Kitabı oku: «Auf Gottes Wegen», sayfa 19
Eines Nachmittags hörten sie Sissel klingeln, klingeln, klingeln. Sigrid stürzte hinauf, Kallem, Karl; Karl blieb vor der Tür stehen. Er hörte, daß sie wieder einen Hustenanfall hatte, einen entsetzlichen. Er begriff nicht, daß sie überhaupt noch so viel Kraft hatte; jeder Hustenausbruch zerriß ihm die Brust, schnitt ihm ins Fleisch, zerbrach ihn; ihr Schmerzgestöhne dazwischen trieb ihm den Schweiß auf die Stirn; er konnte nicht lauschen und wagte auch nicht, zu gehen. Das mußte ihr Letztes sein. Er hörte Sigrid weinen, hörte sie rufen: "Frau Doktor! Frau Doktor!" Und gleich darauf: "Sie stirbt!" Da öffnete er die Tür. Das erste, was er sah, war Blut. Da wurde ihm schlecht, und er fiel in Ohnmacht.
Als er erwachte, lag er auf seinem Bett. Sigrid saß davor und weinte. Das war das erste, was er begriff. Dann fiel ihm das andere ein und er fragte: "Ist sie tot?" – "Der Herr Doktor glaubt, daß es bald zu Ende ist."
Später durften sie zu ihr, alle beide. Sie lag im Bett, als schliefe sie, weiß wie die Bettücher, in denen sie lag. Kallem hielt ihre Hand. Sein Gesicht sahen die Eintretenden nicht; aber von Zeit zu Zeit ein Zusammenzucken der Schultern; und sie hörten ihn stöhnen. Auf der andern Seite stand Sissel. Seltsam, wie verschiedene Grade des Schmerzes es gab! Obgleich auf ihrem kräftigen, offenen Gesicht viel Mitgefühl lag – es war doch das einer Fremden; meilenweit entfernt von Kallems stummer Verzweiflung sah sie es mit an. "Ist sie tot?" flüsterte Sigrid. Sissel schüttelte den Kopf. Und Ragni hörte die Frage; sie blickte auf. Mit ihrer allerletzten Kraft wollte sie ihnen noch einmal etwas Liebes erweisen – sie versuchte – man konnte nicht sagen zu lächeln – dazu war sie nicht mehr imstande – aber ihnen noch einmal Kunde von sich zu geben. Erst Sigrid und Karl; dann aber ausschließlich Kallem. Bald darauf war sie tot.
Die andern gingen; Kallem blieb.
Als er hinunterkam, fand er niemand. Karl war auf sein Zimmer gegangen; Sigrid saß mit Sissel in ihrer Kammer. Leer die Küche, leer die Stuben, leer das Studierzimmer. Er hatte ihr versprochen, etwas zu lesen, was sie geschrieben hatte – es lag unter Karls Brief. "Nachher!" stand darauf. Aber er konnte jetzt nicht, überhaupt nicht, solang sie noch im Hause war. Er stellte sich vor ihren Bücherständer und sah ihn an; auch der war ein Bild von ihr. Wie oft hatte er da gestanden und gelächelt, wenn er die Büchertitel las! Jetzt fiel sein Auge auf die "Wildente" von Ibsen. Bei seiner Größe konnte er das Buch gerade so weit von oben herunter sehen, um zu bemerken, daß zwischen den letzten Blättern eine Lücke war. Er zog das Buch heraus. Wirklich, sie hatte die Blätter, auf denen Hedvigs unglückliche Geschichte abschließt, – wie sie sich erschießt und was darauf folgt – herausgeschnitten! Herausgeschnitten! Als habe es so nicht kommen dürfen!
Nichts hätte ihn tiefer ergreifen können. Er warf sich aufs Sofa und schluchzte wie ein mißhandeltes Kind. Ja, sie war zu fein gewesen und zu furchtsam. Die Welt, in der wir kämpfen, ist noch zu roh. Sie muß erst besser werden, bis solche Wesen mitleben können. Sie hatte versucht, aus der Welt herauszuschneiden, was sie nicht mochte, – nun war sie selber herausgeschnitten worden.
11
Schon einige Tage vor dem Sonntag, da es den Kampf um die Erziehung des kleinen Edvard gab, hatte der Junge gehustet. Abends ging es ihm gar nicht gut, so daß er das Zimmer hüten mußte.
Nach einigen Tagen durfte er wieder hinaus und schien auch leidlich wohl zu sein; doch eines Abends war er wieder fiebrig und verdrießlich und hatte einen trockenen Husten. Die folgenden Tage mußte er wieder das Haus hüten. Weil er an die frische Luft gewöhnt war, wurde er weinerlich und verlor den Appetit; Josefine hatte viel Mühe mit ihm und wurde zuletzt streng. Der Junge jammerte – er wolle zur Großmutter! Das durfte er nicht. Als jedoch die Großmutter zu ihm herüberkam, war er eigensinnig und lief zum Vater. Von dort kam er weinend zurück: der Vater hatte ihm nicht erlaubt, die Bücher aus den untersten Fächern herauszunehmen und Häuser damit zu bauen.
Er wurde ins Bett gesteckt, heiß, aufgeregt; dabei klagte er über Stiche auf der rechten Seite der Brust beim Husten; nachts hatte er Fieberanfälle und phantasierte: Kristen Larssen lief mit einem großen Sack hinter den Jungens her und wollte sie in die Hölle schleppen.
Josefine doktorte mit Terpentinumschlägen an ihm herum; aber am Morgen, als der Pastor heraufkam, bat sie ihn, nach dem Arzt zu schicken.
Kent war ihr Hausarzt; er konnte erst gegen Abend vorsprechen, und da konstatierte er, daß der Junge eine Brustfellentzündung auf der rechten Seite hatte. Was Josefine angewandt hatte, war ganz richtig gewesen; er selber verordnete Diät und alle zwei Stunden eine Medizin und sagte, wenn die Temperatur 39 Grad übersteige, solle man ihn rufen lassen.
In den folgenden Tagen besserte sich das Befinden des Jungen; er aß und hustete weniger; Temperatur abends nie mehr als 38 Grad. Gott sei Dank!
So gering auch die Gefahr gewesen war – Tuft und Josefine hatten beide das Gefühl, als lege sich eine unsichtbare Hand mit leisem Druck auf ihre Schultern. Sie wandten sich ganz allmählich einander wieder zu und suchten Gelegenheit, miteinander zu sprechen – freilich nur über den Zustand des Kindes; aber durch Stimme und Wesen klang es wie eine Bitte um Verzeihung.
Der Husten und der Schmerz in der Seite ließen nach; das Befinden des Jungen besserte sich scheinbar; aber der Appetit wollte nicht recht kommen, das Fieber wollte nicht ganz weichen, und so nahmen auch die Kräfte nicht zu. Man kaufte ihm neue Spielsachen, die ihm einen Tag lang Spaß machten und ihn am nächsten schon langweilten. Die Märchen, die Vater und Mutter ihm abwechslungsweise erzählten, hörte er an, ohne dazwischenzufragen; den Besuch der Großmutter beachtete er gar nicht. Einmal war er plötzlich ganz heiß, dann fror er wieder. Am meisten beunruhigte es Kent, daß gegen Abend die Temperatur immer stieg; er fing an, Chinin zu geben, und legte eine spanische Fliege. Josefine wich nicht vom Bett und wollte von Ablösung nichts wissen; der Junge duldete auch nicht, daß andere ihm nahe kamen.
Aber es wurde besser, und eines Abends, als sie die Temperatur gemessen hatten, sagte der Pastor: "Ich glaube, wir kommen mit dem Schreck davon, Josefine!" Sie sah ihn an; er streckte seine Hand aus; sie legte die ihre flüchtig hinein, schien sich aber dessen zu schämen und zog sie gleich wieder zurück.
Doktor Kent hatte ihnen erzählt, Frau Kallem sei schwer krank und verlasse ihr Zimmer im Oberstock nicht mehr. Von anderer Seite hörten sie später, es sei Schwindsucht; sie fragten – jeder für sich – Doktor Kent; und er sagte, es sei sogar galoppierende Schwindsucht.
Josefine gegenüber erwähnte der Pastor nichts; aber zu Kent äußerte er, es sei jedenfalls ein Glück für seinen Schwager; vielleicht werde er jetzt ein freier Mann und würde die Schwingen regen.
Josefine hatte eine andere Auffassung; das sah er daran, daß sie sich völlig in sich selbst zurückzog. Kaum, daß er dann und wann ein paar Worte von ihr zu hören bekam.
Eines Nachmittags, lange Zeit nachher, als sie auf ihrem Bett lag und nachsann, wie ihr Bruder Ragnis Tod ertragen würde, sah sie ihn plötzlich. Sie dachte sich erst nichts dabei; aber das Bild wurde seltsam deutlich. Sie sah ihn, so lang er war – auf dem Sofa seines Studierzimmers liegen, sie sah den ganzen Raum, die Gardinen, die Bücherregale, die Bücher, den Schreibtisch, die zwei Tische, einen großen Lehnsessel, verschiedene aufgeschlagene Bücher, beschriebene Papiere bogenweise nebeneinander, … alles sah sie, jedes Blatt, jeden Buchstaben, – und ihn selber, in einem braunen Anzug, den sie nicht kannte. Und dabei war sie nie in dem Studierzimmer gewesen, seit es möbliert war, und hatte die Möbel nie gesehen, auch nicht die Gardinen, die Teppiche; aber sie zweifelte keinen Augenblick, daß es genau so war, wie sie es sah. Zu jeder andern Zeit würde das einen seltsamen Eindruck auf sie gemacht haben; aber jetzt wurde alles verdrängt durch sein Aussehen. Er war so ganz verzehrt von Kummer! Je genauer sie ihn ansah, desto schlimmer wurde es. In einer solchen Verzweiflung sah sie ihn, daß es sie packte, wie nichts in ihrem Leben, nicht einmal des Vaters Tod sie gepackt hatte. Sie sah, wie er sich herumwarf und laut aufweinte, sah, wie er die Hände zusammengekrampft vors Gesicht hielt, sah zuletzt bloß noch ihn, den Jammer dieser Augen unter der Brille und den buschigen Brauen, und eine große Öde um ihn her. In kaltem Schweiß gebadet, wachte sie auf, so matt, daß sie kein Glied rühren konnte. Fortan lebte sie wie unter dem Druck einer unklaren Angst, die ihr den Schlaf raubte. Galt es ihrem Bruder oder ihrem Kinde? Dort neben ihr lag der kleine Edvard, atemlos, hustend, wie ein schon weit Entfernter. Seine hohe Stirn schien unbewohnt; seine Augen sahen ins Leere; seine Hände – das waren nicht mehr die derben Bubenfäustchen, nicht mehr lebendig.... Zuweilen stürzte sie an sein Bettchen, bloß um ihn wieder zu haben, und war's auch nur in einem flüchtigen Blick! Ja, ja … da war er! Aber … Gott im Himmel! – Wenn sie ihn hergeben mußte? Und in diesem Leid fühlte sie den Schmerz des Bruders mit, fühlte sich eins mit ihm. Das Schicksal des Jungen verknüpfte sich ihr mit dem Schicksal Ragnis. In wachen Nächten und bangen Tagen flössen die beiden so unauflöslich ineinander, daß sie beide für sie eins wurden.
Bisher war ihr Gottesgefühl eigentlich nur Freiheitsdrang und eine nie versagende Wahrheitsliebe gewesen. In der Angst wurde es ihr zum Schicksal, zum unbeugsamen, mystischen Schicksal. Alles erschreckte sie; sie sah in allem Zeichen und Vorbedeutungen. Der Junge schien nur auf der kranken Seite liegen zu können; sonst schmerzte es ihn so, daß er laut jammerte, … und jedesmal, wenn sie ihm dabei helfen mußte, kam ihr das ganz unbegreiflich vor. Sie schob ihm Luftkissen unter; seine einzige Antwort bestand in herzzerreißenden Bitten, sie möge ihn doch ruhig liegen lassen. Sie wußte nicht mehr, was richtig war und was falsch. Nicht einmal an seine Beine durfte sie mehr rühren; er zog die Knie herauf, das eine über das andere … lauter unerklärliche Einfälle, durch die sie sich gänzlich überflüssig oder sogar lästig vorkommen mußte. Ob das bedeutete, daß sie sich an den Gedanken gewöhnen mußte, daß sie im Grund ganz überflüssig war?
Schließlich mußte sie das ja aufreiben. Schon die Angst vom einenmal zum andern, wenn sie ihn anrühren mußte, wäre genug gewesen. Aber die Gedanken, die dabei mit unterliefen, machten sie geradezu verrückt. Sprechen konnte sie mit niemand darüber. Die Sache mit den Beinen hauptsächlich kam ihr so ganz mystisch-widersinnig vor, daß sie sich förmlich ängstigte vor ihrem Jungen; er gehörte nicht mehr ihr. Erst später, und ganz zufällig, entdeckte sie eine Anschwellung um die Knöchel. Das – so hatte sie immer gehört – war der Anfang vom Ende. Sie vermochte sich kaum die Treppe hinunterzuschleppen ins Studierzimmer, wo der Pastor in einer Rauchwolke saß. Er sah sie, bleich, entsetzt in ihrem Nachtkleid vor sich stehen. "Was ist denn, Du?" Er hörte ihren Bericht, ging mit ihr hinauf, sah ebenfalls die Schwellungen, fiel vor dem Bett auf die Knie, den Kopf in die Hände gedrückt: er betete. Die kurzen, hastigen Atemzüge des Kleinen, die glänzenden und doch gänzlich gleichgültigen Augen, mit denen er seinen Vater ansah, – das schrie förmlich zu ihr über des Vaters Kopf weg. Auch sie hätte beten mögen; aber im selben Augenblick schob der Junge den Vater mit der Hand weg; der Tabakgeruch störte ihn. Und damit schob er sie weg vom Gebet.
Doktor Kents ruhiges Lächeln, sein stilles, bestimmtes Urteil, daß die Krankheit noch dieselbe sei wie damals, als er zuerst die Entzündung entdeckt hatte, daß nichts Schlimmeres hinzugekommen sei, und die Anschwellung sicher nur von der unglücklichen Lage der Knie herrühre, erleichterte sie beide so, daß Josefine vor Freude weinte. Die Untersuchung des Urins bestätigte seine Diagnose.
In dieser Nacht schlief Josefine wieder besser als seit langer Zeit; trotzdem fühlte sie sich matter als vorher.
Wieder verging eine Zeit; da kamen eines Abends der Pastor und Doktor Kent mit einer gewissen Feierlichkeit herauf. Josefine lag in den Kleidern auf dem Bett und richtete sich empor, um aufzustehen; aber Kent und der Pastor baten sie, sich wieder hinzulegen. Doktor Kent erzählte, gestern sei Frau Kallem gestorben. Beide Männer blickten Josefine an; sie schloß die Augen. Eine Weile tiefes Schweigen. Als aber mehrmals ein Zucken über ihr Gesicht lief, sagte Tuft hastig: "Unter diesen Umständen ist es für Edvard nur gut, Josefine. Natürlich geht es ihm jetzt nahe; aber später wird alles gut werden. Er wird daran wachsen." Josefine wandte den Kopf ab. Ihre Augen blieben geschlossen; aber dann brachen die Tränen hervor.
Im selben Augenblick fühlte er, was er da gesagt hatte, war etwas Eingelerntes; ja, er hatte sich einer Roheit schuldig gemacht. Während der Krankheit seines Jungen, im angsterfüllten Zusammenleben dieser letzten Zeit war er ein anderer geworden. Diese Worte aus einem früheren Dasein – eben weil sie in dieser Stunde fielen, auf ihren brennenden Schmerz hin – weil sie über ihrem eigenen kranken Kind fielen – gewannen selbständiges Leben, wurden ihm zu einem stummen Gefolge – "Sendboten Gottes".
Bis diese Worte fielen, hatte Josefine in der Stille mitgebetet, wenn der Pastor betete; nun tat sie es nicht mehr. Sie hatte dasselbe Gefühl, wie in der ersten Zeit ihrer Ehe, wenn er so maßlos war und doch zugleich von ihr forderte, daß sie mit ihm fromme Lieder singen solle. Damals hatte er nichts gemerkt; heute fühlte er es sogleich. Aber gerade darum verlangte ihn nach einer Gemeinschaft, vor allem im Gebet für sein krankes Kind. Er wandte sich an die Freunde der Betstunde; deren war er sicher. Die ganze schmerzliche Abrechnung dieser Tage, das Zittern um das Leben des Kindes, seine freudlose, wunde Liebe, all das wirkte zusammen zu einer starken Erschütterung. Er bat sie alle, mit ihm zu beten, er stürmte Gottes Barmherzigkeit; wenn er nur einer höheren Gemeinschaft mit Gott würdig befunden wurde, so war die Prüfung nicht zu hart.
Er leuchtete von Glaubenskraft, als er nach Hause kam und berichtete. Wenn das Stärkste in ihm einmal aufwachte, so war er wie kaum ein anderer; aber es kam so selten dazu.
Josefines Zustand wurde besorgniserregend. Frische Luft und regelmäßigen Schlaf entbehren, Woche um Woche, – den Appetit verlieren durch die unaufhörliche Spannung – das war fast genug, um selbst kerngesunde Naturen wie die ihre zu brechen. Tuft sprach heimlich mit Kent darüber; aber es war nichts zu machen, wenn sie nicht selber wollte.
Während er jede ihrer Bewegungen überwachte, mußte er ihr, gegen seinen Willen, eines Tages mitteilen, daß Ragni nicht hier, sondern im Friedhof des Nachbardorfs beerdigt werden sollte. Darin offenbarte sich doch des Schwagers Groll, ja Abscheu auf die denkbar stärkste Weise. Zweifellos war dieser Entschluß gegen die Gesellschaft im allgemeinen, am meisten aber gegen sie beide gerichtet.
Was Josefine fühlte, erfuhr Tuft nicht; ihm selbst ging es nahe. Ein einziges Mal verriet sie, wie ungeduldig sie geworden war. Er hatte sich über den Jungen gebeugt und kam ihm dabei etwas zu nah; Edvard stöhnte und schob ihn mit der Hand von sich. "So laß doch das ewige Rauchen!" sagte sie erbittert. Er wandte sich nach ihr um: "Das werd' ich auch!" antwortete er sanft. Als er sich dann wieder aufrichtete, fügte er bekümmert hinzu: "Heute steht es nicht gut mit ihm!" – "Nein", erwiderte sie still; die Art, wie er das aufgenommen hatte, beschämte sie.
Der Doktor wurde geholt. Er war an diese plötzlichen Botschaften gewöhnt, daher nahm er sie mit Ruhe auf, und er besaß die unschätzbare Gabe, diese Ruhe auch andern mitzuteilen. Sofort schien es den Eltern, als esse der Junge mit mehr Appetit und sei freundlicher gegen die Großmutter. Viermal am Tag kam sie herüber, und die Art, wie er sie empfing, galt als Barometer.
Die Großmutter war oben im Krankenhaus gewesen und hatte von dort Kallem und Karl Meek mit Ragnis Leiche wegfahren sehen. Der Sarg war weiß und stand auf einem schwarzen Schlitten; vorn neben dem Kutscher saß Sigrid; Kallem und Karl fuhren in einem Breitschlitten hinterdrein. Das war das ganze Gefolge.
Der Bericht über Ragnis letzte Fahrt kam ihnen überraschend. Und daß Karl Meek dabei gewesen war, er ganz allein! Bedeutete das, Kallem hege keinen Argwohn gegen ihn? Oder, was wahrscheinlicher war: er habe vergeben? Wollte vielleicht die Tatsache bemänteln und ihr so diesen letzten Dienst erweisen? Wer doch auch so gut sein könnte!
In der Nacht darauf kam Josefine zu ihrem Mann herunter, als er schon schlief. Ihr Haarknoten hatte sich gelöst; mit dem großen, hohläugigen Gesicht, von dem das schwarze Haar abstand, den Augen, die starr über die Lampe wegstierten, die sie trug, sah sie aus wie eine Besessene oder eine Nachtwandlerin. Er richtete sich im Bett auf und wollte aufstehen. Sie hielt ihn mit der Hand zurück und sagte eintönig: "Ich muß mit Dir reden, Ole; ich kann nicht schlafen. Diese Frau, die Frau meines Bruders, wird uns unsern Jungen nehmen."
Er fühlte, wie ihm alles Blut zum Herzen strömte. "Was sagst Du da?" flüsterte er.
"Wir sind zu hart gewesen, wir beide. Jetzt müssen wir bezahlen; und mit weniger begnügt sie sich nicht." – "Liebste Josefine, Du bist ja ganz außer Dir. Wir wollen uns doch nach Hilfe umsehen …!" Und er sprang aus dem Bett. – "Ja, Hilfe suche ich! Alle, die beten können, müssen mir jetzt beistehen! Hörst Du, Ole!"
"Aber liebste …!"
"Oder glaubst Du nicht, daß Ihr stärker seid als diese Frau? Glaubst Du es nicht? Neulich bist Du so freudig aus der Betstunde heimgekommen – ach, Du kennst die Leute ja, … rufe sie, sie sollen kommen, – hörst Du, Ole!" Und sie fing zu jammern und zu weinen an. "Es ist doch Christenpflicht, uns zu helfen! Sie dürfen es doch nicht ruhig mit ansehen, daß sie ihn uns nimmt!" Die Stimme klang in einem langen Klageton aus. Er saß auf dem Bettrand; die Unterkleider hatte er angezogen, hielt aber nun, die Hosen in der Hand, inne. "Liebe, Liebste, so glaub' doch nur – Gott hat die Macht, und kein anderer! Du bist krank, Josefine!" – Er war voll Sorge und Liebe und eilte, sich fertig anzukleiden. "Du holst sie, nicht wahr?" sagte sie erfreut und stellte die Lampe hin. "Ich wußte es ja! Ich danke Dir! Sei heilig versichert, Ole – es eilt!" Er zog sich rasch weiter an, sagte aber: "Du weißt, Josefine, wir müssen vorsichtig sein, wenn wir für nicht-geistliche Dinge beten!" Das machte sie unruhig; sie streckte die Hände nach ihm aus. Alles an ihr war lose und offen, die Ärmel glitten zurück – unglaublich mager war sie geworden! Eine große Angst überfiel ihn. Ihr wildes Aussehen, die fieberkranke Sprache, die abgezehrte Gestalt.... "Um Gotteswillen, Josefine, Du darfst nicht alles so aufs Gebet setzen! Du könntest darüber zusammenbrechen, so, wie Du jetzt bist...." – "Glaubst Du denn nicht, Ole?" Es entfuhr ihr wie ein Blitz. "Doch, doch! Aber wenn nun Gottes Wille nicht der unsere ist, Kind?" – Die schmerzliche Erinnerung an Andersens Sterbebett stieg in ihm auf. "Du betest um nicht mehr und nicht weniger als um ein Wunder!" – "Ja. Natürlich! Selbstverständlich! Um was beten wir denn sonst?" – "Wir beten, um Gemeinschaft zu finden mit Gott, Josefine. Wenigstens darum bete ich. Dann ist alles gut; dann ist meine Seele gestärkt – und ich bedarf dessen oft so sehr!" – "Gottes Herz erweichen, so steht es geschrieben. Steht es nicht geschrieben? Gottes Herz erweichen! Hörst Du, Ole! Gottes Herz erweichen? So antworte doch!" – Er war vor dem Ofen niedergekniet, in der einen Hand ein Holzscheit, in der andern ein Messer; er wollte Feuer anmachen; sie war so leicht bekleidet. Aber jetzt hielt er inne und sah sie voll Trauer an: "Um ein Wunder beten – das darf ich nicht, Josefine! Ich bin dessen nicht würdig!" Und während er das sagte, wuchs es in ihm, und eh' er es wußte, war er so erregt, daß er das, was er in Händen hielt, fallen lassen mußte, um sein Gesicht zu bedecken. Als er aber wieder aufsah, sprang er in die Höhe; wenn sie in ihrem Schoß das kostbarste Porzellan gehalten und es hätte fallen lassen, daß es in tausend Stücke zersprang – sie hätte nicht anders dastehen können – starr, von Entsetzen gelähmt, die Hände ausgestreckt über dem, was ihr entglitten, die Augen auf ihn geheftet, der Sinne beraubt, als müsse sie auf der Stelle umsinken. Aber das geschah nicht; denn als er sie anfaßte, erwachte sie, faßte sich sofort und sagte rasch ohne Übergang: "Dann müssen wir nach meinem Bruder schicken! Dann kann nur er sie bewegen, von dem Jungen abzulassen!" Diese Worte, aus diesem wunderlichen Gedankengang geboren, klangen ihm wie eine Eingebung. Tausendmal hatte er dasselbe gedacht; der Fall mit dem Oberst hatte schon den Wunsch in ihm erweckt, viele hatten es ihm geraten. Aber bis jetzt hatte er sich immer geschämt.
Ein paar Minuten später war er auf dem Weg zu Doktor Kent, der zuerst gefragt werden mußte.
Eine klare, kalte Nacht, der Weg vom Tag aufgeweicht, in der Nacht gefroren, so daß Tuft aufpassen mußte – dazu die Gedanken, die ihn hetzten – es war schwierig genug. Was wurde aus den Dogmen der Bibel, von Schöpfung, Sündenfall und all dem andern – was war es wert, wenn der Tod anklopfte? Was war dann Nummer eins und was Nummer zwanzig?
In Kents Haus wollte niemand wach werden; er klingelte und klingelte, ohne selber den Klang der Glocke zu hören; sie mußte abgestellt sein. Er fing an, gegen die Tür zu donnern; es klang hart und hohl; und ihm, der an den Tod dachte, war, als klopfe der an; es war ja auch so! Endlich kam, etwas verdrossen, ein Mädchen; als sie jedoch sah, daß es der Pastor war, ging sie, um Doktor Kent zu benachrichtigen. Der geduldige Kent erschien, hieß ihn eintreten und hörte ihn an. Mit Freuden wolle er zu Kallem gehen; hätte er nur gewußt, ob es tunlich sei, so hätte er es schon längst getan.
Josefine war oben bei dem Jungen, als Tuft zurückkam; sie verstand ihn nicht richtig und glaubte, ihr Bruder werde sogleich kommen; und als er um sieben, um acht, um neun noch nicht da war, fürchtete sie, er wolle nicht, und geriet völlig außer sich; der Pastor mußte sich wieder auf den Weg machen. Kent war nicht gleich zu finden, gab aber Bescheid, Kallem und er würden Punkt elf Uhr kommen. Sie kamen auch; aber da war der Pastor eben abgerufen worden, so daß niemand zu ihrem Empfange da war. Kallem hatte seinen Fuß nicht mehr auf diese Treppe gesetzt seit dem Tag und der Stunde, da er die Stadt betreten hatte.
Wenn man sich nach etwas sehnt, geht es einem leicht wie jetzt Josefinen: seit der Nacht war der Bruder ständig in ihren Gedanken gewesen; als er nun aber mit Kent endlich über die dicken Läufer die Treppe heraufkam, dachte sie nicht an ihn. Sie stand gerade über den Jungen gebeugt und gab ihm zu trinken; als es klopfte, schrak sie auf und die Stimme versagte ihr. Die Tür wurde trotzdem geöffnet; Kent ließ Kallem zuerst eintreten.
Ein leiser Schrei tönte ihm entgegen. Fast hätte sie zu Boden fallen lassen, was sie in der Hand hielt. Wie sah er aus! Das war der Tod selbst, der da eintrat, knöchern, schneidend scharf, – nicht um zu helfen, sondern um über ihr Kind das Urteil zu sprechen; das fühlte sie sofort.
Kurz, erbarmungslos sah er sie an, ohne einen Funken Mitgefühl, obwohl auch sie von Kummer mitgenommen war. Als er näher gekommen, blickte er auf den Knaben; und fortan existierte sie nicht mehr für ihn. Sie trat auch ganz von selbst beiseite. Kent kam auf sie zu und begrüßte sie freundlich; dann ging er zu Kallem zurück. Und jetzt ging es wie gewöhnlich – wie es Kallem selbst neulich mit Doktor Meek gegangen war: Kent sah das Kind auf einmal mit andern Augen, mit Kallems Augen; das Aussehen des Jungen wurde plötzlich ein ganz anderes und erschreckte ihn aufs tiefste. Was er bisher weit von sich gewiesen hatte – jetzt drängte es sich ihm von selbst auf: "Empyème?" flüsterte er auf französisch Kallem zu. Der antwortete nicht, trat nur näher, fühlte des Knaben leichten, schwachen Puls, beklopfte leise die Brust, horchte auf die hastigen Atemzüge, besah sich die Temperaturliste und den letzten Auswurf des Jungen. Darauf eine kurze Beratung der Ärzte; Josefine hörte jeden Laut, obwohl sie ein ganzes Stück entfernt, auf der andern Seite des Bettes stand – das Bett des Jungen war da, wo früher das des Vaters gestanden hatte. – Aber sie begriff die technischen Ausdrücke und darum auch deren Bedeutung nicht. Irgend etwas unerhört Entsetzliches war es; das fühlte sie; ihre Hände krampften sich unter der Brust zusammen, während ihre Augen von einem zum andern wanderten. Endlich machte Kent ein paar Schritte auf sie zu. Er wolle nur fragen, ob sie erlaube, daß man eine nadelfeine Spritzenspitze in die Brusthöhle einführe? "Eine Operation?" flüsterte sie und mußte sich stützen.
"Das werden wir dann sehen", erwiderte er ebenso leise. Sie sank auf einen Stuhl. Ihr Bruder wartete die Antwort nicht ab, sondern zog seine Verbandtasche hervor, nahm daraus etwas Blankes, Dünnes, Langes und beugte sich damit über den Jungen. Mehr sah sie nicht, dachte auch nichts mehr —, sie fühlte bloß noch eins: nicht nachgeben! Sie hörte den Jungen jammern und "Mutter" rufen – angstvoll, immer wieder; aber sie konnte nicht aufstehen, sie getraute sich nicht aufzustehen. Dann hörte sie Kent sagen: "So, jetzt ist's vorbei, Jungchen!" Aber was vorbei war, das sah sie nicht.
Der Kleine jammerte und jammerte: die Mutter solle wieder zu ihm kommen. Sie versuchte es ein paarmal; aber es ging nicht; der Bruder drückte sie immer wieder in den Sessel nieder, trotzdem er sie überhaupt nicht ansah.
Dann ging die Tür. Er war fort; und sie atmete auf. Kent trat auf sie zu, mild, teilnahmvoll: "Es ist eine Operation nötig, Frau Pastor!" flüsterte er. "Wozu denn?" Sie wußte ja, es nützte doch nichts; sie hatte es in ihres Bruders Gesicht gelesen. "Weil wir alles versuchen müssen", erwiderte Kent. Der Junge bat jetzt im kläglichsten Ton die Mutter, sie möge zu ihm kommen. "Ich komme schon!" Sie kniete bei ihm nieder und brach in Tränen aus. "Es hat so weh getan!" klagte er. Ach, wenn sie hätte antworten können: "damit Du gesund wirst und wieder aufstehen kannst!" Aber nicht einmal Kent wagte das. Sie suchte nach Mut, um die Operation zu verbieten; aber sie wagte es ihrem Bruder gegenüber nicht. Kent wartete; das fühlte sie zuletzt und sah ihn verzweifelt an. Er beugte sich zu ihr hinab: "Ihr Bruder schickt gewöhnlich jemand von seinen Leuten vorher zum Desinfizieren und Vorbereiten", sagte er leise. "Heute schon?" flüsterte sie und schluchzte bitterlich. "Nein, aber mit dem Reinmachen und Auslüften muß jedenfalls heute begonnen werden. Die angrenzenden Zimmer müssen wir auch dazu nehmen." Sie hatte ihren Kopf wieder neben den ihres Jungen gelegt und antwortete nicht; sie hörte ihn weggehen.
Als der Pastor nach Hause kam, eilte er gleich ins Krankenzimmer hinauf und war nicht wenig verwundert, dort die Großmutter und – Sissel Aune zu finden. Die letztere hielt Wacht bei dem Jungen, der äußerst empfindlich war und niemand als die Mutter um sich dulden wollte; auch den Vater nicht; der roch noch immer nach Tabak; obgleich er das Rauchen aufgesteckt hatte. Der Pastor fand Josefine im Studierzimmer auf dem Sofa, verzweifelt, aufgelöst; sie stammelte zusammenhangslose Worte: "Das Todesurteil!" antwortete sie fast auf alles, was er sagte.
Am Nachmittag kam eine Krankenhausschwester und übernahm die Aufsicht; mit ihr rückten neue Leute ein; das ganze Haus war in der Gewalt Fremder. Das Scheuern klang wie das Hobeln der Sargbretter. Die Dienstmädchen kummervoll; die Großmutter in Tränen; und als das Bett des Kindes in ein anderes Zimmer getragen wurde und sie die Tritte der Träger hörten, saßen die Eltern Hand in Hand und zitterten.
Wenn jetzt jemand gesagt hätte: "Es ist gut für die Eltern, wenn der Junge stirbt. Freilich, jetzt sehen sie das noch nicht ein; aber sie werden daran wachsen!" Wenn jemand die Roheit hätte, ihnen so etwas zu sagen! Tuft mußte mit Josefine darüber sprechen, mußte ihr bekennen, was seine eigenen Worte in ihm bewirkt hatten. Sie drückte ihm stumm die Hand.
Abends, als wieder Ruhe im Hause war, waren beide oben beim Jungen, und beiden war es, als habe der Tod ihn schon gezeichnet. Die Hand der Mutter in der seinen schlief er ein; dann führte Tuft sie sanft hinweg. Es war ihr jetzt nur willkommen, daß jemand sie führte; infolge der vielen Umänderungen im Hause war auch ein zweites Bett im Fremdenzimmer aufgeschlagen worden.
Am nächsten Tag saßen die Eltern von früh an bei dem Kleinen. Sobald sie weg waren, sollte er in sein ehemaliges Zimmer geschafft werden; dort war alles zur Operation bereit. Um zehn Uhr kamen die Ärzte. Josefine lag auf dem Sofa im Studierzimmer. Als sie die Männer kommen hörte, hielt sie sich die Ohren zu; die Teppiche waren fortgenommen, so daß man das leiseste Stiefelknarren hörte. Sie ließ sich nicht trösten, ließ sich nicht zureden, verfiel wieder in den halbbesinnungslosen Zustand, in dem sie schon einmal gewesen war; sie wollte um jeden Preis hinauf zu dem Jungen; er konnte ihnen ja unter den Händen sterben. Der Pastor hätte gern mit den Ärzten gesprochen; aber sie hängte sich an ihn: sie wollte mit. So blieb er unten. Wenn irgend jemand oben einen Fuß rührte, so wußte sie gleich, wer es war; bewegten beide Ärzte sich zu gleicher Zeit, dann ging etwas Besonderes vor; dann krümmte sie sich und saß in sich zusammengekauert da, die Hände vor den Ohren. In ein anderes Zimmer wollte sie sich nicht bringen lassen; hier wollte sie bleiben, und Qualen erleiden. Manchmal, wenn sie sich halb zu Tode gehetzt hatte, flüchtete sie zu Tuft, wie zu einem stillen Hafen; "hilf mir!" flüsterte sie; es ginge um ihren Verstand, um ihr Leben; immer habe sie gewußt, daß es einmal ein jammervolles Ende mit ihr nehmen würde.
Tuft bewog sie endlich, sich aufs Sofa hinzulegen und sich kalte Umschläge machen zu lassen; er bat sie so innig, und seine Liebe war so stark, daß sie ihr einen Halt gab. "Danke, Ole, danke!" Darnach wurde sie still.