhorchen ließen. Es dauerte nicht allzu lange und sie erreichte eine himmelblau lackierte Eisenbrücke. ›Rotary Centennial Bridge‹ war mit gelber Schrift auf einem Holzschild über deren Eingang geschrieben. Sie betrat die knarzenden dunkelbraunen Holzdielen und überquerte den Yukon. Von der Brücke aus konnte sie nun auf ein Wehr blicken, dessen donnernder Wasserfall eine meterhohe Gischt verursachte. Das von dort aus im Anschluss fließende Wasser des Yukon schoss mit enormer Geschwindigkeit seinem Verlauf entlang und sprudelnde weiße Wellen ebbten erst kurz vor der Brücke wieder ab. Die aufgewühlten türkis- und smaragdgrünen Wassermassen brachten ein lautes Tosen mit sich, das sämtliche Geräusche der Umgebung überlagerte.

Als Julie auf der anderen Seite der Brücke ankam, schmückten wieder Weidenröschen, Rosenbüsche und eine Vielzahl an feinen Gräsern den Wegesrand. Immer wenn es der Sonne gelang zum Vorschein zu treten, kamen die leuchtenden Farben des Waldes in ihrer vollkommenen Schönheit zur Geltung. Allmählich verflüchtigten sich die Geräusche des aufgebrachten Wassers hinter Julie und ihr Gehör schien umso mehr aufzuatmen, je weiter sie nun in den vor ihr liegenden Wald hineinlief. Noch klarer als zuvor drangen nun die feinen vereinzelten Rufe der Grauwasseramseln aus den hohen Wipfeln der Bäume an ihr Ohr. Beflügelt von den Eindrücken der Umgebung bemerkte Julie, als sie sich plötzlich wieder an der Hauptstraße befand, wie eng verbunden doch Zivilisation und Wildnis hier im hohen Norden waren. Kurz hielt sie an, holte tief Luft und ließ die Eindrücke auf sich wirken.

Bei strahlendem Sonnenschein erreichte Julie schließlich am Nachmittag wieder die Innenstadt. Es war mittlerweile so warm geworden, dass sie sich unterwegs mancher ihrer längeren Kleidungsstücke entledigte, um die wohltuenden Sonnenstrahlen an ihre Haut gelangen zu lassen. Auf einem Spielplatz sprangen Kinder mit wildem Getöse und Gelächter durch ein Wasserspiel und auf einer angrenzenden Wiese lagen die Menschen auf ihren mitgebrachten Decken und genossen das herrliche Wetter. In den Straßencafés war beinahe kein freier Platz mehr zu finden und auf den Straßen stauten sich stellenweise die Autos. Julie stellte fest, dass, obwohl Whitehorse die Hauptstadt des Yukon war und hier der Hauptteil der Gesamtbevölkerung des Yukon lebte, die Stadt dennoch nicht überfüllt schien. In Deutschland käme dies eher einer Stadt auf dem Lande gleich und genau das war es, was Julie auf Anhieb an Whitehorse gefiel. Sie schlenderte durch die Straßen, sah sich in den Läden um und gönnte sich zwischendurch in der Sonne eine Tasse Tee, ehe sie am frühen Abend noch einmal das Ufer des Flusses aufsuchte. Erst der Hunger, der begann unnachgiebig zu werden, zwang Julie dem Wasser den Rücken zu kehren und in die Stadt zurückzugehen.

Nach einem reichhaltigen Essen im ›Ribbs & Salmon‹ gesättigt und durch die Zeitverschiebung etwas mitgenommen, steuerte Julie ihr Hotelzimmer an und warf sich erschöpft, aber glücklich aufs Bett. Sie dachte daran, wie wohl der morgige Tag werden würde und wie gespannt sie auf alles war. Nachdem, was sie an nur einem Tag erlebt hatte, war sie nun noch gespannter, auf das, was sie erst in den wilden Weiten des Yukon zu Gesicht bekommen und erleben würde. Bevor sie sich jedoch bewusst genauer mit ihren Gedanken auseinandersetzten konnte, hörte sie in der Ferne ihrer Gedanken erneut den Ruf des Adlers aufleben und im nächsten Moment war sie auch schon eingeschlafen.

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