Kitabı oku: «Eine Spur von Tod», sayfa 3
Keri war erstaunt. Sie hatten sich noch nicht vorgestellt.
Bevor sie etwas antworteten konnten, sah der Kerl Ray intensiv an und rief: „Ray Sands! Der Sandmann! Ich habe Ihren letzten Kampf gesehen, gegen diesen kleinen Dreckskerl – wie hieß er gleich?“
„Lenny Jack.“
„Ja, genau. Das war er. Lenny Jack – Jack-Attack. Ihm fehlte ein Finger, oder? Der Kleine an der rechten Hand.“
„Der fehlte erst nach dem Kampf.“
„Ist auch egal. Ich war so sicher, dass Sie gewinnen würden. Seine Beine waren aus Gummi, sein Gesicht ein einziger Blutklumpen. Der konnte nicht mehr gerade stehen. Noch ein Treffer und Sie hätten ihn ausgeknipst.“
„Das dachte ich auch“, stimmte Ray zu. „Deswegen habe ich vielleicht nicht mehr richtig aufgepasst. Aber scheinbar hatte er noch ein Ass im Ärmel, mit dem keiner mehr rechnete.“
Der Mann zuckte mit den Schultern.
„Scheinbar. Ich habe an diesem Abend viel Geld verloren.“ Dann wurde ihm klar, dass sein Verlust nichts gegen Rays Verlust war. „Naja, so viel war es auch nicht. Verglichen mit Ihrem Auge. Sieht aber gut aus, ich schätze, den meisten fällt es gar nicht auf.“
Daraufhin folgte eine lange, unbequeme Stimme. Stu versuchte es schließlich noch einmal.
„Jetzt sind Sie also ein Cop. Warum genau sitzt der Sandmann heute mit der hübschen Dame an meinem Tisch?“
Keri gefiel die Bezeichnung nicht, aber sie hielt sich zurück. Sie hatten jetzt größere Probleme.
„Wir brauchen die Aufzeichnungen Ihrer Sicherheitskamera von heute Nachmittag“, sagte Ray. „Genauer gesagt, zwischen 2:45 und 4 Uhr.“
„Kein Problem“, antwortete Stu, als wäre es eine ganz alltägliche Bitte. Die Sicherheitskamera war nützlich, angesichts der Kundschaft sogar nötig. Daher wurde das Bild nicht nur auf einen Monitor im Haus übertragen, sondern auch auf einer Festplatte gespeichert. Per Weitwinkel zeichnete die Kamera die gesamte Kreuzung zwischen Main und Westminster auf. Die Qualität des Videos war ausgezeichnet.
Keri und Ray saßen im Hinterzimmer und sahen sich die Aufzeichnung auf einem Computer an. Der Hundepark in Main Street war etwa einen halben Block weit einzusehen. Sie hofften, dass das, was Ashley Penn zugestoßen war, sich in diesem Bereich abgespielt hatte.
Bis 3:05 Uhr war nichts Nennenswertes zu beobachten. Dann erschienen die ersten Schüler und Schülerinnen auf der Straße.
Um 3:08 Uhr erschien Ashley Penn. Da Ray sie nicht sofort erkannte, machte Keri ihn auf sie aufmerksam. Sie trug einen Rock und ein enges Oberteil und ging selbstbewusst die Straße entlang. Plötzlich tauchte ein schwarzer Van auf und hielt direkt neben ihr an. Die Fenster waren tiefschwarz getönt, dunkler als es gesetzlich zugelassen war. Das Gesicht des Fahrers war nicht zu erkennen, er hatte seine Mütze tief ins Gesicht gezogen. Die Sonnenblenden waren nach unten geklappt und die grelle Nachmittagssonne machten es fast unmöglich irgendetwas im Auto auszumachen.
Ashley blieb stehen und sah in den Van. Der Fahrer schien mit ihr zu reden. Sie sagte etwas und ging näher heran. In diesem Moment öffnete sich die Beifahrertür, und als sie sich in den Wagen hineinlehnte, verschwand sie plötzlich darin. Sie konnten nicht deutlich erkennen, ob Ashley freiwillig in den Wagen gestiegen war oder hineingezogen wurde. Wenige Augenblicke später reihte sich der Van in den Verkehr ein. Langsam, unauffällig. Nichts an seinem Verhalten war außergewöhnlich.
Sie sahen sich die Szene noch einmal in normaler Geschwindigkeit an, dann ein drittes Mal in Zeitlupe. Schließlich machte Ray ein ratloses Gesicht.
„Ich weiß nicht, ich kann es immer noch nicht richtig sehen. Fest steht nur, dass sie in diesem Van weggefahren ist, ob freiwillig oder nicht.“
Keri konnte nicht widersprechen. Die Aufnahme war leider ziemlich unschlüssig. Aber irgendetwas stimmte nicht. Sie wusste nur nicht, was es war. Sie spulte noch einmal an die Stelle, an der der Van am besten zu sehen war. Dann pausierte sie das Bild. Der Van war jetzt komplett im Schatten, und auch wenn man immer noch nicht in den Van blicken konnte, war jetzt doch etwas anderes zu sehen.
„Siehst du das?“, fragt sie.
Ray nickte.
„Das Nummernschild ist abmontiert“, sagt er. „Das fällt auf jeden Fall in die Kategorie ‚verdächtig‘.“
In diesem Moment klingelte Keris Handy. Es war Mia Penn. Ohne auch nur Hallo zu sagen, redete sie los.
„Ashleys Freundin Thelma hat mich gerade angerufen. Sie sagt, dass sie gerade einen Anruf von Ashley bekommen hat, aber es war niemand dran. Sie hat nur Geschrei und Musik im Hintergrund gehört. Sie konnte nicht genau verstehen, was gesagt wurde, aber sie glaubt die Stimme von Denton Rivers erkannt zu haben.“
„Ashleys Freund?“
„Ja. Ich habe ihn sofort angerufen und gefragt, ob Ashley sich bei ihm gemeldet hat, ohne Thelmas Geschichte zu erwähnen. Er will nichts von ihr gehört oder gesehen haben, aber er klang irgendwie nervös. Dieser Drake-Song Summer Sixteen lief gerade im Hintergrund. Also habe ich Thelma angerufen und gefragt, ob das der Song war, den sie gehört hat. Als sie das bestätigt hat, habe ich sofort bei Ihnen angerufen, Detective. Denton Rivers hat das Handy und ich vermute, dass er auch mein kleines Mädchen hat.“
„Okay Mia, gut gemacht! Und danke, dass Sie mich gleich informiert haben. Sie müssen jetzt ganz ruhig bleiben. Sobald wir aufgelegt haben, schicken Sie mir bitte Dentons Adresse. Und denken Sie daran, es könnte eine ganz harmlose Erklärung geben.“
Sie legte auf und sah Ray an. Sei Blick ließ vermuten, dass sie jetzt das gleiche dachten. Kurz darauf vibrierte ihr Handy. Es war die Nachricht mit Denton Rivers Adresse und Keri schickte sie direkt an Ray weiter.
„Los jetzt, wir sollten uns beeilen“, sagte sie und rannte zu ihrem Auto. „Das hier ist absolut nicht harmlos!“
KAPITEL VIER
Montag
Früher Abend
Zehn Minuten später fuhr Keri langsam an Denton Rivers Haus vorbei. Sie sah es sich genau an und parkte schließlich einen Block weiter. Ray war im Auto hinter ihr. Sie spürte ein Kribbeln im Bauch, das nichts Gutes verhieß.
Was, wenn Ashley in diesem Haus ist und er ihr etwas angetan hat?
In der Straße befanden sich hauptsächlich eingeschossige Reihenhäuser, die viel zu nahe aneinander standen. Weit und breit gab es keine Bäume oder Grünflächen, die winzigen Vorgärten waren längst von der Sonne versengt. Denton und Ashley kamen aus sehr unterschiedlichen Welten. In diesem Teil der Stadt gab es keine Prachtvillen.
Keri und Ray gingen zusammen die Straße herunter. Es war kurz nach sechs. Die Sonne hatte bereits ihren langen, langsamen Abstieg nach Westen über dem Ozean begonnen, aber richtig dunkel würde es erst in ein paar Stunden werden.
Als sie vor Dentons Haus standen, hörte sie laute Musik.
Sie und Ray gingen leise zur Haustür. Jetzt konnte man eine wütende, ernste Männerstimme herumschreien hören. Ray holte seine Pistole aus dem Gürtel und gab ihr ein Zeichen, dass sie zur Hintertür gehen sollte und hob dabei einen Finger in die Höhe, was bedeuten sollte, dass sie in genau einer Minute eindringen würden. Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Uhr, nickte, zog ebenfalls ihre Waffe und drückte sich dann an der Hauswand entlang nach hinten.
Ray war der höhere Detective, daher war er gewöhnlich der Vorsichtigere, wenn sie sich Zugang zu einem fremden Haus verschafften. In diesem Fall hielt er es aber für eine so dringende Angelegenheit, dass er nicht auf einen Durchsuchungsbefehl warten konnte. Ein Mädchen wurde vermisst, ein möglicher Verdächtiger war im Haus, wütend und lautstark. Sein Eindringen war gerechtfertigt.
Keri überprüfte das Gartentor. Es war nicht verschlossen. Sie öffnete es nur einen kleinen Spalt und drückte sich durch, damit es nicht quietschte. Es war unwahrscheinlich, dass man sie im Haus hören konnte, aber sie wollte auch kein Risiko eingehen. Auf der Rückseite angekommen hielt sie sich weiterhin nahe an der Wand und konzentrierte sich auf mögliche Bewegungen. Ihr fiel ein heruntergekommener Schuppen am Ende des Grundstücks auf, dessen rostige Wellblechtür aussah, als würde sie jeden Augenblick abfallen.
Sie schlich sich auf die Veranda und hielt einen Augenblich inne. Sie lauschte auf Ashleys Stimme, aber sie konnte sie nicht hören.
Durch die angelehnte Fliegentür konnte sie in eine Küche im 70er Stil mit einem gelben Kühlschrank einsehen. Vom Wohnzimmer aus fiel ein Schatten in den Gang, der Head-bangend zur Musik brüllte.
Immer noch keine Spur von Ashley.
Keri sah auf ihre Uhr – es war soweit.
Da hörte sie schon ein lautes Pochen an der Haustür. Gleichzeitig riss sie die Fliegentür auf und wartete auf das nächste Pochen, bevor sie sie hinter sich wieder zuzog. Lautlos bewegte sie sich durch die Küche und den Gang entlang. In jedes Zimmer, an dem sie vorbeikam, warf sie einen kurzen Blick.
Ray trommelte unterdessen weiterhin mit der Faust gegen die Haustür, lauter und lauter. Plötzlich hörte Denton Rivers auf zu tanzen und ging zur Tür. Keri drückte sich an den Türrahmen des Wohnzimmers. Sie konnte sein Seitenprofil sehen.
Er sah überrascht aus. Er war ein attraktiver junger Mann, hatte kurz geschnittenes, braunes Haar, blaue Augen und eine durchtrainierte Figur, die eher an einen Wrestler erinnerte, als an einen Highschool-Schüler. In jeder anderen Situation hätte er wahrscheinlich gut ausgesehen, aber jetzt war sein Gesicht wutverzogen, seine Augen blutunterlaufen und an seiner Schläfe prangte eine große Platzwunde.
Als er die Tür schließlich öffnete, hielt Ray ihm seine Polizeimarke ins Gesicht.
„Ray Sands, LAPD, Einheit für vermisste Personen“, sagte er mit tiefer, fester Stimme. „Ich habe ein paar Fragen über Ashley Penn.“
Panik machte sich auf Dentons Gesicht breit. Keri kannte diesen Ausdruck. Er würde gleich versuchen, wegzulaufen.
„Ich will dir keinen Ärger machen, ich möchte nur mit dir reden“, sagte Ray beschwichtigend. Er hatte wohl denselben Verdacht.
Keri bemerkte etwas Schwarzes in seiner rechten Hand, konnte es aber nicht richtig erkennen, weil sein Körper ihre Sicht blockierte. Sie hob ihre Waffe und zielte auf seine Schulter. Dann ließ sie die Sicherung zurückschnappen.
Ray sah das aus dem Augenwinkel und schaute auf Dentons Hände. Ray musste es besser sehen können und hatte seine eigene Waffe noch nicht erhoben.
„Ist das die Fernbedienung für die Musik, Denton?“, fragte er laut.
„M-hm.“
„Lass sie fallen.“
Er zögerte einen Augenblich, dann nickte er. Als sie auf den Boden fiel, konnte auch Keri sehen, dass es eine Fernbedienung war.
Ray steckte seine Waffe wieder ein und Keri tat das gleiche.
Als Ray einen Schritt auf ihn zumachte, drehte Denton Rivers sich um und war erstaunt, Keri im Gang stehen zu sehen.
„Wer sind Sie?“, fragte er.
„Detective Keri Locke. Wir sind Partner“, sagt sie und wies mit dem Kinn auf Ray. „Nette Wohnung hast du hier, Denton.“
Als sie ins Wohnzimmer gingen, fiel ihr Blick auf eine Flasche Whiskey, die direkt neben einem Bluetooth-Lautsprecher auf dem Tisch stand. Keri schaltete den Lautsprecher aus und sofort war es still im Raum. Sie sah sich noch einmal genauer um.
Auf dem Teppich war ein Blutfleck. Sie prägte ihn sich genau ein, sagt aber nichts dazu.
Auf Dentons rechtem Unterarm waren tiefe Kratzer, vielleicht von Fingernägeln. Die Wunde an seiner Schläfe blutete nicht mehr, aber sie war noch sehr frisch. Die Scherben eines gerahmten Fotos von Ashley und ihm lagen auf dem Boden.
„Wo sind deine Eltern?“
„Meine Mutter ist auf der Arbeit.“
„Und dein Vater?“
„Der hat im Grab zu tun.“
„Willkommen im Club“, sagt Keri kühl. „Wir suchen nach Ashley Penn.“
„Die kann mich mal.“
„Weißt du, wo wir sie finden können?“
„Nein, und es ist mir auch scheißegal. Mit der bin ich fertig.“
„Ist sie hier?“
„Können Sie sie vielleicht irgendwo sehen?“
„Ist ihr Handy hier?“, fragte Keri nachdrücklich.
„Nein.“
„Wem gehört das pinke Handy in deiner Tasche dann?“
Er zögerte einen Augenblick, bevor er antwortete. „Ich habe gesagt, ich habe Ashleys Handy nicht. Sie sollten jetzt gehen.“
Ray trat bedrohlich nahe vor ihn und hielt ihm die Hand vor die Brust. „Her mit dem Handy.“
Denton schluckte schwer, dann fischte er das Handy aus seiner Hosentasche und legte es in Rays Hand. Es hatte ein pinkes Cover und sah ziemlich teuer aus.
„Gehört das Ashley?“, fragte Ray noch einmal.
Der Junge antwortete nicht, sondern sah ihn nur herausfordernd an.
„Ich kann einfach ihre Nummer wählen, dann sehen wir, ob es klingelt“, sagte Ray, „oder du redest endlich.“
„Okay, es gehört Ashley. Na und?“
„Du setzt dich jetzt auf diese Couch und gibst keinen Mucks von dir“, sagt Ray. Dann wandte er sich an Keri. „Tu, was du tun musst.“
Keri begann, das Haus zu durchsuchen. Es gab drei kleine Schlafzimmer, ein winziges Bad und einen begehbaren Schrank. Alles sah normal und unauffällig aus. Nirgends ein Zeichen von Kampf oder Gefangenschaft. Sie fand auch die Leiter zum Dachgeschoss, die mit einem lauten Knarren herunterklappte. Sie kletterte vorsichtig hinauf. Als sie oben ankam, leuchtete sie mit ihrer Taschenlampe in alle Ecken. Die Decke war niedrig und schräg, sie konnte kaum aufrecht stehen. Querbalken machten es ihr selbst auf allen Vieren schwer, voran zu kommen.
Dort oben gab es nichts außer zehn Jahre alte Spinnweben, ein paar verstaubte Kisten und eine riesige Holzkiste an der gegenüberliegenden Wand.
Warum wurde dieser schwerste, unheimlichste Gegenstand am weitesten geschleppt? Es dürfte ziemlich anstrengend gewesen sein, diese Truhe da hinter zu bekommen.
Keri seufzte. Wahrscheinlich nur, um ihr das Leben schwer zu machen.
„Ist alles in Ordnung da oben?“, rief Ray aus dem Wohnzimmer.
„Ja, ich sehe mir nur noch den Dachboden an.“
Auf Händen und Knien bahnte sie sich einen Weg durch das Dachgeschoss. Verschwitzt und voller Spinnweben kam sie schließlich zu der Truhe. Als sie sie öffnete und mit ihrer Taschenlampe hineinleuchtete, war sie erleichtert, keine Leiche darin zu finden. Im Gegenteil. Die Truhe war leer.
Sie schloss den Deckel wieder und machte sich auf den Weg zurück zur Treppe.
Unten im Wohnzimmer hatte Denton sich tatsächlich nicht gerührt. Ray hatte sich einen Küchenstuhl geholt, ihn direkt vor ihm platziert und sich rittlings darauf gesetzt. „Irgendwas Verdächtiges gefunden?“, fragte er, als sie den Raum betrat.
Sie schüttelte den Kopf. „Wissen wir inzwischen, wo Ashley ist, Detective Sands?“
„Noch nicht, aber wir arbeiten daran. Richtig, Mr. Rivers?“
Denton tat, als hätte er die Frage nicht gehört.
„Kann ich mir mal ihr Handy ansehen?“, fragte Keri.
Ray gab es ihr. „Es ist gesperrt. Wir werden unseren Techniker um Hilfe bitten müssen.“
Keri sah den Jungen an. „Wie lautet ihr Passwort, Denton?“
Er sah sie spöttisch an. „Keine Ahnung.“
Keris Blick sagte deutlich, dass sie ihm nicht glaubte. „Ich werde die Frage noch einmal ganz höflich wiederholen. Wie lautet Ashleys Passwort?“
Er zögerte. Schließlich sagte er: „Honey.“
„Na also. Im Garten habe ich einen Schuppen gesehen, den werde ich mir jetzt ansehen.“
Denton warf einen nervösen Blick über die Schulter, sagte aber nichts.
Draußen stellte Keri fest, dass der Schuppen mit einem alten Vorhängeschloss gesichert war. Sie sah sich um. Eine rostige Schaufel war alles, was sie auf die Schnelle finden konnte. Sie griff sich die Schaufel und schlug damit das Schloss ab. Durch ein Loch im Dach fiel etwas Licht in den Schuppen. Ashley war nicht dort, nur jede Menge alte Farbdosen, Werkzeuge und anderes Gerümpel. Sie wollte gerade wieder zum Haus gehen, als ihr ein ganzer Stapel von KFZ-Kennzeichen auf einem Regal auffiel. Sie beschloss, ihn aus der Nähe anzusehen. Der Stapel bestand aus sechs Nummernschildern, alle hatten aktuelle Plaketten.
Was hat er damit vor? Wir müssen sie untersuchen lassen.
Sie drehte sich um und wollte gehen, als ein Windstoß die Tür zuschlug.
Jetzt war es etwas dunkler im Schuppen. Die plötzliche Dunkelheit verursachte einen Anflug von Klaustrophobie bei Keri. Sie atmete ein paarmal tief durch und riss die Tür wieder auf.
So muss es für Evie gewesen sein. Alleine in der Dunkelheit ohne zu wissen, was mit ihr geschieht. Ob mein kleines Mädchen das durchmachen musste? Es musste ein Albtraum sein.
Sie spürte einen Kloß im Hals, als sie sich zum hundertsten Mal vorstellte, wie Evie an einem Ort wie diesem eingesperrt wurde. Nächste Woche war die Entführung fünf Jahre her. Das würde ein schwerer Tag werden.
Seitdem war viel geschehen – sie hatte lange um ihre Ehe gekämpft. Doch mit der Hoffnung, Evie zu finden, schwanden auch ihre Chancen auf ein gemeinsames Leben. Nachdem sie und Stephen sich scheiden ließen, hatte er ein Sabbatjahr von seiner Professur für Kriminologie und Psychologie an der Loyola Marymount University genommen, mit der offiziellen Begründung unabhängige Recherchen durchzuführen. In Wahrheit hatte ihn die Verwaltung dazu gezwungen, weil seine Alkoholexzesse und seine Affären mit verschiedenen Studentinnen aufgefallen waren. Ihr Leben lag in Scherben, wohin sie auch sah. Schließlich musste sie ihrer größten Niederlage in die Augen blicken: man hatte ihre Tochter gestohlen und sie konnte ihr nicht helfen.
Keri wischte sich ein paar Tränen aus den Augen und ärgerte sich über sich selbst.
Okay, ich habe meine eigene Tochter aufgegeben, aber Ashley werde ich retten! Reiß dich zusammen, Keri!
Dann fiel ihr Ashleys Handy wieder ein. Sie aktivierte es direkt hier im Schuppen. Das Passwort Honey war richtig. Wenigstens damit hatte Denton sie nicht angelogen.
Sie ging zu ihren Fotos. Ashley hatte hunderte von Fotos gespeichert, die meisten davon hübsche kleine Selfies mit ihren Freunden oder mit Denton Rivers, sogar ein paar mit ihrer Mutter. Doch Keri fand auch ein paar privatere Bilder.
Ein paar Fotos waren in einer Bar aufgenommen worden, offensichtlich nach Ladenschluss. Sie zeigten Ashley und ihre Freunde halb besinnungslos, wie sie sich gegenseitig Alkohol einflößten und ihre Röcke hoben um ihre Tangas in die Kamera zu halten. Auf ein paar Fotos wurden auch Bongs geraucht und Joints gedreht. Auf dem Tisch standen Schnapsflaschen.
Wen kannte Ashley, der ihr Zugang zu diesem Ort verschaffte? Wann wurden diese Fotos gemacht? Wieso wussten ihre Eltern nichts davon?
Dann erstarrte Keri. Auf zwei Fotos lag im Hintergrund eine 9mm Pistole. Einmal neben einem Päckchen Zigaretten auf dem Tisch, einmal auf dem Sofa neben einer Tüte Chips. Die nächsten Bilder zeigten Ashley irgendwo im Wald, wie sie auf eine Dose Cola zielte.
Was hat das zu bedeuten? War das Ashleys Art, Spaß zu haben? Wollte sie lernen, sich selbst zu verteidigen? Vor wem?
Keri bemerkte, dass Denton Rivers in den letzten drei Monaten immer seltener auf ihren Fotos zu sehen war. Dafür war immer öfter ein extrem gutaussehender junger Mann mit einer langen, blonden Mähne zu sehen. Auf vielen Bildern trug er kein T-Shirt und zeigte seinen durchtrainierten Oberkörper. Er schien sehr stolz auf seinen Sixpack zu sein. Aber er ging nicht mehr auf die Schule, so viel stand fest. Keri schätzte ihn auf Anfang zwanzig.
Ob er ihnen Zugang zu der Bar verschafft hatte?
Ashley hatte zu dieser Zeit auch einige erotische Fotos von sich selbst gemacht. Einige zeigten sie in Unterwäsche, andere oben ohne, wie sie sich verführerisch streichelte. Auch wenn ihr Gesicht auf den Bildern nicht zu sehen war, war Keri dennoch sicher, dass es Ashley war. Keri erkannte ihr Zimmer. Ein Bild zeigte sogar das Mathematikbuch, in dem sie ihren gefälschten Führerschein versteckt hatte. Auf einem anderen war ein Teil ihres Stofftieres sichtbar, das mit abgewandtem Kopf auf ihrem Kissen saß, als könne es den Anblick nicht ertragen. Keri wurde blass.
Sie beschloss, sich als nächstes die gesendeten SMS anzusehen. Ashley hatte die erotischen Fotos an einen Typen namens Walker gesendet, vermutlich der Typ mit dem Sixpack. Die zugehörigen Mitteilungen waren eindeutig. Trotz Mia Penns inniger Beziehung zu ihrer Tochter, schien Stafford Penn den realistischeren Eindruck von Ashleys Privatleben zu haben.
Eine Mitteilung an Walker vor vier Tagen lautete: Ich habe Denton offiziell abserviert. Könnte Probleme geben. Ich sag Bescheid.
Keri schaltete das Handy aus und saß nachdenklich in dem dunklen Schuppen. Sie schloss die Augen und ließ ihre Gedanken wandern. Plötzlich spielte sich vor ihrem inneren Auge eine Szene ab, so lebendig, als hätte sie genau hier stattgefunden.
Es war Sonntag, ein schöner, sonniger Septembermorgen mit blauem Himmel. Sie war mit Evie auf dem Spielplatz. Stephen kam an diesem Tag von einem Ausflug in den Bergen zurück. Evie trug ein lilafarbenes T-Shirt, weiße Shorts, weiße Spitzensocken und Sportschuhe.
Sie lächelte über das ganze Gesicht. Ihre grünen Augen leuchteten und ihre blond gelockten Zöpfchen wippten in der Sonne. An einem ihrer Schneidezähne war ein kleines Eck abgebrochen. Da es kein Milchzahn mehr war, mussten sie ihn irgendwann richten lassen. Doch immer, wenn Keri es erwähnte, geriet Evie in Panik, deswegen schoben sie es immer wieder auf.
Keri saß barfuß im Gras, um sie herum lagen Papiere verstreut. Sie bereitete sich auf ihren Vortrag auf der Kriminologen-Konferenz am nächsten Tag vor. Sie hatte sogar einen Gastredner eingeladen, einen Detective vom LAPD namens Raymond Sands, der sie in der Vergangenheit ein paarmal kontaktiert hatte.
„Mami, kaufst du mir ein Eis?“
Keri sah auf die Uhr. Sie war fast fertig und der Laden lag auf dem Heimweg. „Gib mir fünf Minuten.“
„Heißt das Ja?“
Sie lächelte. „Ja! Großartige Idee.“
„Darf ich mir auch Soße oder Streusel aussuchen?“
„Kommt darauf an… Wie sieht Feenstaub aus?“
„Ich weiß nicht.“
„So bunt wie Streusel! Verstehst du?“
„Klar verstehe ich! Ich bin doch kein Baby mehr!“
„Natürlich nicht, mein Schatz, entschuldige. Gib Mir noch fünf Minuten.“
Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Vortrag. Eine Minute später ging jemand an ihr vorbei. Sein Schatten fiel kurz auf ihre Papiere. Sie ärgerte sich über die Ablenkung und versuchte sich wieder zu konzentrieren.
Plötzlich wurde die Stille von einem entsetzlichen Schrei zerrissen. Keri blickte erschrocken auf. Ein Mann in Windjacke und Baseball-Mütze rannte davon. Sie konnte ihn nur von hinten sehen, bemerkte aber, dass er irgendetwas in den Armen trug.
Keri stand auf und sah sich unruhig nach Evie um, aber sie konnte sie nirgendwo entdecken. Ohne nachzudenken rannte sie dem Mann hinterher. In diesem Moment sah sie Evie. Der Mann hatte sie fest im Griff. Sie sah völlig verängstigt aus.
„Mama!“, schrie sie. „Mama!“
Keri rannte noch schneller, aber der Mann hatte einen großen Vorsprung. Als sie gerade über die Wiese sprintete, war er bereits auf dem Parkplatz angekommen.
„Evie! Lass Sie los! Stopp! Haltet diesen Mann! Er hat meine Tochter!“
Die Leute sahen sich verwirrt um, aber niemand half. Auf dem Parkplatz war keiner, der ihn stoppen konnte. Sie sah, wie er auf einen weißen Van am anderen Ende des Parkplatzes zu rannte. Er war nur noch wenige Meter davon entfern, als sie Evie rufen hörte.
„Mama! Hilf mir!“
„Ich komme! Halte durch!“
Keri gab alles. Brennende Tränen ließen ihre Sicht verschwimmen. Sie konnte kaum mehr sehen. Sie ignorierte ihre schmerzenden Muskeln und ihre Furcht. Sie erreichte den Parkplatz. Der körnige Asphalt bohrte sich tief in ihre nackten Fußsohlen, aber sie spürte es kaum.
„Er hat meine Tochter!“, schrie sie wieder.
Ein Teenager stieg gerade mit seiner Freundin aus dem Wagen unweit des Vans aus. Er sah sich verwirrt um, doch als Keri wieder rief und auf den Mann mit Evie zeigte, rannte er los.
Der Mann hatte jetzt den Van erreicht, schob die Seitentür auf und warf Evie hinein, wie einen Sack Kartoffeln. Keri konnte den dumpfen Aufprall hören, als ihr Körper gegen die Wand schlug. Der Mann zog die Tür zu und rannte zur Fahrertür, als der Teenager ihn an der Schulter zu fassen bekam. Der Mann fuhr herum und endlich sah Keri ihn von vorne. Er trug eine Sonnenbrille und hatte seine Mütze tief ins Gesicht gezogen. Die Tränen in ihren Augen machten es ihr immer noch schwer, klar zu sehen, aber sie nahm einen blonden Haarschopf wahr und den Ansatz eines Tattoos an seiner rechten Halsseite.
Bevor sie mehr erkennen konnte, hatte er seinen Arm befreit und dem Teenager ins Gesicht geschlagen. Dieser fiel rückwärts gegen ein anderes Auto. Keri hörte einen schrecklichen Knack. Sie sah, dass der Mann ein Messer gezogen hatte und es dem Teenager in die Brust rammte. Er zog es wieder heraus und sah zu, wie der Junge auf den Boden sank. Dann eilte er zur Fahrertür.
Keri dachte nicht nach, sie wollte nur noch den Van erreichen. Sie hörte, wie der Motor startete und sah, dass er bereits rückwärts aus der Parklücke fuhr. Sie war nur noch wenige Meter entfernt. Schon schaltete der Fahrer in den ersten Gang und beschleunigte. Keri rannte weiter, spürte aber, dass ihre Kräfte nachließen. Sie wollte sich das Nummernschild einprägen, doch der Van hatte keins.
Sie tastete nach ihrem Autoschlüssel, doch die lagen noch auf der Wiese beim Spielplatz. Sie rannte zu dem Teenager, hoffte seinen Wagen nehmen zu können. Seine Freundin war über ihn gebeugt und schluchzte unkontrolliert.
Als sie wieder aufsah, verschwand der Van gerade um die nächste Kurve. Er wirbelte eine riesige Staubwolke auf. Sie hatte kein Nummernschild, keine Täterbeschreibung, nichts, was der Polizei helfen würde. Ihre Tochter war verschwunden und sie hatte keine Ahnung, wie sie sie wieder zurückholen konnte.
Keri sank neben dem Mädchen auf die Knie und begann ebenfalls zu schluchzen. Ihr Wimmern war von dem des Mädchens nicht mehr zu unterscheiden.
Als sie die Augen öffnete, war sie wieder in Dentons Haus. Sie konnte sich nicht daran erinnern, aus dem Schuppen und über das verdorrte Gras gegangen zu sein. Jetzt stand sie in Rivers Küche. Das war bereits der zweite Blackout an einem Tag.
Sie hatte es also nicht im Griff.
Sie ging zurück ins Wohnzimmer, sah Denton in die Augen und sagte: „Wo ist Ashley?“
„Ich weiß es nicht.“
„Warum hast du ihr Handy?“
„Sie hat es gestern hier vergessen.“
„Blödsinn! Sie hat vor vier Tagen mit dir Schluss gemacht. Sie war gestern nicht hier.“
Das war für ihn ein Schlag ins Gesicht.
„Okay, ich habe es ihr geklaut.“
„Wann?“
„Heute Nachmittag. In der Schule.“
„Du hast es ihr einfach aus der Hand genommen?“
„Nein, ich bin absichtlich mit ihr zusammengestoßen, als die Schulglocke ging und habe es aus ihrer Tasche gezogen.“
„Wem gehört der schwarze Van?“
„Ich weiß es nicht.“
„Vielleicht einem deiner Freunde?“
„Nein.“
„Hast du jemanden dafür bezahlt?“
„Was? Nein!“
„Woher kommen die Kratzer an deinem Arm?“
„Keine Ahnung.“
„Und die Wunde in deinem Gesicht?“
„Keine Ahnung.“
„Wessen Blut ist das dort, auf dem Teppich?“
„Keine Ahnung.“
„Keri wurde unruhig und bemühte sich, den aufkochenden Zorn zu unterdrücken. Sie spürte, dass sie langsam die Kontrolle verlor.
Sie starrte ihn kalt an. „Ich frage dich jetzt zum letzten Mal: Wo ist Ashley Penn?“
„Du kannst mich mal.“
„Falsche Antwort. Du solltest auf dem Weg zum Revier noch einmal genau nachdenken.“
Keri zögerte kurz, dann holte sie aus und schlug ihm die geballte Faust mitten ins Gesicht. All ihre Frustration und Hilflosigkeit entlud sich in diesem Schlag. Sie traf ihn genau auf der verletzten Schläfe. Die Wunde riss auf und das Blut spritzte überall hin, sogar auf Keri selbst.
Ray starrte sie mit offenem Mund an. Dann zog er Denton Rivers mit einem kräftigen Ruck auf die Füße. „Du hast die Lady gehört! Beweg‘ dich! Und pass nur auf, dass du deinen Kopf nicht noch einmal irgendwo anstößt.“
Keri warf Ray ein dankbares Lächeln zu, aber er lächelte nicht zurück. Er war entsetzt.
So etwas konnte sie den Job kosten.
In diesem Moment war es ihr egal. Jetzt wollte sie nur, dass dieser Punk endlich redete.