Kitabı oku: «Auf Gottes Wegen», sayfa 9
Edvard blieb mit unbedecktem Kopf oben auf der Bibliothekstreppe stehen, während Ole Tuft in seiner etwas schwerfälligen Art über den Platz schritt. Wahrlich – da ging einer, der sicher war in sich selbst; sein Anfang war ganz, so wie seine Natur ganz war.
Mannesalter
1
"– — Die Rechtfertigung hat ihren Ursprung in der göttlichen Gnade. Sie kann ihn nicht im Sünder, in seiner sittlichen Arbeit an sich selbst haben; denn dieser ist ein Ungerechter. Als solcher verdient er sie auch nicht, ebensowenig wie er Rechtsanspruch darauf erheben kann. Nur Gottes erhabener Wille kann ihn rechtfertigen."
Der Pastor ging auf und ab, ein Heft in der Hand, aus dem er flüsternd auswendig lernte. Die Sonne schien hell durch die beiden Fenster, die nach Südwesten lagen und weit offen standen; durch das hintere ergoß sich milchweißer Glanz über den graugestrichenen Fußboden; das unruhige Laub junger Espen zeichnete sich auf den Scheiben ab; die Espen mit ihren zitternden Blättern standen draußen am Staket. Aus dem Garten strömte der Duft von Aurikeln, Flieder und Goldregen herein; der Pastor unterschied jede Mischung in den Luftströmungen; er hatte die Bäume und Blumen selbst gepflanzt; sie liebkosten ihn geradezu. Sobald der Luftzug nur um ein Winziges stärker wurde, so sandten die sprossenden Birken und die frischen Triebe der Tannen, die außerhalb seines Pfarrhofs standen, eine scharfe Welle herein, die rücksichtslos die Strömung des Gartens wegspülte, und jedesmal flutete eine ganze Gesellschaft verschiedenartiger Gerüche vom offenen Feld nach. Es roch nach Wachstum.
Psst!
"– — Was kann Gott dazu bewegen, so gnädig zu sein gegen den armen Sünder, der aus sich selbst nicht das Geringste vermag? Seine unbegreifliche Liebe zum Sünder, seine unverdiente Barmherzigkeit kann ihn dazu bewegen."
Jetzt pfiff das Dampfschiff zum drittenmal. Nein – da konnte er nicht widerstehen – er mußte den Dampfer sehen, wie er in großem Bogen von der Brücke weg über die Bucht fuhr und den Wasserspiegel in zwei Hälften teilte; der größere fiel der Insel draußen zu, der kleinere dem Strand vor der Stadt. Der Pastor nahm sein Fernrohr vom Pult. Die Brücke unten war voll bunter Sonnenschirme; dazwischen Männerhüte, meist in dunklen Farben; hie und da leinene Hauben und Kopftücher, gewöhnlich mehrere beieinander.
Jetzt hörte man von rechts Schritte im Sand; sie kamen aus dem Garten seiner Mutter und lenkten auf den seinen zu – Schritte eines Erwachsenen, und auf jeden Schritt des Erwachsenen zwei Kinderschritte. "Du, Mutter, was hat das Dampfschiff im Bauch?" – "Haha!" – Die Gestalt einer Frau tauchte auf, die den Eindruck von Kraft hervorrief. Ein starker Hals und eine volle Brust, der ganze Wuchs ungewöhnlich schön; das Gesicht dunkel, ziemlich groß, mit gebogener Nase; das Haar fast schwarz. Sie trug ein cremefarbenes, mit hochroten Blumen gemustertes Musselinkleid mit einer Passe von hochroter Seide, um den Leib einen seidenen Gürtel von gleicher Farbe. Zu ihrer dunkeln Haut, dem schwarzen Haar und den tiefen Augen bildete das einen bezaubernden Gegensatz; sie pries den warmen Frühlingstag mit kundiger Farbenpracht. Aber sobald sie in das lächelnde Melanchthonantlitz am Fenster sah, senkte sich der rote Sonnenschirm zwischen sie und ihn. An der Hand führte sie ihren vierjährigen Knaben, ein hübsches Kerlchen mit blondem Haar und einem Gesicht wie das Antlitz des Mannes im Fenster. Der Junge ließ die Hand der Mutter fahren, öffnete die Tür zwischen den beiden Gärten und sprang vorbei, um die nächste Tür, auf den Weg hinaus, zu öffnen. Als die Frau vorüberkam, flüsterte der Pastor: "Ich gratuliere! Du siehst ja reizend aus!" Es klang bittersüß. Wie konnte eine Pastorsfrau sich so kleiden!
Ohne den Sonnenschirm zu senken schritt sie nach der offenen Gartentür und weiter auf dem Weg nach der Stadt zu. "Wohin?" – "Zum Schiff, und zusehen!" rief der Junge, davonspringend. Ihr Nacken unter dem Hut, ihre Figur im Sonnenlicht, der Gang, die Farben … der Pastor lag im Fenster, trommelte auf den Fenstersims und pfiff lautlos. Die warmen Augen flogen ihr nach, bis er sich mit einem kräftigen Aufstemmen aller fünf Finger von der Fensterbank erhob.
"– — Gott straft nicht, er erbarmt sich unser. Doch nicht wie ein Heerführer einen Waffenstillstand gewährt oder ein König eine Amnestie erläßt (nein, 'Amnestie', das verstehen vielleicht nicht alle; wie sag' ich gleich – Erlaß? … Nein, das genügt nicht. 'Gnadenerlaß'! Also:) Doch nicht, wie ein Heerführer Waffenstillstand gewährt oder ein König einen Gnadenerlaß, ist die göttliche Rechtfertigung; nein, das widerspräche der Allheiligkeit Gottes. Die Rechtfertigung ist allerdings eine Gnade; aber sie ist auch eine Gerichtshandlung. Sie muß eine rechtliche Grundlage haben, d. h. den Forderungen des Gesetzes, die Gottes eigene sind, muß Genüge geschehen."
Eigentlich ist das doch sehr juristisch.
Der Pastor sah in das Heft, das aufgeschlagen auf dem Pult zwischen den zwei Fenstern lag; er verglich es mit dem, was er in der Hand hielt. Dabei hörte er das laute Getöse des Dampfers, der jetzt gerade auf der Bucht unten vorüberfuhr. Er mußte aus dem Fenster spähen, und die Folge davon war, daß er, ohne es zu wissen, sich behaglich hinauslehnte. Die Sonne schien auf das weiße Leinwanddach des Dampfers, die Schaumlinie zwischen Land und Insel war wie eine straffe Schnur; am Himmel kein Wolkenstreifen, so daß der Rauch sich vom freien Grund abhob; ebenso ungedämpft hörte man den Lärm. Der Pastor ließ den Blick vom Dampfer nach der Stadt, zum Strand, über die Bucht hin schweifen, bis zu den Bergen auf der andern Seite der Bucht; die ganz hinten, die blauen drüben waren noch nicht frei von Schnee. Das Getöse des Dampfers hallte über die weite Landschaft hin wie eine Predigt, die seine eigene ablöste. Ein bescheidener Duft aus dem Garten lenkte sein Auge vom Großen aufs Kleine. Das alles hatten er und Klein-Edvard miteinander geschafft, oder vielmehr, er hatte gearbeitet und der Kleine hatte sich unnütz gemacht. Der Pastor besah sich namentlich die Beete, auf denen bis jetzt noch nichts kam; dann die ersten, die schon ganz fertig waren und leider auch schon gejätet werden mußten. Dabei konnte Edvard auch helfen. Langweilig war es ja; aber er hatte sich nun einmal vorgenommen, in diesem Jahre solle kein anderer den Garten anrühren; außerdem war das Bücken gesund, da mischte sich die Galle mit dem Blut. Ohne es zu wollen dachte er daran, wie ihm seine Frau dann manchmal ein Glas Wein und ein Stückchen Kuchen brachte; es liegt in der Natur des Weibes, unsere Schwächen zu ahnen und schwach gegen sie zu sein. Er blickte hinüber auf den Weg, wo sie verschwunden war, und richtete sich straff in die Höhe:
"– — Den Forderungen des Gesetzes, die Gottes sind, muß Genüge geschehen. Könnte das durch den Sünder selbst geschehen, so wäre die Rechtfertigung keine Gnade; folglich muß es durch den Geist geschehen.
Aber auch diese Erfüllung des Gesetzes durch einen andern muß aus Gottes erlösender Gnade kommen, wenn sie nicht die Rechtfertigung (hu, wie juristisch!) aufheben soll. Und soll ferner diese neue Gnadenhandlung allen zugute kommen, so muß die Gesetzerfüllung für das ganze sündige Menschengeschlecht gelten. Einzig Gott selbst kann eine solche Erfüllung, einen solchen 'Vergleich', eine solche, 'Sühne' zustandebringen.
Für den Christen ist es eine Tatsache des Glaubens, daß diese Grundlage für eine Weltsühne, diese Auslösung der Schuld des ganzen Menschengeschlechts ein für allemal durch Jesum Christum geschaffen worden ist, und daß sie jedem einzelnen Sünder zugute kommen kann."
Der Pastor blickte auf. Wie weit wohl das Dampfschiff …? Was, nirgends mehr? Er ging ans Fenster und blieb dort stehen. In einer geraden Linie schoß jetzt das Boot auf die Landspitze zu, die so weit hinausragte, daß sie fast bis an die Insel stieß. Das große Kirchdorf drüben rechts auf der Höhe, deren Ende die Landspitze bildete, schaute vom Hang herüber. Die Bucht lag dazwischen. Hof an Hof sonnte sich dort, grün und fruchtbar; stolze Besitztümer – das sah man an der Entfernung zwischen den einzelnen Gehöften. Die Seite des Hügels, die sich nach der Insel erstreckte, hatte die Form einer flachen Zange; und dort, durch den Sund, mußte das Dampfschiff in den großen Fjord verschwinden.
Dies dumpfe Dröhnen des Dampfers! Ist es nicht, als habe die Natur Sprache bekommen? Die ganze Landschaft, nicht nur ein Teil. Wenn z. B. über die ganze Landschaft eine Saite gespannt wäre, und ein Bogen striche darüber, dann müßte das klingen wie das Dröhnen des Dampfers. – —
Psst!
"– — Gott hat gewollt und bewirkt, daß ein Sünder gerechtfertigt werden kann durch Gottes Gnade, und zwar dadurch, daß Christus dem Gesetz Genüge getan hat. Christi Verdienst, Christi Gerechtigkeit haben die Schuld bezahlt. Jeder kann sich sozusagen sein Stück von der Gerechtigkeit abschneiden, die Christus für die Welt gewonnen hat. – Nein – das klingt vielleicht zu weltlich. Wenn es auch der Sinn ist."
Bald darauf lag er wieder im Fenster, breit auf beide Ellbogen gestützt, als wolle er überhaupt nicht mehr aufstehen. Er sah den Weg hinunter, auf dem Josefine mit dem Kleinen verschwunden war; er blickte über die Bucht weg nach der Insel, und dachte an das Inselkindchen, das dort drüben links spielte; von hier aus konnte er es nicht sehen, aber er wußte, daß es dort spiele, und wie niedlich es sei. Von den Bergen wieder geschwind zum Dampfer, der auf den Sund lossteuerte. Dort draußen hatte die Insel einen Waldhut auf, dem der Rauch des Dampfers eben einen Flor umlegte. Der Wind ging dort anscheinend in anderer Richtung? Nein, jetzt ging er auch hier in der gleichen. Um diese Zeit schlägt er so oft um. Jetzt duftete es nicht mehr vom Garten und von den Bäumen und Feldern herein; bald wird wohl ein Flügelschlag schwarze Streifen ins Wasser ritzen! Eine Dampfpfeife stöhnte und keuchte links unten an der Bucht; da ging ein Zug ab, oder ein Güterzug rangierte.
Wie still es sonst war! Er hörte in weiter Ferne ein paar Kinderstimmen, jede Schwingung darin. Ab und zu klopfte und hämmerte es in dem neuen Haus drunten an der Ecke der Strandstraße und des Wegs, der hier heraufführte. Es klang, wie es in leeren Räumen zu klingen pflegt. In der Ferne immer noch gedämpfte Staccatotöne des Dampfergedröhns. Das Haus, in dem er wohnte, lag frei, und diesem Umstand war es zu verdanken, daß er einen so weiten Blick und einen so hellhörigen Standort hatte. Aber wenn die Felder in Grundstücke parzelliert wurden, so war es damit vorbei.
Darüber verfiel er in Nachdenken; sollte er nicht selber aufkaufen? Er hätte es gern getan; aber Haus und Grundbesitz und alles, was sie hatten, gehörte seiner Frau. Der Rest seines eigenen kleinen Vermögens steckte in dem kleinen Haus mit Garten rechts nebenan, in dem seine Mutter wohnte.
Es hat mancherlei Vorteile, mit einer reichen Frau verheiratet zu sein, selbst wenn im Ehekontrakt steht, daß sie allein das Verfügungsrecht über ihr Vermögen hat; manche Bequemlichkeiten fallen ab, die das Leben freundlicher und die Arbeitsbedingungen leichter gestalten; es ist auch meist der Schlüssel zu einer gewissen Macht – namentlich für einen Pastor. Viel Gutes läßt sich damit tun, was andere sich versagen müssen, und das setzt sich um in Macht. Er hatte das empfunden, und hatte es mit Behagen empfunden. Das paßte ihm.
Aber. – Ja, alle "Aber" wurzeln in dem einen Punkt: wie die Frau ist, die über das Vermögen zu verfügen hat. "Aber wie nun die Gemeinde ist Christo Untertan —."
Psst! – Er begann wieder zu lesen, diesmal laut: "Die äußere Grundlage für die Rechtfertigung war also, daß Jesus dem Gesetz Genüge getan hat; die innere Bedingung ist, daß der Sünder das glaubt. Wie versöhnt auch Gott mit der Welt sein mag, er kann einzig dem Sünder seine Gnade schenken, der in Gemeinschaft steht mit Christus, 'weil er an ihn als seinen Erlöser glaubt'."
Das Heft sank; der Pastor wußte selber nicht, was er las. Denn die Stelle im Epheserbrief hielt seine Gedanken gefangen. Ist das Weib nicht Untertan in allen Dingen,… ja, dann sät eben der Umstand, daß die Frau das Verfügungsrecht über das Vermögen hat, eine Saat der Ungleichheit.
So tief war er hiervon überzeugt, so stark waren die Beweise, die er sich dafür zurechtlegte, daß er fern und nah nichts mehr sah und hörte, – es nur noch wie die Erzählung eines andern in sich aufnahm. Er trommelte auf die Fensterbank und blickte auf den Weg hinunter. Die beiden eben ausgekrochenen Schmetterlinge, die in endlosen Schwingungen sich über und unter seinem Fenster umkreisten, hatten keine Ahnung von all den Schwierigkeiten, die es mit sich bringt, wenn man ein Vermögen besitzt, über das man nicht verfügen kann. Etwas weiter drüben, hinter dem Schemel des Jungen, der seit ein paar Tagen vergessen dalag, läutete eine anmutige Declytera mit langem Blütenstengel voll roter Glöckchen zur Hochzeit – zur Hochzeit – ohne das geringste Verständnis für Epheser 5 Vers 24. Der Pastor übersah sie darum auch. Ja, nicht einmal Gärtner Nergaards Bienen, die jedenfalls dieses Jahr zum erstenmal hier oben waren (wahrhaftig! sie kannten den Weg wieder, seit der Wind umgeschlagen war und der Duft lockte!) – nicht einmal die Bienen hörte er, wie sie um die frischen Triebe hinter dem Haus surrten. Eheliche Kümmernisse im Sinne Epheser 5 Vers 24 ziehen einem eine Kappe über den Kopf, und wenn auch die Sonnenstrahlen aufs Haar brennen! Über das sanft abfallende Kirchdorf drüben zur Rechten mit seinen drei Schattierungen von Grün: Wiesen, Äcker und Wald, – glitten seine Augen so blind hin wie der Wind. Eben jetzt zog sich ein Streifen Schwarz über die Bucht, wie versuchsweise, – ein paar vereinzelte Furchen; er war mitten drin und sah es nicht. Irgendwo von oben muhte eine angepflockte Kuh sehnsuchtsvoll nach: Wasser – Wasser! Alles um ihn her ein Warten – und ungesehen …, bis ein verzweifelter Kinderschrei die warme Blütenduftluft zerriß … ein einziger, langgezogener Schrei. In diesem Schrei hörte er jede Schwingung; der packte ihn an der Brust wie eine erbarmungslose Hand. Er fuhr auf und stand mit angehaltenem Atem still und wartete auf den nächsten. Aber er kam nicht, der nächste … es mußte schon beim ersten sich vollständig erschöpft haben … nein! da gellte es wieder! War der erste Schrei verzweifelt gewesen, so war dieser die Todesangst selbst … und wieder einer … und noch einer! Der Pastor stand blaß – alle Sinne gespannt – da. Da erklangen von rechts rasche Schritte im Sand. Es war seine Mutter, die an dem Türchen zwischen den beiden Gärten zum Vorschein kam, eine alte, hagere Frau mit schwarzer Haube über dem schneeweißen Haar, das an den Wangen herabgekämmt war und einen steifen Rahmen um das vorsichtige, ein bißchen trockene Gesicht bildete.
"Nein!" stieß der Pastor hervor, "nein, Gott sei Dank, Edvard ist das nicht! Solches Getue leistet sich der nicht, wenn er weint! Mein Bengel macht kein solches Geschnörkel! Der heult schlankweg drauf los!"
"Schlimm genug ist's – einerlei, wer's ist!" antwortete sie.
"Hast recht, Mutter!" Und er betete im Herzen sogleich für den armen Knirps, der da so jammervoll schrie. Aber nachdem das erledigt war, dankte er doch Gott, daß es nicht sein Junge war. Das mußte man ihm schon erlauben!
Währenddessen kam ein hochgewachsener Mann in hellem Anzug und Panamahut den Weg herauf. Die ganze Zeit über blickte er nach dem Haus und dem Garten. Der Pastor sah auch ihn an, erkannte ihn aber nicht. Der Fremde kam über die Straße herüber und geradenwegs auf die Treppe zu. Ein hochgewachsener Mann mit kurzem, sonnverbranntem Gesicht, einer Brille, und eigentümlich raschem Gang. Wer in aller Welt…? – Der Pastor trat vom Fenster zurück, eben als der Fremde die Treppe erreichte. Er mußte sie in zwei Sätzen genommen haben, denn schon erklangen Schritte im Gang. Es klopfte.
"Herein!"
Die Tür wurde geöffnet; doch der Fremde blieb draußen stehen.
"Edvard!"
Der andere antwortete nicht. "Aber, Edvard! Du hier! Und ohne Dich anzumelden? Bist Du's denn wirklich?" Und der Pastor lief auf ihn zu, streckte ihm beide Hände entgegen und zog ihn herein. "Willkommen! Herzlich willkommen, alter lieber Kerl!" Sein Gesicht strahlte vor Freude.
Edvards sonnverbrannte Hände drückten zur Antwort des Schwagers Hände, seine Augen glänzten hinter der Brille; gesprochen hatte er noch nicht.
"Warum redest Du denn kein Wort, Alter?" rief der Pastor und legte beide Hände auf Edvards Schultern. "Bist Du denn Deiner Schwester nicht begegnet?" – "Doch! Von ihr hab' ich erfahren, wo ihr wohnt." – "Und Du bist ihr davongelaufen? Wolltest wohl eher hier sein? Es ging Dir wohl zu langsam mit dem Jungen, was?" fragte der Pastor. Seine warmen Augen blickten voll ungeteilter Freude in die Augen des andern. – "Nicht nur deswegen. Du wohnst hübsch hier."
"Ja, nicht wahr? Und Du sollst gerade so hübsch wohnen, wenn ich auch unseren Stadtteil im Norden dem Zentrum vorgezogen hätte." – "Ich hatte ja wohl keine Wahl." – "Nein, das ist wahr. Wenn Du das Krankenhaus übernehmen wolltest, so mußtest Du auch die Doktorwohnung dazu nehmen; die beiden gehören zusammen. Übrigens nicht zu teuer – das sagen alle. Und sehr bequem – und eine Menge Grundbesitz dabei. Na, jetzt hast Du Dich aber auch lang genug draußen herumgetrieben. Wahrhaftig – mehr als lang – so in einer Tour. Aber warum hast Du denn nicht geschrieben? Warum Dich nicht angemeldet? Herrgott – ich hab' Dich ja nicht einmal gleich erkannt! Und dabei hast Du Dich eigentlich gar nicht verändert!" Er betrachtete das hagere Gesicht des Schwagers, das ihm nur weicher im Ausdruck erschien als früher. Dabei plauderte er unaufhörlich weiter, während sie auf und ab gingen oder am Fenster standen. Jetzt wandte Edvard sich zu ihm: "Aber Du, Ole – Du hast Dich verändert!" – "Wirklich? Das hätt' ich nicht gedacht. Die andern finden das nicht." – "Doch – Du hast so einen geistlichen Anstrich bekommen." – "Geistlich? Haha! Du meinst, ich bin ein bißchen dicker geworden? Ich kann Dir versichern, ich tue alles, was ein Mensch tun kann, um dem abzuhelfen; ich arbeite im Garten, ich mache weite Spaziergänge; aber – — – siehst Du, meine Frau pflegt mich eben zu gut. Und die Menschen hier sind zu liebenswürdig zu mir." – "Du solltest es machen wie ich." – "Wie machst Du's denn?" – "Ich lauf' auf den Händen!" – "Hahaha! auf den Händen? In meiner Stellung?" – "In Deiner Stellung? Wenn Du einmal durch das ganze Kirchenschiff auf den Händen liefest – das wäre eine Predigt!" – "Hahaha! Und Du kannst wirklich noch auf den Händen laufen?" – "Und ob!" – Und im selben Augenblick lief er auch schon. Die lose, kurze, rohseidene Jacke hing ihm dabei über den Kopf, der Pastor betrachtete sie, das Rückenteil der Weste, das Hemd zwischen Weste und Hosenbund, ein Stück von den Hosenträgern, die Hosen, die Strümpfe, die braunen Segeltuchschuhe mit den dicken Gummisohlen. Kallem hatte mittlerweile schon fast die Runde um das Zimmer gemacht. Der Pastor wußte nicht recht, wie er sich dazu verhalten solle. Kallem stand tiefatmend und erhitzt auf, nahm seine Brille ab, putzte sie und begann kurzsichtig die Bücherregale zu betrachten.
Nun fühlte der Pastor, daß irgend etwas vorgefallen war – etwas, worüber der Schwager sich ärgerte. Hatte die Schwester etwas gesagt, das ihn verstimmen konnte? Doch nein – was hätte das wohl sein sollen! Bei ihrer Bewunderung für ihn! Das beste war – gleich ehrlich und offen fragen; warum nicht lieber gleich Klarheit schaffen? Kallem hatte die Brille wieder aufgesetzt und ging an ihm vorbei, zum Pult; darüber hing ein Christus von Michelangelo – ein Holzschnitt. Er sah flüchtig zu ihm auf, dann auf das Heft, das aufgeschlagen auf dem Pult lag. Und ehe der Pastor noch eine Frage tun konnte, sagte Kallem: "Johnsons systematische Theologie? Die hab' ich mir gleich in Kristianssand gekauft." – "Die? Du?" – "Ja. Ich hab' sie seither nie bekommen können. Dort lag sie im Schaufenster aus. Es war wie ein Wahrzeichen der Heimat." – "Nein! Das ist nicht Norwegen!" sagte der Pastor. "Das ist in der Hauptsache nichts als unhaltbare Juristerei." Verwundert über diese Antwort des Pastors und den Ton, in dem sie vorgebracht wurde, wandte Kallem sich um: "Ist diese Denkweise unter den jüngeren norwegischen Theologen allgemein?" – "Ja. Ich habe mir das alles wieder zusammengesucht, um morgen die verschiedenen Ansichten über die Versöhnungslehre genau auseinandersetzen zu können." – "Aha! Na ja – eine ganz gute Manier!" – Kallem sah zum Fenster hinaus. Zum vierten oder fünften Male schon. Sicher – da stimmte irgend etwas nicht. "Da sind sie!" sagte er. Er stand am hinteren Fenster, der Pastor am vorderen, von wo aus er jetzt den roten Sonnenschirm seiner Frau über dem Musselinkleid auftauchen sah. Sie ging langsam und hielt den Jungen an der Hand, der anscheinend unaufhörlich plapperte, denn sein kleines Gesicht war fortwährend zu ihr emporgewandt, während er den unebenen Weg entlang stolperte. Die beiden gingen drüben auf der andern Seite. Aber hier unmittelbar am Zaun ging eine Dame … Eben hob sie ihren grünen Sonnenschirm in die Höhe (wie hübsch der war!) – eine Dame, nicht so groß wie Josefine, aber schlanker; sie sah sich um; ihre Bewegungen waren merkwürdig leicht; ihr Haar war rotblond, und sie trug ein schottisches Reisekostüm von fremdartigem Schnitt; es mußte eine Ausländerin sein. Freilich, jetzt erklärte es sich, weshalb Edvard vorausgegangen war; er hatte allein sein und die beiden allein lassen wollen. "Wer ist denn die Dame, die da neben Josefine geht? Sie muß mit demselben Dampfer gekommen sein wie Du?" – "Ja." – "Du kennst sie?" – "Ja. Es ist meine Frau." – "Deine … Du bist verheiratet?" Er sagte es so laut, daß beide Damen heraufsahen. Er zog den Kopf zurück und wandte sich um. Aber er sprach ins Leere. Der Doktor sah noch immer zum Fenster hinaus. Die Antwort kam auch von draußen: "Ja, seit sechs Jahren." – "Seit sechs —?" Des Pastors Kopf fuhr wieder zum Fenster hinaus; ein aufs höchste verwundertes Gesicht starrte Kallem an. Seit sechs Jahren! dachte er. Wie lang ist es doch her, daß …? Mein Gott, es ist ja knapp sechs Jahre her, daß …
Die Damen waren mittlerweile vor dem Garten angelangt, die Fremde dicht am Zaun, während Josefine und der Junge jetzt herüberkamen. "Du, Mutter, warum fallen denn kleine Jungs immer grad' auf den Kopf?" Keine Antwort. "Mutter, warum fallen sie denn nicht auf die Beine?" Keine Antwort. "Weil der Oberkörper schwerer ist, mein Junge!" Kallem sagte es. Alle drei sahen hinauf.
Im selben Augenblick verließ er das Fenster, um ihnen entgegenzugehen; der Pastor hinterdrein; aber er blieb auf der untersten Treppenstufe stehen.
Die Augen der Dame füllten sich mit Tränen, während Kallem auf sie zukam; vergebens versuchte sie, es zu verbergen, indem sie bald nach rechts, bald nach links blickte. Josefines Augen waren kalt. Der kleine Edvard war auf seinen Vater zugelaufen und erzählte ihm, Nicolai Andersen sei auf "die Leiter" hinaufgeklettert (er deutete dabei nach dem neuen Haus hinunter) "und 'runtergepurzelt". Und "die neue Dame" habe ihm ihr Taschentuch um den Kopf gebunden. Das schien den Pastor gerade jetzt nicht so stark zu interessieren, als der Junge erwartet hatte; deshalb lief er ums Haus herum zur Großmutter, um es der zu erzählen.
"Ich brauche sie Dir wohl nicht vorzustellen?" sagte Edvard Kallem, während er die Hand seiner Frau faßte und dem Pastor in die Augen sah. Dieser suchte nach Worten, fand keine und schielte zu Josefine hinüber, die jedoch keine Miene machte, ihm zu helfen.
Vor kaum acht Tagen hatte der eifrige Geistliche gegen die vielen Scheidungen mit darauffolgender neuer Ehe im "Morgenblatt" einen Artikel geschrieben mit der Überschrift: "Ehe oder Hurerei?" Und hatte darin mit unwiderleglichen Beweisen dargetan, daß nach der heiligen Schrift kein anderer Scheidungsgrund gelte als Untreue. Wer seinen Ehegenossen beim Ehebruch betreffe, sei frei und könne sich wieder verheiraten; wenn jedoch ein Mensch sich aus anderen Gründen scheiden lasse und sich wieder verheirate, während sein Ehegenosse noch lebe, so bestehe die erste Ehe fort und die zweite sei Hurerei. Vor noch nicht acht Tagen hatte er unter voller Zustimmung seiner Frau das geschrieben. Und eben, weil jene Begebenheit mit Kallem und Ragni Kule ihm noch frisch im Gedächtnis stand, erzählte er in diesem Artikel, wie die Frau eines kranken Mannes der Stellung, die Gott ihr zuerteilt hatte, überdrüssig geworden sei und heimlich ein Liebesverhältnis mit einem andern unterhalten habe, wie sie dann gleich nach der Entdeckung geflüchtet sei und sich habe scheiden lassen. "Gesetzt nun den Fall," schrieb er, "daß eine solche Frau sich wieder verheiratet und noch dazu mit dem, der ihr geholfen hatte, ihren Mann zu betrügen? Wer könnte eine solche Ehe anders nennen als fortgesetzten Ehebruch?"
Wort für Wort hatte er so geschrieben. Seine Frau stimmte völlig mit ihm überein; sie haßte die Frau, die ihren Bruder verführt hatte, im voraus. Und nun standen beide vor ihr. Und Ragni war des Bruders Frau.
Etwas Undenkbareres hätte das Wiedersehen gar nicht bringen können! Und dabei waren sie so sicher gewesen, daß der Bruder all solche Leichtfertigkeit von sich abgetan hatte! Er war ja jetzt ein Mann der Wissenschaft, dem schon eine Professur angetragen war, unter sämtlichen jüngeren Ärzten vielleicht der Mann, von dem die Kollegen am meisten erwarteten.
Das war eine Enttäuschung, die nicht zu verwinden war! Und der Gedanke, daß sie nun mit diesen beiden an einem und demselben Ort leben, sie ihren Bekannten in der Gemeinde als Herr und Frau Kallem vorstellen sollten! Nachdem Tuft unter seinem vollen Namen ihr Zusammenleben für Ehebruch erklärt hatte!
Natürlich hatte Kallem es gelesen, er, der so eifrig nach der Wesenseigentümlichkeit des zeitgenössischen Norwegens forschte, daß er sogar Johnsons Dogmatik las! Natürlich las er vor allem die Zeitungen. Er hatte es gelesen, und das erklärte alles! Sie stand da und wußte nicht wohin, klammerte sich bloß an ihn an. Und er? Sein rechter Arm umschlang sie jetzt, als wollte er sich laut zu ihr bekennen. Sie hielt mit ihrer Rechten hartnäckig den Sonnenschirm über sich, als könne der sie schützen; aber auf die Dauer ging das nicht, das Taschentuch mußte heraus, und weil sie ihr eigenes nicht hatte, nahm sie verstohlen das ihres Mannes.
"Wollen wir nicht hineingehen?" sagte der Pastor mechanisch. Das geschah. Er führte sie im Haus umher, während Josefine sich entfernte, um für Erfrischungen zu sorgen. Vom Studierzimmer, das nach dem Garten zu gelegen war, kamen sie ins Wohnzimmer, das nach der Straße ging, dann in die dahinter liegende Eßstube, von dort in die Küche, die an der Nordseite des Hauses lag und einen besonderen Eingang hatte. Auf derselben Seite lag noch die Speisekammer und ein Fremdenzimmer, das an das Studierzimmer stieß und eine Altane hatte, die mit der Treppe am anderen Ende der Fassade korrespondierte. Im Oberstock verschiedene Schlafzimmer usw. Das Herumführen dauerte kaum fünf Minuten. Von Seiten des Pastors nur die allernotwendigsten Worte; von Seiten Kallems ein paar spöttische Bemerkungen, erst als er aus mehreren Anzeichen ersah, daß der Pastor zurzeit im Fremdenzimmer schlief und Josefine mit ihrem kleinen Sohn oben, und dann, als er die seltene Sammlung von Bildern berühmter Theologen sah, die, um Luthers Bild gruppiert, an der großen Wand des Wohnzimmers hingen. Die Erfrischungen, die Josefine anbot, lehnte er ab, verabschiedete sich und ging.
Ragni war wie eine Unsichtbare nebenher gegangen. Jetzt, zum Schluß, glitt ihre lange, schmale Hand durch die Hände des Schwagers und der Schwägerin wie ein Hermelinschwänzchen durch ein Mauerloch. Die Augen huschten scheu über sie hinweg wie der Schatten eines Flügels. Der Pastor gab bis an die Treppe das Geleite; Josefine blieb an dem großen Fenster stehen.
Kallem ging so rasch, daß Ragni alle drei Schritt einen kleinen Sprung machen mußte. Der Pastor stand noch draußen und sah es. Diese Hast steigerte die Erregung, in der sie sich befand, und als sie ungefähr in der Mitte zwischen der Strandstraße und dem Pfarrhof waren, bat sie ihn, stehen zu bleiben, und fing zu weinen an.
Kallem stutzte über diese von der seinen so verschiedene Gefühlsskala; er war empört. Aber bald merkte er, daß sie wahrscheinlich gerade über seine eigene Art sich zu benehmen weinte. Er zog sie mit sich an den Zaun, und stellte sich mit dem Rücken dagegen: "Hab' ich mich nicht richtig benommen?" – "Du warst so böse – hu, so böse, und nicht bloß gegen sie und ihn, sondern auch gegen mich; ja, Du, – ganz besonders gegen mich! – Nicht angesehen hast Du mich – überhaupt nicht die geringste Rücksicht darauf genommen, daß ich dabei war!" – "Aber, liebes Herz, das hab' ich doch gerade Deinetwegen getan!" – "Dann laß mich lieber gleich wieder fort! Das halt' ich nicht aus!" Und sie warf sich an seine Brust. – "Aber, Kind, – hast Du denn nicht gesehen, wie Josefine war?" – "Ja doch!" erwiderte Ragni, und hob den Kopf; der Hut saß im Nacken, das Haar war zerzaust. "Sie wird mich noch einmal töten!" Und wieder flüchtete sie an seine Brust. – "Na, na!" sagte er, "sie soll Dir schon kein Härchen krümmen. Aber verteidigen werd' ich Dich wohl noch dürfen!" – Sofort tauchte ihr Kopf wieder auf. "Nicht so! Ich hätt' überhaupt nie geglaubt, daß Du so sein könntest! Es war so … so unvornehm, Edvard!" Und sie faßte ihn am Rockkragen und zupfte daran. – "Nun hör' einmal", sagte er ruhig, – "das, was der Kerl über uns geschrieben hat, das war unvornehm! Und ihr Schweigen? Ich finde, das war noch schlimmer als alles, was er geschrieben hat." Hierauf erwiderte sie nichts. Nach einer Weile hörte er ein leises: "Ich passe nicht da hinein!" Er beugte sich über ihren Kopf; der Hut fiel zu Boden; keins von beiden achtete darauf. Leise redete er in ihr rotblondes Haar hinein: sie müsse nicht gleich so verzweifelt sein, nicht gleich von Sterben oder Fortgehen sprechen. "Wir müssen das mannhafter nehmen, verstehst Du, Schatz?" – "Ja." Ihr zerzauster Kopf richtete sich wieder auf. "Aber Du mußt nicht vergessen, daß ich jetzt dabei bin; Du kannst nicht so sein, als wenn Du allein wärst!" – Nein, das merkte er denn auch, und hatte ein recht böses Gewissen.