Kitabı oku: «Auf Gottes Wegen», sayfa 20

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"Er schreit!" rief sie plötzlich und setzte sich auf; sie wollte hinauf. Der Pastor beteuerte, er höre nichts; aber im selben Augenblick hörten sie es beide. "Ja, ja!" rief sie und wollte hinauf. Tuft umschlang sie mit beiden Armen, bat und beschwor. Und wieder wurde sie still. Von oben kam kein Laut mehr jetzt.

Oben ging alles schnell. Auf Kallems Verantwortung wurde der Junge chloroformiert, und das Schreien, das die Eltern gehört hatten, galt der Flanellmaske, die Kent ihm vors Gesicht hielt. Der Junge schob sie weg; er meinte, er müsse ersticken. "Mutter! Mutter!" Aber bald schlief er ein. Die Großmutter saß in einem frischgewaschenen Kleid auf der andern Seite am Kopfende und hielt seine Hand; sie zitterte, die Alte. Aber sie saß da, und sie wollte da sitzen bleiben, bis alles zu Ende war. Niemand hatte sie darum gebeten; aber sie hatte ihren Gott darum gebeten. Sobald der Junge eingeschläfert war, forderte Kallem sie jedoch höflich auf, zu gehen. Langsam und stumm entfernte sie sich.

Nun gings ans Werk. Zwischen den Rippen auf der rechten Seite wurde ein acht Zentimeter tiefer Einschnitt gemacht. Mit stumpfen Instrumenten bohrte Kallem tief hinein, kam bis an den Rippenrand und sägte ein kleines Stück heraus; der Eiter strömte aus der Wunde.

In diesem Augenblick wurden alle von einem wilden Schrei im Hintergrund aufgeschreckt. Josefine hatte blitzschnell die Tür aufgerissen, sah die weißen Operationsmäntel, sah Kallem voller Blut in der Brust ihres Kindes wühlen, – und stürzte kopfüber zu Boden.

"War die Tür nicht abgeschlossen?" fragte Kallem. Sissel kam von innen gelaufen, der Pastor von außen, und zusammen trugen sie sie hinaus. "Achten Sie auf den Puls!" wurde der Diakonissin zugeflüstert. "Und schließen Sie die Tür zu!" – "Und Sissel —?" – "Muß draußen bleiben!"

Man hörte Josefine bald darauf an der Tür; aber niemand achtete ihrer. Eine Drainröhre wurde in die Brusthöhle eingeführt, diese wurde ausgespritzt und vorsichtig ein Gazeverband darum gelegt. Die Röhre mußte ein paar Tage liegen bleiben und die Zimmertemperatur gleichmäßig auf 15 Grad gehalten werden. Bald darauf zog Kallem sich samt seinen Instrumenten ins nächste Zimmer zurück und war verschwunden, bevor noch irgend jemand, der nicht der Operation beigewohnt hatte, wußte, daß er fertig war.

Die Großmutter, die Ärmste, war wieder hinaufgegangen, um an der Tür zu horchen, als Sissel, die jetzt im Zimmer war, öffnete und etwas unter der Schürze davontrug. Im Vorbeigehen erzählte sie schnell, es sei alles vorüber. Die Großmutter wagte sich hinein; aber als sie das blasse Kind sah, verlor sie alle Herrschaft über sich selbst; sie ging schnell wieder hinaus und erreichte ihr Haus mit Mühe und Not.

Dieses Petrefakt von der Meeresküste, pietistisch plattgedrückt, in die Nordwand des Hauses eingemauert, war für gewöhnlich gänzlich unzugänglich; der einzige Mensch, mit dem sie eine Art Gemeinschaft zu haben schien, war der Knabe. Ihr ganzes Haus war seine Spielstube; alles, was er nur wollte, durfte er ihr hineinschleppen; sie schleppte es wieder hinaus; sie hatte ja nichts anderes zu tun, als hinter ihm her aufzuräumen. Man hätte denken sollen, er müßte deswegen an ihr hängen; aber es war eigen: seit er krank war, mochte er die Großmutter gar nicht mehr sehen. Das klare Wesen der Mutter hatte, bei aller Strenge, seine Phantasie gefangen genommen; die Nachgiebigkeit der Großmutter, mit all ihrer Hinterhältigkeit und ihren Verboten, mit all den Gebeten, die er auswendig lernen sollte, und all den biblischen Geschichten, die er nicht verstand, hatte ihn gequält. Nun er matt und krank war, durfte sie überhaupt nicht mehr reden. Ein Jammer ist es mit diesen alten Leuten! Auch ihr Sohn vernachlässigte sie, seit Josefine wieder zugänglicher war. Wäre nicht die Diakonissin gekommen – die Operation wäre vielleicht vor sich gegangen, ohne daß die Alte darum gewußt hätte.

Einige Stunden später schlich sie sich wieder hinauf, lauschte draußen, hörte nichts, dachte, es sei vorbei und wagte sich hinein. Sissel saß da und nickte; aber sie sah gleich auf. "Lebt er?" fragte die Großmutter. "Ja", antwortete Sissel, nur ebenso laut, daß man es hörte; größer schien auch ihre Hoffnung kaum. Die Großmutter konnte nicht mehr; sie ging. Aber schon etliche Stunden darauf war sie wieder da. Er lebte noch immer. Diesmal hatte sie ihre Brille mitgebracht und ein altes, liebes Buch; Sissel konnte schlafen; sie würde hier sitzen bleiben, bis es zu Ende war. Sissel sagte ihr, was zu tun sei, und legte sich dann auf Josefines Bett.

Erst um sechs Uhr abends streckte der Pastor den Kopf zur Tür herein. Erst jetzt wagte er, Josefine auf einen Augenblick zu verlassen. Er sah seine Mutter dasitzen, mit ihrer Brille und der alten Postille; er trat näher und forschte in ihrem Antlitz wie in einer Schrift: "Er lebt!" las er darin. Sie nickte, wie vorhin Sissel, – im selben Sinne. Vor dem leichenblassen, schlafenden, schlaffen Gesicht des Jungen schauderte er zurück und ging.

Ganz, ganz still war das Haus. In der Küche, die abseits lag, hörte man leise reden; überall waren die Türangeln geölt, überall lagen wieder Läufer und Teppiche. Allstündlich kam der Pastor, immer auf den Zehenspitzen; und immer derselbe Bescheid: bis jetzt lebe er noch. Alle kamen und gingen, lautlos, als wandelten Gespenster. In dem Fremdenzimmer, wo Josefine lag, und in seiner Nähe gab es keine Worte mehr, nur noch Zeichen.

Die Nacht war womöglich noch schweigsamer. Großmutter saß nicht mehr am Bett, sondern Sissel; in der Küche brannte das Feuer, und irgend jemand wachte da immer, für den Fall, daß etwas sich ereignen sollte. Auch der Pastor wachte und ging ab und zu. Aber gegen drei Uhr schliefen er und die Küchenwache ein. Als die Großmutter gegen vier kam, schlief auch Sissel. Großmutter setzte sich wieder an ihren Platz. Nirgends ein Laut, bis gegen sieben Uhr. Großmutter sah nach dem Ofen und gab dem Kranken die Medizin; atmete der kleine Edvard leichter? Oder täuschte sie sich?

Gegen sieben Uhr ging langsam die Tür auf. Sie glaubte, es sei ihr Sohn; aber es war Josefine, die hereintrat. Im Zwielicht sahen ihr großes Gesicht unter dem wirren Haar, ihre wilden Augen noch entsetzlicher aus; die Alte, die längst für ihren Verstand gefürchtet hatte, erschrak. Aber Josefine blieb an der Tür stehen; sie hörte Sissels feste Atemzüge, aber nicht die des Jungen; da wagte sie nicht weiterzugehen. Das sah die Großmutter und nickte ihr ermunternd zu. Ein paar Schritte vorwärts – und die Mutter sah ihren Jungen – zum Erschrecken blaß, ohne jedes Lebenszeichen. Aber Großmutter nickte wieder; da wagte sie sich weiter vor. Die Gardinen waren noch zugezogen, deshalb sah sie nicht deutlicher; aber jetzt schien ihr doch, als atme er! Sie kniete nieder. Atmete er wirklich leichter, oder…? Sie hatte sich so verrannt in ihren Glauben an das Todesurteil, daß sie gar nicht hörte, was sie hörte. In äußerster Spannung lauschte sie, überlegte, hielt den Atem an, und erst, als sie die Gewißheit hatte, daß er leichter atmete, ließ sie den eigenen Atem unwillkürlich mit voller Gewalt über das Gesicht des Jungen hinströmen. Der warme Hauch weckte ihn; er schlug die Augen auf und sah seine Mutter an, und es schien, als besinne er sich. Ja, es war die Mutter; sie war wieder da! Seine Augen wurden lebhafter, klarer, als man sie seit Wochen gesehen hatte, und sie blickten in die ihren, bis Josefines Augen von Tränen überflössen.

Kein Wort sagte er, kein Glied regte er aus Furcht vor den alten Schmerzen; und ihr war, als müsse ihm der Lebensgeist entfliehen, wenn er es tue oder wenn sie ihn anrühre oder anrede. Ja, sie dachte sogar, sie atme zu laut, atmete leiser, bewegte keine Hand, wandte nicht den Kopf. Und in dieser bewegungslosen Stille war ihr, als seien Flügel ausgebreitet über ihnen beiden. Der Augenblick glich dem, da sie ihn geboren, da sie den ersten kleinen Laut seiner lebendigen Stimme gehört hatte. Jetzt begann das Leben zum zweitenmal, jetzt, in diesen ersten, scheuen Atemzügen. Seine Augen waren wie Licht im Schnee. Nicht satt konnte sie sich sehen an ihrem frischen Glanz; sie beide schwebten miteinander, als ob es nimmer enden solle.

Aber dem Jungen wurde die Macht ihrer Augen zu schwer; er gab sich der Sicherheit ihrer Nähe hin und schloß die Augen wieder, öffnete sie noch ein paarmal, um sich zu vergewissern, … ja, sie war noch da, und dann schlief er ein.

Eine Weile darauf stand sie im Studierzimmer. Draußen war heller Tag; herein damit! Sie zog die Gardinen auf; der Tag füllte den hohen Raum mit dem Leben des Lebens, füllte ihre eigene Seele bis in den verborgensten Winkel; sie stieß die Tür zum Fremdenzimmer auf und stellte sich in die Öffnung.

Da lag Tuft, breit und stark, mit ausgestrecktem Arm, das dichte Haar, die hohe Stirn noch glänzend vom gestrigen Schweiß, um den Mund ein Lächeln. Jetzt weckte das Licht ihn halb aus dem Schlaf. "Ole!" sagte sie. Er öffnete die Augen weit, kniff sie aber gleich wieder zu. Im Geist ordnete er, was er da mit einem Blick gesehen hatte, und zugleich hörte er aus all dem Licht heraus Josefines Stimme: "Er lebt!"

Am Sonntag sprach in der Kirche von der Kanzel herab ein Mann aus dem heraus, was er gelernt hatte.

Darüber nämlich, was für uns alle das Größte ist.

Der eine vergißt es in seinem Strebersinn, der andere in seinem Kampfeseifer, ein dritter in seiner Verranntheit und ein vierter über seiner eigenen Weisheit, ein fünfter in seinem Alltagstrott, und alle haben wir es mehr oder minder verkehrt gelernt. "Denn fragte ich nun Euch, die Ihr mir zuhört, so würdet Ihr alle, just weil ich von dieser Stätte aus frage, mir gedankenlos antworten: 'Das Höchste ist der Glaube'."

"Ich aber sage Euch: wahrlich er ist es nicht! Sitz am Bett Deines Kindes, das daliegt in Atemnot, am Rande des Todes; oder laß Dein Weib, aufgerieben von Angst und Nachtwachen, dem Kinde nachgleiten bis an diesen äußersten Rand – da lehrt Dich die Liebe, daß das Leben das Höchste ist. Und nie wieder von diesem Tag an werde ich Gott oder Gottes Willen zuerst in einer Formel, in einem Sakrament oder in einem Buch oder einer Bibelstelle suchen, als sei er vor allem hier oder dort; nein, vor allem im Leben, in dem Leben, das der Tiefe der Todesangst abgerungen ist, im Sieg des Lichts, in der Inbrunst der Liebe, in der Gemeinschaft der Lebenden ist Gott. Gottes vornehmstes Wort an uns ist das Leben; unsere höchste Gottesverehrung die Liebe zu den Lebenden. Dieser Lehre, so selbstverständlich sie ist, bedurfte vor allen andern ich. Diese Lehre hatte ich aus verschiedenen Gründen und auf mancherlei Weise abgelehnt – am stärksten in letzter Zeit. Aber niemals wieder soll das Wort mir das Vornehmste sein, ebensowenig die Zeichen; nein, das Größte soll mir sein die ewige Offenbarung des Lebens. Niemals wieder will ich festfrieren in einer Lehre; die Lebenswärme soll meinen Willen lösen. Niemals wieder will ich Menschen richten nach Dogmen und nach der Gerechtigkeit vergangener Zeiten, wenn sie nicht den Maßstab der Liebe unserer Zeit tragen. Niemals, so wahr ein Gott lebt! Und das, weil ich an ihn glaube, an den Gott des Lebens, und an seine unablässige Offenbarung im Leben!"

12

Am selben Nachmittag erschien bei Tuft ein seltener Besuch. Es klopfte leise an, und auf das erste "Herein" zeigte sich niemand. Auf das zweite wurde die Tür bedächtig geöffnet von Sören Pedersen, und hinter ihm tauchte nach langem Zögern und in großer Verlegenheit Aase auf.

Sie wollten nichts Geringeres als dem Herrn Pastor für die heutige Predigt danken. "Denn niemand, Herr Pastor, kann leben ohne Gott; wenigstens wir ungelehrten Leute nicht. Es geht nicht, es geht ganz einfach nicht. Und so kommen wir wie der verlorene Sohn – d. h. Aase wäre da wohl die verlorene Tochter – (komm nur näher! Na, so mach', was Du willst!) und bitten Sie, ob Sie nicht zu Gott um Gnade für uns beide beten wollen, Herr Pastor!" Und Tuft tat es mit einer Inbrunst, wie nur er sie in ein Gebet zu legen vermochte. Sören sagte dann, sie wollten jetzt gleich zu Herrn Doktor Kallem gehen. "Ganz gewiß ist er der beste Mensch auf der ganzen Erde, jedenfalls hier in der Stadt. Aber in diesen Dingen ist er im Irrtum, Herr Pastor. Es gibt ganz sicherlich einen Gott und auch Geister, und das wollen wir ihm jetzt sagen."

Tuft selber hatte beschlossen, an diesem Nachmittag noch Kallem aufzusuchen. Er war ihm dankbar, und es drängte ihn, zu bekennen, daß ohne das Unrecht, das sie an Ragni begangen hatten, nicht einmal die Erlebnisse dieser Tage ihm zur Erkenntnis der Lebenswerte verholfen hätten. Vor allem wollte er Josefine rechtfertigen, indem er ihre Schuld auf sich nahm. In der geschäftigen Dogmen-Postkutsche, in der er getrabt war wie ein Postpferd mit Säcken voll Papier beladen, hatte sie mitfahren müssen, ob sie nun wollte oder nicht. Und durch dies Unrecht war sie mißtrauisch und hart geworden.

Als er sich eine Stunde später auf den Weg machte, stand ihre gemeinsame Kindheit merkwürdig lebendig vor ihm. Damals hatte er Missionär werden wollen; jetzt würde er es vielleicht im Ernst werden. Die Evolutions- und Entwicklungslehre auch ins Religiöse zu übertragen, das war eine Mission wert, und sie gedachte er auf sich zu nehmen. Der kleine Dogmengott vergangener Zeiten und seine Priester mußten überwunden werden wie die Götzen und Wundertäter der Heiden. Und hatte er später in theologischem Machtbegehr davon geträumt, Bischof zu werden – nun wohl! Hier war ein gefahrvolles Bistum – aus leicht erklärlichen Gründen – frei in Norwegen.

Auf der Treppe zum oberen Eingang wartete Sigrid, als Pastor Tuft mit langen Schritten über den Hof gesteuert kam. Sie war schwarzgekleidet und trug ein schwarzes Tuch über dem lichtgelben Haar. "Herr Doktor ist nicht zu Hause!" sagte sie in ihrer stillen Art. Er machte sofort Kehrt und ging entschlossen nach dem Krankenhaus hinauf. Dort stand Mutter Andersen, ebenfalls in Schwarz und einer Haube mit schwarzen Bändern. "Tragen Sie noch immer Trauer um Ihren Mann?" – "Nein, jetzt um Frau Kallem." – "Ist Doktor Kallem hier?" – "Nein, er ist vor einer Weile nach Hause gegangen."

Da irrst Du! dachte Tuft und schlug den Weg nach der Landstraße ein; er konnte inzwischen eine tüchtige Promenade machen.

Es waren viele Spaziergänger unterwegs; sie grüßten ihn voll freudiger Teilnahme, das war zweifellos. Mutter Andersens strenges Gesicht hatte einen Schatten über ihn geworfen; aber vor der Milde der andern zog sich der Schatten zurück. Wieder überkam den Pastor der stürmende Mut, den er vor einer Weile noch gehabt hatte, und der den meisten Neubekehrten eigen ist. Dicht beim Krankenhaus begegnete er Sören Pedersen und seiner Frau; auch sie wollten sich an diesem lichten Sonntagabend voll Frühlingsverheißung einen kleinen Spaziergang leisten. "War er zu Hause?" fragte Tuft. "Ja, Herr Pastor", erwiderte Pedersen höchst aufgeräumt. "Na, was hat er denn gesagt, der Doktor?" – "Es hat mir gefallen, was er sagte, Herr Pastor. Es gibt zwei Arten von Menschen, sagte er; die eine glaubt nur das, was sie weiß; die andere tut das auch, aber das, was sie glaubt, läßt sich nicht beweisen – wenigstens für niemand, als sie selber." – "Er hat recht." Tuft lachte und eilte weiter. Aber sowie er allein war, überfiel ihn Markus 16, Vers 16; das lag noch von seiner "rechtgläubigen" Zeit her im Hinterhalt und lauerte ihm auf. "Wer aber nicht glaubet, der wird verdammt werden!" Gott respektiert also nicht "zwei Arten Menschen". Tuft setzte sich eifrig zur Wehr; vom neunten Vers bis zum sechzehnten Kapitel ist alles ein späterer Zusatz, von dem die ältesten Handschriften nichts wissen. Wenn diese Stelle unecht ist, so enthält keins der drei Evangelien eine Stelle, die auch nur annähernd so furchtbar wäre. Und das vierte, das sie enthält, hat damit sich selbst "verdammt". Nein – das Leben ist alles – und der Glaube ist der wunderbare Weg zur Erklärung des Lebens, d. h. zu Gott. Auf diesem Wege werden wir dereinst die höchste Gemeinschaft mit ihm erlangen, wenn nicht hienieden, so doch im Jenseits. Der Glaube soll uns nicht zum Gericht werden, sondern zum Führer. Menschen um ihres Glaubens willen zu verdammen, mochte in entschwundenen Zeiten als Wahrheit gelten; in unserer Zeit stößt es ab. Gott offenbart sich unserem Verstand auf höhere Weise. Wieder schritt er eilig über den Hofraum.

Aber wieder kam Sigrid auf die Treppe: "Herr Doktor ist nicht zu Hause." Die verschleierten Augen wichen den seinen aus; aber sie blieb unbeweglich stehen, das Gesicht dicht eingerahmt von ihrem Tuch. Das Haus hinter ihr war wie ein Geheimnis, eine geschlossene Gemeinschaft, etwas in sich Treu-Gefestigtes, von dem er ausgeschlossen war.

Jetzt begriff er.

Der Preis, um den er hier Einlaß fand, war doch wohl höher, als er gedacht hatte. Demütig ging er heim; Josefine gegenüber schwieg er von der Sache.

Die Zurückweisung war ihm ein neuer Ansporn, weiter auf dem Wege vorzudringen, der einzig die Geschwister wieder zusammenführen konnte. Und das war die Bedingung für alles andere. Er gestand sich ehrlich ein, daß er war auf seinen Schwager eifersüchtig gewesen. Dies rein persönliche Gefühl hatte großen Einfluß auf die Beschränktheit seiner Lehre gehabt.

Da kam ihm von außen her Hilfe. Zuerst verwunderte Fragen, zurückhaltendes Wesen, was ihm wehtat, ihn zuweilen schwankend machte; bald aber offener Kampf mit seinen treusten Anhängern. Und das trieb ihn vorwärts. Sein alter Freund, der ehemalige Krankenhausverwalter, schien nur auf die Gelegenheit gewartet zu haben, um sich von einem Dankbarkeitsverhältnis, das ihm lästig war, freizumachen; er schlug gewaltig Lärm und zog Hilfstruppen sogar aus der Hauptstadt herbei. Seminarlehrer, Schulmeister, Wanderprediger und verschiedene Pastoren gingen Pastor Tuft in der Betstunde mit allen möglichen theologischen Instrumenten zuleibe. Vor allem lernte er, sich deutlich ausdrücken; denn die meisten Punkte, in denen sie ihn angriffen, beruhten auf Mißverständnissen. Er lernte aber auch den Gebrauch von Kräften und Kenntnissen, die er bis jetzt nicht geübt hatte.

Im ersten Monat war Josefine nur müde und stumpf; sie war mehr heruntergekommen, als sie wußte. Aber nach einiger Zeit fing sie an, dem Bauernjungen, der einst ihr Herz mit seinem lichten Glauben gefangen hatte, zu folgen.... Ob er wiederkam?

Ein Ereignis, das sie ihrem Mann verheimlichte, hatte sie wieder so zurückgebracht, daß sie nur langsam zu Kräften kam. Auch sie war nämlich in aller Stille bei ihrem Bruder gewesen, sobald sie wieder ausgehen konnte; auch sie war von Sigrid auf der Treppe empfangen worden mit dem Bescheid, er sei nicht zu Hause; aber sie hatte ihn, als sie kam, auf der Veranda stehen sehen! Mit knapper Not hatte sie sich heimgeschleppt.

Sie hatte ja das tiefste Mitgefühl mit ihm gehabt und war zu jedem Zugeständnis bereit gewesen; seine Unerbittlichkeit jedoch weckte ihren Trotz. Von ihrer eigenen Eifersucht auf Ragni hatte Josefine selbst keine Ahnung, also auch nicht davon, wie dadurch ihr eigenes Wesen beeinflußt worden war. Sie sah ihre Schuld darin, daß sie unverträglich gegen eine Frau gewesen war, die im Grunde eben doch eine Sünderin war. Wenn Sissel Aune oben bei dem Jungen saß und ihm von Ragni erzählte, wie liebevoll sie bis zum letzten Augenblick gewesen sei, dann empfand sie das Unmenschliche ihres Betragens, daß sie Ragnis Herzensgüte, daß sie Kallems Liebe hatte übersehen können. Aber abgesehen von dieser Unversöhnlichkeit fühlte sie sich nicht schuldig.

Die Enttäuschung war um so größer und hätte schwere Folgen gehabt, wenn nicht gerade jetzt ihres Mannes Kampf sie mitgerissen hätte. Ein unklarer Mensch, der wesentlich nur in Trotz gelebt hat, kann nur durch eine große Begebenheit erlöst werden. Und zu einer solchen wurde ihr der Tag, als Tuft zu ihr sagte: "Josefine – hierfür müssen wir Amt und Vermögen einsetzen!"

Drei Monate waren vergangen, da fühlte sie sich, neubelebt vom Kampf, stark genug, es mit ihrem Bruder aufzunehmen. Sie schrieb ihm, was sie auch verbrochen hätten – es müsse Klarheit sein zwischen ihnen; einer Anklage wenigstens müßten sie gewürdigt werden. Ihre Dankbarkeit gegen ihn sei groß, ebenso groß aber ihr Bedürfnis, mit ihm zusammenzuarbeiten, nun, da sie ihre frühere Unverträglichkeit bereuten und dem Geist der Liebe und der Gerechtigkeit, den sie verkannt hätten, jedes nur mögliche Opfer zu bringen bereit seien.

Ein sehr geschickter Brief; das sagte auch ihr Mann.

Aber Tag auf Tag verging ohne Antwort. Es war ein wahres Glück, daß gerade diese Tage die schwersten Kampftage für Tuft waren. In der Betstunde und nachher auch in der Kirche hatte er die Worte angewendet, mit denen Josefines Brief schloß: "Gerechtigkeit und Liebe" ohne Unterschied des Glaubens (wie in der Erzählung vom barmherzigen Samariter) sei der Kern des Christentums; deshalb müsse alles mit diesem Maß gemessen werden, in erster Linie die Lehre selbst, bis jedes Körnlein, das sich nicht daran messen ließe, vor der Offenbarungsmacht der Gerechtigkeit unserer Zeit fallen müsse als eine Gotteslehre ferner und harter Zeiten.

Dafür wurde er noch am selben Tage zur Disputation geladen.

Zwei Versammlungen wurden abgehalten im Verlauf der Woche, alle drei stark besucht. Sein Hauptgegner war ein Pastor und Redakteur einer theologischen Zeitschrift aus der Hauptstadt. Die Lehre von der Hölle war fast ausschließlich der Gegenstand, um den es sich drehte, und Tuft hielt daran fest: alles, was Paulus darüber gesagt habe, sei völlig verschieden z. B. von der Offenbarung Johannis. Nach Paulus sei das Leben hier und im Jenseits ein stetiges Fortschreiten, das damit ende, daß Gott "Alles in Allem" werde. Diese Lehre halte das Maß der Gerechtigkeit und der Liebe, – und es machte Eindruck, als er mit seiner metallreichen Stimme in der lebhaften, westländischen Tonart über die dichtgedrängte Versammlung hinrief, ob sie denn glaubten, Krieg und Unterdrückung durch den Stärkeren würden ein Ende nehmen, solange die Lehre von der Hölle mit ihrer grausamen Rachsucht und Roheit in allen Schulen und Kirchen als Gottes Gerechtigkeit und Liebe gelehrt würde!

Die Gegner waren ganz im "Stil der Höllenlehre", indem sie alles taten, ihn zu verketzern und zu verdammen. Unter den Zuhörern herrschte nur eine Meinung: in Klarheit und Überzeugungstreue war Tuft den andern allen über.

Das letzte Mal war auch Doktor Kallem zugegen; er sah auch Josefine mit flammenden Augen dasitzen; und am nächsten Tag gegen Abend kam seine Antwort.

Sie stand gerade vor dem Haus und sah ihrem Jungen zu, wie er mit der Gartenspritze spielte, als der Brief kam; sofort erkannte sie die Handschrift, und zitterte so, daß sie ihn gar nicht öffnen konnte. Es erschreckte sie, wie wenig kräftig sie im Grunde doch noch war. Sollte sie die Gesundheit ihrer Jugend nie wieder erlangen?

Sie ging also auf ihr Zimmer und riegelte hinter sich ab. Ein dicker Brief! Sie drehte und wendete ihn, setzte sich und überlegte, ob sie ihn vielleicht nicht doch Tuft zuerst lesen lassen sollte. Aber möglicherweise stand etwas über ihn darin, was er nicht sehen durfte.

Sie öffnete.

Kein Wort von ihrem Bruder, kein Wort an sie! Das erste, was sie sah, war von fremder Hand geschrieben; das nächste ebenfalls, das übernächste auch, zwei verschiedene Handschriften. Ein paar zusammengeheftete Bogen, einige Briefe, ein paar lose Zettel … von Edvard kein Wort.

Was bedeutete das? Aus all den Papieren zog Josefine unwillkürlich das kleinste hervor, ein Zettelchen mit drei Zeilen darauf:

"Sie haben meinen guten Namen getötet und ich hab' es nicht gewußt. Denn ich wußte nicht, daß ich einen hatte, bis er getötet war."

Auf einem andern Zettel bloß die feingeschriebenen Worte: "Vergib ihnen; sie wissen nicht, was sie tun."

Diese zarte, leichtschwingende Handschrift war natürlich Ragnis. Josefine begann zu zittern, und wußte doch nicht warum.

Da lag ein Brief von einer andern Hand geschrieben, die ersten Worte in roter Tinte. Keine Unterschrift. Aber als sie las, daß Kallem dies nicht sehen dürfe, vermutete sie einen Liebesbrief von Karl Meek, den Kallem nach ihrem Tode gefunden hatte. Was sollte sie damit? Flüchtig las sie die ersten Worte, hielt aber inne, als es "Sie" hieß – als er von einem Schmerz sprach, den er hatte allein tragen wollen, der nun aber auch sie betroffen hätte, eine Verleumdung…? War es Verleumdung gewesen?

Überall die allerehrerbietigsten Ausdrücke! – Wann war der Brief geschrieben? Es war kein Datum angegeben; aber der Schreiber war im Ausland; also nach ihrem Zusammenleben hier. Der Brief war ein einziger großer Schrei, ein Schmerz, so echt, wie sie einen größeren nie gelesen hatte.

Josefines Hand zitterte; sie mußte den Brief auf den Tisch legen.

Sie las, wie Karl infolge dieser grausamen Verleumdung an niemand anders und an nichts anderes zu denken vermochte; sie las, wie dadurch seine Liebe zu Ragni erwacht war; Josefine sah diese Liebe, aus Kummer, Dankbarkeit, Anbetung geboren, ihr entgegenatmen, – in den reinsten, rührendsten Ausdrücken.

Ragni unschuldig? Gott im Himmel, war sie wirklich unschuldig? Dann waren die ergreifenden Szenen zwischen Edvard und ihr, während der Tod sie Zoll für Zoll auseinanderriß (Sissel Aune hatte sie ihr geschildert) ja nicht zu ertragen gewesen! Ja, dann begriff sie, weshalb er mit ihrer Leiche von hier weggezogen war und Karl Meek mitgenommen hatte. Sie begriff nur das eine nicht: daß er es überlebt hatte.

Es klopfte an die Tür; sie sprang auf; es war bloß das Mädchen, das sie zum Abendessen holen wollte. Sie vermochte nicht zu antworten. Es klopfte wieder. "Nein, nein!" würgte sie endlich heraus, während sie sich wand vor Scham und Schmerz. Sie mußte zu ihrem Bruder! Sie mußte zu ihm! und sollte sie auf den Knien zu ihm rutschen!

Aber da waren noch mehr Papiere; und sie hatte ein Gefühl, als ob ihr Bruder neben ihr stehe und ihr gebiete zu lesen. Zitternd las sie:

"Ich will jetzt abschreiben, was ich nach vielen Versuchen und Ausstreichen über meine Kindheit und meine erste Ehe zustande gebracht habe; aber ich fühle mich auf einmal so müde und so fertig. Immer hatte ich mir ausgedacht, ich wolle ein paar Worte als Einleitung schreiben, und hatte mich darauf gefreut. Jetzt ist es zu spät. Jetzt kann ich Dir bloß noch sagen, Du 'weißer Pascha' meines Lebens, wie das alles so mit mir gekommen ist. Ganz kurz hab' ich's gesagt, weil es mir eine Qual war. Ich hab' es auch nur gesagt, damit Du mich verteidigen kannst, sollte irgend jemand es noch der Mühe wert finden, von mir zu sprechen, wenn ich fort bin. Liebster Freund, ich klage nicht. Ich habe das Schönste erlebt, was ich erleben konnte; nur daß es so kurz war! Du mußt Dir bloß vorstellen – ich hatte mich selber aus bloßer Furcht vor noch etwas Schlimmerem weggeworfen; und da hast Du mich emporgetragen aus der Tiefe des Meeres zum Frieden, zu allem Guten in guter Menschen Obhut – bis Du dann zum zweitenmal kamst und mich noch weitergetragen hast – zu Dir selbst. Und hier, in Deinem Heim, alles zu eigen zu haben, Dich, und alles, was Dir gehört – ohne es zu verdienen; ich hab' es oft schwer empfunden; aber glücklich war ich doch."

"Ich weiß, ich füllte meinen Platz nicht aus; aber nun, da es zu Ende geht, ist mir, als schade auch das nichts mehr. Du hättest Nachsicht gehabt mit mir, wie lang es auch gedauert hätte; das weiß ich ja gewiß."

"Liebster, wenn ich Dir auch alles sagen wollte, was von Dank und Bewunderung für Dich in mir ist – Du würdest es nicht begreifen; so selbstverständlich war es Dir, daß alles Frohe in Deinem Leben von mir kam. Und das ist auch in meinem Leben das Schönste gewesen."

"Aber Du liest das ja erst, wenn ich nicht mehr im Sessel neben Dir sitze, und da ist nichts, was die Erinnerung an mich besser in Dir wachhalten könnte, so wie ich sie in Dir lebendig wissen möchte, als ein großes unendliches

 
ich danke Dir!"
 

Das war die Ehe, der sie den Namen Ehe hatte absprechen wollen! Sie, Josefine, im Vergleich mit ihrer eigenen!

Sie glitt hernieder vom Stuhl, auf die Knie. Sie schluchzte, schluchzte – und zwang sich, still zu sein, damit niemand sie hier finden solle, zusammengekauert, zusammengebrochen unter der Schmach ihres Verbrechens. Ihre Hände tasteten um Ragnis Handschrift, ihr Kopf sank auf die Hände: "Vergib! Vergib!" flüsterte sie, und sie wußte, daß niemand, niemand sie höre, und daß niemand, niemand ihr vergeben könne.

Und blitzschnell erfaßte sie, daß Ragni auch in ihrer ersten Ehe rein gewesen, daß sie auch in ihr verleumdet worden war. Die Schriftstücke über diese Ehe, wie sie zustande gekommen war, – sie brauchte sie nicht, sie konnte sie nicht lesen. Mit fiebernden Händen packte sie alles zusammen – Ole sollte es lesen. Jetzt mußte er ihr helfen; es galt ja ihr Leben. Sie war mitschuldig des Mordes, des Mordes an einer ganz Unschuldigen! Nicht durch Worte oder Hetzereien; gesagt hatte sie nichts; aber gerade durch ihr Schweigen, gerade dadurch, daß sie Ragni vom ersten Tag an von sich gestoßen hatte – gerade dadurch war die Ärmste rettungslos verloren gewesen; das hatte sie getroffen wie der Blitz; das hatte sie betäubt, schreckerstarrt zu Boden geschlagen. Das Urteil, das sie in ihres Bruders Augen gelesen hatte, das Todesurteil, – sie hatte nicht falsch gelesen! – nur galt es nicht ihrem Sohn, ihr selber galt es. Sie verdiente den Tod!

Entsetzen packte sie; der Schweiß brach ihr aus wie nach einem betäubenden Schlag.... Jetzt war es da!

Ja, jetzt war es da, wovor sie Jahr um Jahr erschauernd gebangt hatte, – etwas über alle Maßen Grauenhaftes, das sie zu Staub zermalmen würde. Nichts war sie gewesen; nichts hatte sie gewollt, nichts geleistet; und dabei hatte sie getrotzt und verurteilt und das höchste Spiel gespielt!

Jetzt war es da! Sie hatte geglaubt, die Sache mit dem Jungen sei das Äußerste gewesen; nein, erst jetzt war es da, jetzt, seit sie wieder ein frohes Zusammenleben mit ihrem Mann und festen Boden unter den Füßen gewonnen hatte.... Jetzt traf es sie – und traf sie tödlich.

Sie eilte hinunter ins Studierzimmer, während Tuft noch aß, und legte den Brief auf seinen Tisch; Hut und Tuch hatte sie schon an; und nun lief sie mehr als sie ging zum Haus des Bruders. Nun galt es biegen oder brechen.

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09 nisan 2019
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