Kitabı oku: «Gesicht des Todes», sayfa 4
Kapitel fünf
Das Büro des Leichenbeschauers war ein flaches Gebäude, das, wie so ziemlich alles in dieser winzigen Stadt, neben dem Polizeirevier lag. Es gab nur eine durch den Ort hindurchführende Straße; Geschäfte, eine kleine Grundschule und alles, was ein Städtchen so brauchte, lagen rechts und links davon.
Zoe fühlte sich hier unbehaglich. Es erinnerte zu sehr an zu Hause.
Der Leichenbeschauer erwartete sie unten, das Opfer lag bereits auf dem Tisch für sie bereit, wie ein gruseliges Ausstellungsstück. Der Mann, ein älterer Bursche, der einige Jahre vor seiner Pensionierung stand und etwas Weitschweifiges und Wichtigtuerisches an sich hatte, begann mit einer langen und umständlichen Erklärung seiner Feststellungen, aber Zoe blendete ihn aus.
Sie konnte alles vor sich sehen, das er ihnen sagen würde. Die klaffende Halswunde verriet ihr die genaue Breite des Drahtes, nach dem sie suchten. Die Frau wog trotz ihrer geringen Größe etwas über 77 Kilo, obwohl einiges davon mit den fast drei Litern Blut aus ihr herausgeströmt war.
Der Winkel des Einschnitts und die Kraft dahinter sagten ihr zwei Dinge. Erstens, dass der Mörder zwischen 1,75 und 1,80 groß war. Zweitens, dass er sich nicht auf Kraft verließ, um die Straftaten zu begehen. Der Draht hatte das Gewicht des Opfers nicht lange gehalten. Als sie zusammengebrochen war, hatte er sie fallen lassen. Das, zusammen mit der Wahl eines Drahts als Waffe überhaupt, bedeutete wahrscheinlich, dass er nicht sehr stark war.
Nicht sehr stark kombiniert mit groß genug bedeutete wahrscheinlich, dass er weder muskulös noch übergewichtig war. Wäre er eines davon gewesen, hätte sein Körpergewicht als Gegengewicht fungiert. Das bedeutete, dass er wahrscheinlich von schlanker Statur war, es passte zu dem, was man sich normalerweise vorstellte, wenn man an einen durchschnittlichen Mann durchschnittlicher Größe dachte.
Es gab nur eins, von dem sie sicher sagen konnte, dass es nicht durchschnittlich war, und das war die Art, wie er mordete.
Abgesehen davon gab es keine Anhaltspunkte. Seine Haarfarbe, sein Narbe, seine Herkunftsstadt, die Gründe für seine Tat – nichts davon war in der leeren und verlassenen Hülle dieses Dinges vor ihnen ersichtlich, das vorher eine Frau gewesen war.
„Was wir daraus also folgern können“, sagte der Leichenbeschauer langsam, seine Stimme mürrisch und langatmig. „Ist, dass der Täter wahrscheinlich von durchschnittlicher Größe für einen Mann war, vielleicht zwischen 1,72 und etwas über 1,80 groß.“
Zoe hielt ihr Kopfschütteln gerade noch zurück. Die Schätzung war viel zu ungenau.
„Hat sich die Familie des Opfers gemeldet?“ fragte Shelley.
„Nicht, seit der Exmann hier war, um sie zu identifizieren.“ Der Leichenbeschauer zuckte mit den Schultern.
Shelley umfasste einen kleinen Anhänger an ihrem Hals, schob ihn auf der schmalen Goldkette hin und her. „Das ist so traurig“, seufzte sie. „Arme Linda. Sie hat etwas Besseres verdient.“
„Wie wirkten sie, als du sie befragtest?“ fragte Zoe. Jede Spur war eine Spur, auch wenn sie nun völlig sicher war, dass Linda das reine Zufallsopfer eines Fremden geworden war.
Shelley zuckte hilflos mit den Schultern. „Überrascht von der Nachricht. Nicht am Boden zerstört. Ich glaube nicht, dass sie sich nahe waren.“
Zoe verdrängte die Überlegung, wer um sie trauern oder ihren toten Körper noch einmal sehen wollen würde, wenn sie starb, ersetzte diesen Gedanken durch Frustration. Diese war nicht schwierig zu finden. Sie waren in einer weiteren Sackgasse, wortwörtlich einem toten Punkt. Linda hatte ihnen keine Geheimnisse mehr mitzuteilen.
Hier herumzustehen und mit den Toten mitzufühlen war sehr nett, aber es brachte sie den Antworten nicht näher, nach denen sie suchten.
Zoe schloss kurz ihre Augen und drehte sich weg, zur anderen Seite des Raumes und der Türe, durch die sie hereingekommen waren. Sie mussten weiter, aber Shelley unterhielt sich immer noch leise und respektvoll mit dem Leichenbeschauer darüber, wer die Frau zu Lebzeiten gewesen war.
Nichts davon war wichtig. Konnte Shelley das nicht erkennen? Lindas Todesursache war sehr einfach: sie war alleine in einer einsamen Tankstelle gewesen, als der Killer vorbeikam. Nichts sonst an ihrem gesamten Leben war relevant.
Shelley schien Zoes Wunsch, zu gehen, zu bemerken, entfernte sich höflich vom Leichenbeschauer und kam zu ihr. „Was sollen wir jetzt machen?“ fragte sie.
Zoe wünschte, sie könnte diese Frage ausführlicher beantworten, aber das konnte sie nicht. Es gab zu diesem Punkt nur eins, was ihnen übrig blieb und es war nicht die direkte Aktion, die sie vorzog. „Wir werden ein Profil des Mörders erstellen“, sagte sie. „Kommunikation an die Nachbarstaaten herausgeben, um die örtlichen Polizeibehörden warnen, die Augen offen zu halten. Dann werden wir die Akten der vorherigen Morde durchsehen.“
Shelley nickte, passte sich problemlos ihrer Schrittgeschwindigkeit an, als Zoe zur Tür ging. Sie hatten ja nicht weit zu gehen.
Als sie die Treppen hinauf und durch die Bürotüren hinausgegangen waren, sah Zoe sich um und erblickte wieder die Linie des Horizonts, so deutlich hinter der kleinen Ansammlung von Wohnhäusern und Gebäuden sichtbar, die die Stadt bildeten. Sie seufzte, verschränkte die Arme vor der Brust und wandte den Kopf zum Revier, das ihr nächstes Ziel war. Umso weniger lang sie diesen Ort ansah, desto besser.
„Du magst diese kleine Stadt nicht, oder?“ fragte Shelley neben ihr.
Zoe war einen Moment lang überrascht, aber Shelley hatte sich bereits als sowohl scharfsinnig wie auch einfühlsam erwiesen. Um ehrlich zu sein sah man es Zoe wahrscheinlich deutlich an. Sie konnte die schlechte Laune nicht abschütteln, die sie immer überkam, wenn sie in einem solchen Ort landete. „Ich mag kleine Städte im Allgemeinen nicht“, sagte sie.
„Du bist ein Großstadtmädchen, richtig?“ fragte Shelley.
Zoe hielt einen Seufzer zurück. Das passierte, wenn man Partner hatte: sie wollten dich immer kennenlernen. All die kleinen Puzzlestücke ausgraben, die deine Vergangenheit ausmachten und sie dann zusammenquetschen, bis sie so zusammenpassten, wie sie es wollten. „Sie erinnern mich an den Ort, an dem ich aufwuchs.“
„Ahhh.“ Shelley nickte, als ob sie es begriff und verstand. Sie begriff es nicht. Zoe wusste das genau.
Ihre Unterhaltung hielt inne, während sie die Türen zum Revier durchquerten, zu dem kleinen Besprechungszimmer im hinteren Teil des Gebäudes gingen, das sie mit Erlaubnis der örtlichen Polizisten als Einsatzraum benutzten. Zoe sah, dass sie alleine dort waren und legte einen neuen Papierstapel auf den Tisch, begann, den Bericht des Leichenbeschauers zusammen mit Fotografien und einigen Berichten von Polizisten, die zuerst am Tatort gewesen waren, auszubreiten.
„Du hattest also keine tolle Kindheit?“ fragte Shelley.
Ah. Vielleicht verstand sie es doch, besser, als Zoe ihr zugetraut hätte.
Vielleicht hätte sie nicht so überrascht sein müssen. Warum sollte Shelley nicht auf die gleiche Weise Gefühle und Gedanken lesen können, auf die Zoe Winkel, Maßeinheiten und Muster lesen konnte?
„Es war nicht die Beste“, sagte Zoe, schüttelte sich die Haare aus den Augen und konzentrierte sich auf die Papiere. „Und nicht die Schlechteste. Ich hab’s überlebt.“
Ein Echo ertönte in ihrem Kopf, ein Schrei, der sie über Zeit und Ferne hinweg erreichte. Teufelskind. Abart der Natur. Sieh, wozu du uns jetzt gebracht hast! Zoe verdrängte es, ignorierte die Erinnerung an einen Tag, den sie zur Strafe für ihre Sünden in ihrem Zimmer eingesperrt verbracht hatte, ignorierte die lange und schwere Einsamkeit der Isolation als Kind.
Shelley ging rasch auf die gegenüberliegende Seite des Tisches, breitete einige der Fotografien aus, die sie schon hatten, holte dann die Akten der anderen Fälle.
„Wir müssen nicht darüber reden“, sagte sie leise. „Es tut mir leid. Du kennst mich noch gar nicht.“
Das ‚noch‘ war verdächtig: es deutete einen Zeitpunkt an, auch wenn er noch in weiter Zukunft lag, zu dem von Zoe erwartet wurde, ihr ausreichend zu vertrauen. An dem sie in der Lage sein würde, all die Geheimnisse herauszulassen, die seit ihrer Kindheit in ihr verschlossen waren. Was Shelley nicht wusste, nach ihrem sanften Nachbohren nicht ahnen konnte, war, dass Zoe niemandem erzählen würde, was in ihrer Kindheit geschehen war – niemals.
Abgesehen vielleicht von der Therapeutin, zu deren Besuch Dr. Applewhite sie hatte bringen wollen.
Zoe schob all das von sich weg, bedachte ihre Partnerin mit einem knappen Lächeln und Nicken, nahm ihr dann eine der Akten aus den Händen. „Wir sollten uns die früheren Fälle ansehen. Ich werde den hier lesen und du kannst den anderen lesen.“
Shelley zog sich auf einen Stuhl auf der anderen Seite des Tisches zurück, betrachtete die Bilder in der ersten Akte, als sie sich über den Tisch verteilten, kaute dabei an einem ihrer Fingernägel. Zoe wandte den Blick ab und konzentrierte sie auf die vor ihr liegenden Seiten.
„Das erste Opfer wurde auf einem leeren Parkplatz vor einem Diner getötet, welches eine halbe Stunde vorher zugemacht hatte“, las Zoe vor, fasste den Inhalt des Berichts zusammen. „Sie arbeitete dort als Kellnerin, Mutter von zwei Kindern, ohne Collegeausbildung, die anscheinend ihr ganzes Leben in der gleichen Gegend verbracht hatte. Es gab keine forensischen Beweise von Wert am Tatort, die Vorgehensweise war die Gleiche, Tod durch Draht und dann das sorgfältige Wegwischen von Fußabdrücken und Spuren.“
„Wieder nichts, was uns hilft, ihn ausfindig zu machen“, seufzte Shelley.
„Sie hat das Diner nach dem Aufräumen abgeschlossen, nach einer langen Schicht auf dem Weg nach Hause. Als sie nicht wie gewöhnlich nach Hause kam, wurde ziemlich schnell Alarm geschlagen.“ Zoe blätterte auf die nächste Seite, überflog den Inhalt auf der Suche nach nützlichen Informationen. „Es war ihr Ehemann, der sie gefunden hat – er fuhr hinaus, um nachzusehen, nachdem sie nicht an ihr Telefon gegangen war. Es ist wahrscheinlich, dass er Spuren verunreinigt hat, als er seine Frau entdeckte und dann ihre Leiche anfasste und festhielt.“
Zoe blickte auf, hatte sich vergewissert, dass dieser Fall ebenso wenig Hinweise beinhaltete wie der andere. Shelley konzentrierte sich noch, spielte wieder mit diesem Anhänger an ihrer Kette. Er wurde von ihrem Daumen und Finger verschluckt, war klein genug, um dahinter völlig zu verschwinden.
„Ist das ein Kreuz?“ fragte Zoe, als ihre neue Partnerin endlich aufsah. Es war etwas, über das man plaudern konnte, dachte sie. Es war ziemlich natürlich für eine Agentin, mit ihrer Partnerin über den Schmuck zu sprechen, den diese immer trug, was Shelley wohl tat. Richtig?
Shelley sah hinunter auf ihre Brust, als ob sie nicht bemerkt hatte, was ihre Hände taten. „Oh, das? Nein. Es war ein Geschenk meiner Großmutter.“ Sie bewegte die Finger weg, hielt es nach vorne, damit Zoe den pfeilförmigen Goldanhänger sehen konnte, dessen spitzes Ende mit einem winzigen Diamanten verziert war. „Gut, dass mein Großvater Geschmack hatte. Er gehörte früher ihr.“
„Oh“, sagte Zoe, die sich ein wenig erleichtert fühlte. Sie war sich nicht bewusst gewesen, wie viel Spannung sie in sich aufgestaut hatte, seitdem sie Shelley zum ersten Mal die Kette hervorziehen und damit hatte spielen sehen. „Ein Pfeil für wahre Liebe?“
„Genau.“ Shelley lächelte. Dann runzelte sie leicht die Stirn, hatte anscheinend die Veränderung in Zoes Stimmung bemerkt. „Hast du dir Sorgen gemacht, dass ich übertrieben religiös sei, oder sowas in der Richtung?“
Zoe räusperte sich leise. Sie hatte kaum selbst erkannt, dass dies der Grund für ihre Frage gewesen war. Aber natürlich war es das. Es war lange her, dass sie das schüchterne kleine Mädchen mit der übereifrig gottesfürchtigen Mutter gewesen war, aber sie war immer noch sehr vorsichtig mit Menschen, die die Kirche als das Wichtigste in ihrem Leben betrachteten.
„Ich war nur neugierig“, sagte Zoe, aber ihre Stimme war angespannt und sie wusste es.
Shelley runzelte die Stirn, lehnte sich vor, um die nächste Akte vom Tisch zu nehmen. „Du weißt, dass wir viel Zeit zusammen bei der Arbeit verbringen werden, wenn wir Partner bleiben“, sagte sie. „Vielleicht wird es etwas reibungsloser verlaufen, wenn wir einander nichts vorenthalten. Du musst mir nicht sagen, warum du dir darüber Sorgen gemacht hast, aber ich würde die Ehrlichkeit schätzen.“
Zoe schluckte, sah auf die Akte hinunter, die sie bereits gelesen hatte. Sie sammelte ihren Stolz, schloss die Augen einen Moment, um die Stimme zum Schweigen zu bringen, die ihr sagte Nein, es passt nicht überein, eine ist ungefähr fünf Millimeter dicker, und begegnete Shelleys Blick. „Ich habe keine guten Erfahrungen damit“, sagte sie.
„Mit Religion oder Ehrlichkeit?“ fragte Shelley mit einem scherzhaften Lächeln, während sie ihre Akte öffnete. Nach einer Weile, in der Zoe mit sich kämpfte und sich fragte, was sie antworten sollte, fügte Shelley hinzu: „Das war ein Witz.“
Zoe lächelte sie schwach an.
Dann wandte sie sich der neuen Fallakte zu und begann, die Tatortfotografien zu untersuchen; wusste, dass es das Einzige war, das sie von der unbehaglichen Atmosphäre im Zimmer und dem brennenden Gefühl, das über ihre Wangen und ihren Hals wanderte, ablenken würde.
„Das zweite Opfer ist eine weitere Variante der gleichen Geschichte“, sagte Shelley kopfschüttelnd. „Eine Frau wurde ermordet am Rand einer Straße aufgefunden, die an einer kleinen Stadt vorbeiführt. Die Art Straße, die man wahrscheinlich entlangläuft, wenn man abends nach einem langen Arbeitstag nach Hause geht, was sie auch tat. Sie war Lehrerin … mehrere korrigierte Arbeiten waren um sie herum verteilt, sie hatte sie fallen lassen, nachdem ihr Hals durch die Drahtschlinge aufgeschnitten worden war.“
Shelley hielt inne, um die Fotografien durchzusehen, fand diejenige mit den Arbeiten. Sie hielt sie eine Sekunde lang hoch, biss sich auf die Lippe und schüttelte den Kopf. Sie reichte sie Zoe, die versuchte, das gleiche Mitleid zu empfinden und feststellte, dass es ihr nicht gelang. Die Schularbeiten machten es ihrer Meinung nach nicht ergreifender als jeden anderen Tod. Tatsächlich hatte sie weitaus brutalere Morde gesehen, die mitleiderregender waren.
„Sie wurde früh am nächsten Morgen von einem Radfahrer gefunden. Er hatte die Papiere gesehen, die sich im Wind bewegten, über den Bürgersteig und die halb im hohen Gras verborgene Leiche geweht wurden“, fasste Shelley die Notizen in ihrer Akte zusammen. „Es sieht aus, als ob sie zum Straßenrand ging, als ob sie jemandem helfen wollte. Sie wurde irgendwie dahin gelockt. Verdammt … sie war eine gutherzige Frau.“
Mehrere Szenarien rasten durch Zoes Kopf: ein erfundener entlaufener Hund, ein um eine Wegbeschreibung bittender Fremder, ein Fahrrad mit loser Kette, eine Frage nach der Uhrzeit.
„Keine Fußspuren auf dem festen Boden, keine Fasern oder Haare auf der Leiche, keine DNA unter ihren Fingernägeln. Genauso sauber wie die anderen Tatorte“, sagte Shelley, legte die Akte seufzend vor sich ab.
Was auch immer sie so verletzlich gemacht hatte – vielleicht sogar der Überraschungsmoment und ein Schritt vom Bürgersteig hinunter, als sie gegen den Draht um ihren Hals kämpfte – war alles, was sie hatten.
Zoes Augen wanderten ziellos über das Papier, während sie versuchte, die Punkte so zu verbinden, dass es auf alle drei Fälle passte.
Zwei glücklich verheiratet, eine geschieden. Zwei Mütter, eine kinderlose Frau. Jede mit einem anderen Job. Unterschiedliche Orte. Eine mit einem Collegeabschluss, zwei ohne. Kein besonderes Muster in ihren Namen oder Verbindungen durch ihre Arbeitgeber.
„Ich sehe keine Verbindung“, sagte Shelley, das Schweigen zwischen ihnen unterbrechend.
Zoe seufzte und schloss die Akte. Sie musste es zugeben. „Ich auch nicht.“
„Also sind wir wieder am Anfang. Zufallsopfer.“ Shelley stieß die Luft aus. „Was bedeutet, dass das nächste Opfer auch zufällig sein wird.“
„Und damit eine viel geringere Möglichkeit, dass wir es beenden können“, fügte Zoe hinzu. „Außer wir können ein Profil zusammenkriegen, das umfangreich und nützlich genug ist, um diesen Mann ausfindig zu machen und ihn zu schnappen, bevor er wieder eine Möglichkeit findet.“
„Dann lass uns daran arbeiten“, sagte Shelley, mit einer Miene so voller Entschlossenheit, dass es Zoe ein Fünkchen Hoffnung gab.
Sie bedeckten das Flipchart in der Zimmerecke mit einem leeren Papierbogen und gingen die ihnen bekannten Informationen durch.
„Wir können seinen Weg erkennen“, sagte Zoe; etwas, das sie schon einmal laut erklärt hatte und das jeder einfach genug erfassen konnte. „Aus irgendeinem Grund ist er auf Achse. Was könnte das sein?“
„Vielleicht reist er beruflich“, schlug Shelley vor. „Ein Trucker, ein Vertriebler oder Handelsvertreter, irgendwas in der Art. Oder er reist einfach, weil ihm danach ist. Er könnte auch obdachlos sein.“
„Zu viele Möglichkeiten, um hier eine klare Entscheidung zu treffen.“ Zoe schrieb reist herum auf das Flipchart, versuchte dann, die Implikationen aufzulisten. „Er muss unterwegs übernachten. Motels, Hotels, oder vielleicht in seinem Auto.“
„Wenn er in seinem Auto schläft, haben wir wenig Hoffnung, ihn ausfindig zu machen“, gab Shelley zu bedenken, ihre Mundwinkel herabgezogen. „Er könnte in den Hotels auch falsche Namen benutzen.“
„Nicht viel, mit dem wir hier arbeiten können. Aber er muss sich irgendwie fortbewegen. Mit einem Fahrzeug, wenn wir von den Abständen zwischen den Tatorten und der vergangenen Zeit ausgehen.“
Shelley tippte eilig in ihr Handy, rief Landkarten auf und prüfte die Orte. „Ich glaube nicht, dass da eine direkte Zugstrecke ist. Vielleicht per Bus oder Auto.“
„Das engt es etwas ein“, sagte Zoe und fügte der Liste diese Möglichkeiten hinzu. „Er könnte ein Anhalter sein, obwohl das heutzutage weniger üblich ist. Wie steht es mit seinen körperlichen Merkmalen?“
„Normalerweise wird eine Schlinge von denen benutzt, die nicht muskulös sind. Wir können also vielleicht mutmaßen, dass er von durchschnittlicher Gestalt ist.“
Zoe war froh, dass Shelley das aufgefallen war, eine Sache weniger, mit der sie Verdacht erregen könnte. „Durchschnittlich, aber vielleicht nicht zu klein oder zierlich. Ich habe das Gefühl, dass wir schon sicher sagen können, dass dies die Taten eines Mannes sind. Bei zu wenig Kraft oder Körpergröße hätten die Opfer ihn überwältigen und sich freikämpfen können.“
„Und wenn er zu klein war, hätte er nicht so einen guten Griff gehabt“, fügte Shelley hinzu. „Die Opfer wurden wahrscheinlich alle stehend getötet, was bedeutet, dass er ihre Hälse einfach erreichen können musste.“
Zoe musste – wenn auch nur in Gedanken – zugeben, dass sie beeindruckt war. Sie schrieb durchschnittliche oder überdurchschnittliche Körpergröße – zwischen 1,72 und 1,82, auf der Grundlage des Berichts des Leichenbeschauers, und durchschnittliche oder schlanke Gestalt auf das Papier.
„Nun lass uns über die psychologischen Aspekte reden“, sagte Zoe. „Etwas treibt ihm zum Töten, auch wenn es nicht etwas ist, das uns logisch erscheint. Wenn es keine wirkliche Verbindung zwischen den Opfern gibt, müssen wir davon ausgehen, dass dieser Drang von innen kommt.“
„Sie scheinen mir wie Gelegenheitstaten. Er greift nur Frauen an, vielleicht, weil sie schwächer sind. Sie sind alleine, wehrlos, außerhalb der Reichweite funktionierender Überwachungskameras und es besteht wenig Gefahr, dass er unterbrochen wird.“
„Ich sehe zwei Möglichkeiten. Die Erste ist, dass er einen Tötungsdrang hat und deshalb diese Opfer aussucht, bei denen kaum Gefahr besteht, dass er geschnappt wird. Aus irgendeinem Grund tut er es jetzt und in rascher Folge – also sollten wir nach einem Auslöser suchen“, sagte Zoe, während sie mit dem Ende des Stiftes gegen ihr Kinn tippte. „Die andere Möglichkeit ist, dass irgendetwas in diesen Opfern selbst den Tötungsdrang ausgelöst hat. In dem Fall weiß er noch gar nicht, dass er sie töten wird, bis der Moment kommt.“
„In anderen Worten, er sucht entweder absichtlich nach Frauen, die er töten kann, oder er tötet, wenn sich die Gelegenheit ergibt und irgendetwas an den Frauen selbst löst das aus“, sagte Shelley, die Augen nachdenklich zusammengekniffen.
„Denk darüber nach.“ Zoe schüttelte den Kopf, ging vor dem Flipchart hin und her. „Es ist zu perfekt, um so zufällig zu sein. Eine pro Nacht – das weist auf einen Zwang hin. Wenn er nur durch auslösende Momente zum Töten getrieben würde, würde mehr Zeit zwischen den Angriffen liegen. Er würde an manchen Abenden zu Hause sein, oder einfach niemanden treffen, der ihn durchknallen lässt. Nein, das hier ist vorsätzlich und geplant. Es gibt irgendeinen Grund, aus dem er jede von ihnen töten muss, irgendeine Botschaft oder ein Ritual.“
Sie ging wieder nach vorne und schrieb ein Mord pro Tag – Ritual auf das Papier.
„Was ist mit den Orten?“ fragte Shelley. „Vielleicht ergibt sich da etwas.“
Eine Landkarte hing bereits an der Wand, drei rote Stecknadeln markierten die Orte, an denen die drei Leichen gefunden worden waren. Zoe betrachtete sie einen Moment lang, nutzte dann den Rand eines Papiers, um sie zu verbinden. Der erste und dritte Fundort waren durch eine gerade Linie verbunden. Der zweite wich ein wenig ab, war aber noch auf dem Weg.
„Welche Städte sind das?“ Shelley deutete auf das Ende des Papiers, auf die Orte, die hinter der letzten Stecknadel auf demselben Weg lagen.
Zoe ratterte die Namen herunter, las sie von der Landkarte ab, mit etwas Spielraum auf jeder Seite, falls er wie zuvor ein wenig von der Route abwich. „Wir sollten die Behörden in jeder dieser Städte anrufen. Sicherstellen, dass sie sich bewusst sind, was passieren könnte. Verschärfte Sicherheit und aufmerksame Polizisten, das könnte helfen, ihn zu schnappen.“
Beide betrachteten gemeinsam schweigend ihr Profil, hingen ihren eigenen Gedanken nach. Zoe versuchte, das Muster zu erkennen. Es gab nur drei Dinge, die für sie Sinn ergaben: die Tatsache, dass es alles Frauen waren, der Zeitablauf oder etwas, das mit den Orten zusammenhing. Aber was war es?
Sie dachte an die verstreuten bunten Bonbons zurück, die bei der Tankstelle überall auf dem Boden verteilt gewesen waren. Nicht weit von Lindas Leiche verstreut, auf dem Parkplatz, auf dem Weg, den sie zur Rückseite des Gebäudes und zurück genommen haben musste. Es war so seltsam. Es war durchaus möglich, dass irgendein Kind sie früher am Tag dort hatte fallen lassen, nachdem es dort mit seinen Eltern angehalten hatte, aber … irgendetwas daran störte sie.
Vielleicht war es einfach das Missverhältnis. Helle und fröhliche Bonbons an der Szene eines brutalen nächtlichen Mordes. Farbflecken auf einem ansonsten rot befleckten Boden. Vielleicht bedeutete es überhaupt nichts.
„Wir haben nicht viel“, seufzte sie schließlich. „Aber es ist ein Anfang. Nehmen wir noch dazu, dass er wahrscheinlich ein junger Mann ist, zumindest noch nicht im mittleren Alter, wenn wir die Statistiken über das Alter, in denen Serientäter mit ihren Taten anfangen, zugrunde legen, und wir haben es genug eingeengt, um etwas vorlegen zu können. Ich werde die Leichenbeschauer fragen, ob sie uns auf Basis ihrer Erkenntnisse genauere Zahlen geben können, und dann können wir wenigstens eine Beschreibung herausgeben, nach der man sich richten kann.“
Was überhaupt kein großer Trost war, dachte sie, wenn der Killer an diesem Abend ein weiteres Opfer fordern würde – und sie viel zu wenig Anhaltspunkte hatten, um es zu verhindern.