Kitabı oku: «Gesicht des Wahnsinns», sayfa 2
KAPITEL ZWEI
Lorna hielt ihre Hand über ihre Augen, um einen Schatten zu erzeugen, damit sie die späte Augustsonne nicht zu sehr blendete, und betrachtete die Aussicht vom Bergrücken. Am Horizont erhoben sich Windturbinen, in ihrer weißen Farbe schienen sie über den grünen Feldern, Sträuchern, versunkenen Tälern und Gewässern zu schweben. Bald würde das ganze Grün anfangen, orange oder braun zu werden, aber im Augenblick war es immer noch frisch und voller Leben. Eine Palette von Grün-, Blau- und Weiß-Tönen. Perfekt für eine Tageswanderung.
Lorna drehte sich um und blickte zurück auf den Weg, den sie hierher genommen hatte, und auf die Gebäude der Stadt hinter ihr. Sie war noch nahe genug, um einige von ihnen erkennen zu können: eine Kirche, ein Gemeindezentrum, die Bibliothek neben einem offenen Landstreifen, der Teil eines der Parks war. Es war ihr Zuhause. Sie hatte ihr ganzes Leben lang in dieser kleinen Stadt in Nebraska gelebt. Aufgrund der vielen Wanderwege in der Umgebung – und weil es hier alle Annehmlichkeiten gab, die man sich wünschen konnte – hatte sie nie daran gedacht, woanders hinzuziehen.
Sie richtete ihre Augen wieder auf den vor ihr liegenden Pfad und begann, weiterzulaufen. In ihrem Kopf plante sie ihre Route für den Rest des Tages: diesen Bergrücken wieder hinunter und über den nächsten hinweg, vorbei am Fuß der ersten Turbine – der komischerweise immer größer war, als sie erwartete – und weiter. Sie plante, an einer ihrer Lieblingsstellen Rast zu machen: einem See, der, wenn man die Augen ein wenig zusammenkniff, fast wie ein Herz geformt war. Dort würde sie sich eine Weile ausruhen, dann wieder zurück in Richtung Stadt und zu ihrem Auto abbiegen und schließlich rechtzeitig zum Abendessen wieder auf dem Heimweg sein.
Sie fragte sich, ob sie auf der Fahrt nach Hause beim Supermarkt anhalten und sich ein Fertiggericht besorgen sollte, um nicht kochen zu müssen. Das war eine gute Idee. Eine Belohnung für die Mühen des Tages.
Beschwingten Schrittes ging sie ihren geliebten Wanderweg entlang und trat damit in die unsichtbaren Fußstapfen so vieler anderer – darunter auch sie selbst, denn sie war schon hunderte Male hier gewesen –, die vor ihr hier entlang gegangen waren und ihr den Weg wiesen. Sie hatte das Glück, in der Nähe einiger Wanderwege zu leben, die ihr viel Schönheit und Abwechslung boten. Sie musste dafür nicht in die Walachei hinausfahren, wie es Menschen machen mussten, die anderswo lebten. Ihr sicheres Zuhause war nie weit entfernt.
Lorna atmete tief die frische Luft ein, als sie einen weiteren Bergrücken erklommen hatte. Sie drückte ihre Schultern durch und nahm die Hitze der Sonne darauf wahr. Unter ihrer Baseballkappe, die ihrem Kopf und ihrem Gesicht Schatten spendete, konnte sie diese Hitze allerdings genießen. Denn sie spürte eine leichte Brise, angenehm kühl auf ihren nackten Armen, die sie vor Beginn ihrer Wanderung gut mit Sonnencreme eingecremt hatte. Es war ein fast perfekter Tag. Vor ihrem geistigen Auge skizzierte sie den Ausblick, ein auf allen Seiten vertrauter Anblick, den sie mittlerweile aus der Erinnerung zeichnen konnte.
Sie sah nach unten und stolperte beinahe, fing sich aber gerade noch rechtzeitig. Sie wäre beinahe gegen einen anderen Wanderer gerempelt, der auf dem steinigen Weg direkt unterhalb des Bergrückens saß. Der Mann verarztete gerade seinen Knöchel und hielt dabei einen abgenutzten Wanderschuh in der Hand.
„Oh!“, rief sie und fand wieder Halt auf ihren Füßen. „Oh Gott, ich habe Sie gar nicht gesehen. Entschuldigen Sie bitte, ich wäre fast über Sie gefallen!“
Er lachte kurz und neigte den Kopf nach hinten, um sie unter dem Schirm seiner eigenen Mütze besser sehen zu können. „Oh, nein, tut mir leid – das ist meine Schuld. Ich hätte mich nicht in den toten Winkel setzen dürfen.“
„Alles in Ordnung bei Ihnen?“, fragte Lorna. Jetzt, wo er den Kopf zurückgelegt hatte, konnte sie sehen, dass er ziemlich attraktiv war. Sein Look war klassisch – er hatte eine ausgeprägte Nase, definierte Wangenknochen und einen männlichen Kiefer. Auch er war jung, wahrscheinlich Anfang dreißig. Ihr Herz flatterte ein wenig in ihrer Brust. Fast ganz unbewusst richtete sie sich gerade auf, drückte ihre Brust raus und wünschte sich innerlich, sie hätte sich stärker geschminkt.
„Oh, ja“, sagte er und machte eine beschwichtigende Handbewegung, als er wieder auf seinen Knöchel hinunterblickte. „Wirklich dumm. Nur eine kleine Verstauchung, glaube ich.“
„Was ist denn passiert?“, fragte Lorna. Sie hatte mit den Händen die Trägers ihres Rucksacks festgehalten, ließ sie nun aber los, woraufhin ihre Hände seitlich an ihrem Körper herunterfielen.
Er zeigte auf einen Stein, nicht weit vom Gipfel des Bergrückens entfernt. „Ich bin auf dem Weg nach unten umgeknickt, als ich an dem Stein da hängengeblieben bin. Ich habe mehr auf die Aussicht geachtet, als auf den Weg. Ein Anfängerfehler, richtig?“
Lorna lächelte. „Stimmt. Man sollte immer stehen bleiben, wenn man die Aussicht genießen will und wieder auf den Boden schauen, wenn man weitergeht.“
„Ich weiß, ich weiß“, sagte er und zuckte hilflos die Achseln. „Daraus lerne ich dann wohl, dass ich vorsichtig sein muss, wenn ich neue Wanderrouten ausprobiere.“
„Soll ich jemanden anrufen?“, fragte Lorna. Ihre Hände gingen zu ihrer Tasche, wo sie für den Notfall ihr Handy verstaut hatte. „Oder Ihnen erstmal hoch helfen?“
„Ich komme schon klar“, sagte er, griff nach seinem Wanderschuh und zog ihn wieder an. „Ich muss einfach wieder aufs Pferd steigen. Es wird bestimmt besser, sobald ich weiterlaufe.“
„Sind Sie sicher?“, sagte Lorna zögerlich und betrachtete ihn besorgt. Ihre Freunde sagten, sie neige dazu, sich wie eine Glucke zu verhalten. Sie konnte nicht anders. Wenn sie jemanden in Not sah und nicht helfen konnte, fühlte sie sich schrecklich.
„Ja, definitiv“, sagte er und band sich die Schnürsenkel zu. „Ganz ehrlich. Ich komme mir so blöd vor. Ist wohl mein Pech, dass mich ausgerechnet eine so hübsche Frau in dieser peinlichen Situation erwischt.“
Lorna Wangen wurden ein wenig rot, als sie das hörte. Er hatte sie hübsch genannt, aber er hatte es so ganz nebenbei erwähnt, als ob nichts dabei wäre. Und er schaute sie nicht einmal an, während er, aus eigener Kraft und mit einiger Mühe, wieder aufrichtete. Als wäre das einfach eine Tatsache, die keiner weiteren Diskussion oder eines Blickwechsels bedurfte, da sie für jeden offensichtlich war.
Sie ging ein Stück zurück, um ihm Platz zu machen, hielt ihm ganz unbewusst eine Hand hin, falls er sich abstützen wollte. Als er stand, hüpfte und bewegte er sich ein wenig und belastete den Knöchel ganz vorsichtig, bevor er sein Gewicht wieder gleichmäßig auf beide Füße verteilte. Trotz der Schmerzen sah seine Körperhaltung entspannt aus.
„Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist?“, fragte Lorna. Sie sah ihn skeptisch an und rechnete fast damit, dass er gleich stolpern und wieder zu Boden fallen würde.
Er versuchte erneute, den Fuß zu belasten und verlagerte sein Gewicht immer weiter auf ihn, bis es größtenteils darauf lag. „Scheint so“, sagte er und grinste sie an. „Aber ich werde kein Risiko eingehen. Ich geh einfach zurück zu meinem Auto und mache mich auf den Weg nach Hause.“
„Lass mich dich begleiten“, bot Lorna sofort an, weil es einerseits nett war und weil sie andererseits insgeheim noch etwas mehr Zeit mit diesem hübschen Fremden verbringen wollte. Wenn er aus der Gegend war, dann konnten sie vielleicht am Ende Nummern austauschen und überlegen, vielleicht eines Tages mal gemeinsam wandern zu gehen.
„Ich will Ihnen keine Umstände machen“, sagte er ebenso schnell. „Ich bin sicher, dass Sie eigene Pläne hatten, die ich damit kaputt machen würde. Sie sind doch gerade erst losgegangen, oder nicht?“
Für einen Moment stockte ihr der Atem. „Woher wussten Sie das?“
Er deutete auf den Weg, von dem sie gekommen war. „Sie sind aus der Richtung des Parkplatzes am Anfang des Weges gekommen. Genau wie ich.“
Sie nickte und lachte innerlich darüber, dass sie so paranoid war. „Ach ja“, sagte sie. „Aber das macht mir nichts aus. Ich würde Sie ungern hier allein zurückzulassen. Wenn ich Sie dann auf dem Rückweg wieder treffe, weil Sie es allein nicht zurückgeschafft haben, hätte ich ein ziemlich schlechtes Gewissen.“
Seine vollen, geschwungenen Lippen, die einen beinahe zum Küssen einluden, verzogen sich zu einem Lächeln. „Na gut“, sagte er. „Ich will ja nicht dafür verantwortlich sein, dass Sie sich schlecht fühlen. Gehen wir.“
Sie kehrten zusammen um, zurück in Richtung des Parkplatzes. Über ihnen huschte eine einzelne weiße Wolke über den blauen Himmel, von der sanften Brise angeschoben. „Es ist ein schöner Tag zum Wandern“, sagte Lorna.
„Auf jeden Fall“, lachte er. „Deshalb bin ich ja auch hier rausgekommen, solange es noch so schön ist. Es ist ja nicht immer so schön, wenn man mal frei hat.“
„Komisch eigentlich“, sagte Lorna. Sie ging neben dem Weg, damit er auf möglichst ebener Fläche laufen konnte. „Ich hätte gedacht, dass heute viele Leute unterwegs sein würden. Aber es ist nicht viel los.“
„Die meisten Leute sind wohl zu Hause“, sagte er und zeigte auf die Stadt in der Ferne. Man konnt erkennen, dass von einigen der näheren Grundstücke aus dünne, schwarze Rauchschwaden zum Himmel stiegen. „Die sind fleißig am Grillen.“
Lorna nickte und hielt sich die Hand über die Augen, um besser zur Stadt hinüberschauen zu können. „Stimmt wohl“, sagte sie. „Darauf bin ich gar nicht gekommen.“ Den Grund dafür fügte sie nicht hinzu: dass sie natürlich alleinstehend war und nicht viele Familienmitglieder hatte, mit denen sie Zeit verbringen konnte. Wandern war ihr Ding: Ruhe, Einsamkeit, Zeit zum Nachdenken.
Aber dieses Hobby mit jemand anderem zu teilen, erwies sich doch als gar nicht so schlecht.
„Ich persönlich wäre lieber jeden Tag Wandern“, sagte er. Sie blieb kurz ein paar Schritte hinter ihm zurück und er lächelte sie mit einem Augenzwinkern an. „Ich habe keine Freundin, die zu Hause auf mich warten würde, also verbringe ich so viel Zeit wie möglich an der frischen Luft. Ich wohne ein paar Städte weiter. Deshalb bin ich normalerweise nicht hier in der Gegend.“
„Ach ja?“, fragte Lorna, ihr Verstand ratterte. Er war ledig, ortsansässig und zweifellos attraktiv. Das kam ihr gerade recht. Sie fragte sich nur, wie sie das ansprechen sollte. Vielleicht sollte darauf warten, dass er es zuerst ansprach. Oder sie konnte beiläufig erwähnen, dass sie ihm gern die Wanderwege zeigen würde, wenn er es noch einmal versuchen wollte.
„Hey, vielleicht könnten Sie mir hier ja mal die Gegend zeigen“, sagte er und ließ ihr Herz höher schlagen. „Wäre das in Ordnung? Also, wenn mein Knöchel wieder fit ist.“
„Na klar“, sagte sie. Sie traute sich nicht, ihn anzusehen, damit er nicht sah, dass sie rot im Gesicht geworden war. „Das mache ich gerne.“
„Ich freue mich, dass wir uns heute getroffen haben, Lorna“, sagte er – und dem stimmte sie aus ganzem Herzen zu.
Und dann stolperte sie fast, als ihr auffiel, dass er sie mit Namen angesprochen hatte.
Wann hatte sie ihm ihren Namen gesagt?
Sie wollte gerade den Mund aufmachen, um zu fragen, ob sie sich schon einmal irgendwo getroffen hatten. Denn woher hätte er sonst wissen können, wer sie war? Aber in genau diesem Moment traf sie etwas Hartes auf den Hinterkopf, an einer empfindlichen Stelle. der schmerzhafte Einschlag versetzte ihr Gehirn in ihrem Schädel in Vibration.
Lorna öffnete die Augen und stellte fest, dass sie auf dem Boden lag. Dabei hatte sie doch nur kurz geblinzelt. Ein stechender Schmerz pochte in ihrem Kopf. Und als sie angeschlagen nach oben griff, um zu ertasten, ob sie blutete, sah sie ihn. Er stand nun über ihr – und von dem angeschlagenen Knöchel war keine Spur mehr. Er stand aufrecht und wirkte sehr groß, seine Körperhaltung strahlte Stärke und Unnachgiebigkeit aus. In seiner linken Hand hielt er einen lederner Schlagstock und sie begriff, dass die Schmerzen an ihrem Kopf daher gekommen sein mussten.
„Wa…?“, versuchte sie zu fragen. Trotz der Schmerzen war sie schläfrig, alles fühlte sich dumpf an.
„Nicht bewegen“, befahl er ihr. Seine Tonfall war jetzt schroff, wie ein Stück Schiefer.
Es war nicht so, als ob sie ihm gehorchen wollte, aber sie konnte auch nicht wirklich etwas tun. Lorna gab es auf, in ihrem Haar nach der Quelle ihres Schmerzes zu tasten und versuchte stattdessen, sich umzudrehen. Ein mühsamer Prozess, der sie nach Luft schnappen ließ. Sie hielt inne, während ihr Kopf weiter brummte.
Er kam hinter einigen niedrigen Sträucher hervor und war wieder in ihrem Blickfeld. Jetzt hielt er allerdings etwas anderes in der Hand. Es war länglich und schimmerte silbern in der Sonne. Lorna versuchte gegen die Übelkeit anzukämpfen, die sie überkam, als sie sich umgedreht hatte und erkannt hatte, was es sein musste: eine Art Schwert, mit einer leichten Krümmung zum Ende der Klinge hin.
„Ich habe gesagt“, knurrte er, kam näher, stellte sich erneut über sie und warf dabei einen Schatten auf sie, „dass du dich nicht bewegen sollst.“
Lorna sah auf. Hinter seinem Kopf konnte sie die Sonne sehen, die sein Gesicht in einen schwarzen Schatten tauchte. Er hob die Machete über seinen Kopf und bewegte seine Füße ein wenig hin und her, als ob er auf der Suche nach der richtigen Haltung war. Lorna streckte eine geballte Faust aus und versuchte, wegzukriechen, sich zu bewegen, irgendetwas zu tun, was ihr die Flucht ermöglichen würde.
Die Machete kam mit einem Zischen auf sie zu und Lorna schloss die Augen, um sie nicht kommen sehen zu müssen.
KAPITEL DREI
Es ist alles gut, versuchte Zoe sich selbst zu erinnern, während sie zwischen Shelleys und Johns lachenden Gesichtern hin und her schaute und sich – im Versuch, sie nachzuahmen – ebenfalls ein Lächeln aufs Gesicht zwang. Ihr gegenüber glättete Harry, Shelleys Ehemann, seine Krawatte und freute sich darüber, einen guten Witz gemacht zu haben. Es war eine Geste, die so sehr der von John ähnelte, dass Zoe beinahe zweimal hinsehen musste. Warum mussten Krawatten überhaupt ständig glattgestrichen werden?
„Dieses Date war eine großartige Idee, Shelley“, sagte John, nahm sein Glas Wein und prostete ihr zu, bevor er einen Schluck trank. Er hatte sich erneut für ein blaues gestreiftes Hemd zum Abendessen entschieden. Zoe war aufgefallen, dass er davon eine ganze Menge zu besitzen schien.
„Das war es wirklich“, stimmte Harry zu. „Es ist schön, deine Kollegin ein bisschen besser kennenzulernen.“ Er lächelte Zoe sanft zu, als wolle er sie wissen lassen, dass alles vergeben sei. Dadurch – und durch seine unordentlichen, braunen Haare, die immer ein wenig wild wirkten, machte er einen sehr freundlichen Eindruck.
Zoe wurde ein wenig rot im Gesicht, erwiderte sein Lächeln aber. Bei ihrem letzten Abendessen mit Harry und Shelley, als die beiden Zoe zu sich nach Hause eingeladen hatten, war sie panisch aus dem Haus gestürmt. Denn sie hatte das Gefühl gehabt, unter der Last von Shelleys perfektem Leben zu ersticken.
Aber das war noch davor gewesen. Bevor Dr. Monk ihr geholfen hatte, bevor sie die Kontrolle über die Zahlen erlangt hatte, die bis dahin jeden einzelnen Moment ihres Lebens geprägt hatten. Bevor sie sich jemals hatte vorstellen können, mit drei anderen Menschen in einem gut gefüllten Restaurant zu sitzen, in dem die Gespräche einander überkreuzten und überlappten, und sie in der Lage sein musste, mit all dem Schritt zu halten.
„Ihre Hauptgerichte“, kündigte der Kellner an, als er mit vier Tellern, die er auf seinem Arm und auf seiner Hand balancierte, hinter Zoe erschien. Es gab ein allgemeines Gemurmel der freudigen Zustimmung am Tisch, alle nahmen ihre Hände und Ellbogen zur Seite und machten ihm Platz.
Zoe blickte auf ihren Teller hinunter, als er vor ihr platziert wurde, und ihre Augen huschten zu dem Salat an der Seite. Sie zählte fünf Blätter Eisbergsalat, drei Blätter Römersalat, zwei Kirschtomaten, ein Viertel einer in Scheiben geschnittenen Paprika –
Sie schloss kurz die Augen und fand gedanklich zu ihrer einsamen Insel, auf der nichts weiter zu hören war, als das sanfte Plätschern der Wellen. Unter dem Tisch nahm John ihre Hand und drückte sie. Sie öffnete ihre Augen, um ihn anzulächeln und atmete wieder normal. Es war ihr gelungen, die Zahlen wieder in den Hintergrund zu rücken, dorthin, wo sie hingehörten. John kannte ihr Geheimnis nicht einmal – und doch schien er immer instinktiv zu wissen, wann sie seine Unterstützung brauchte.
„Sieht köstlich aus“, sagte Zoe, nachdem sie einen Blick auf die Teller der anderen geworfen hatte.
Sie vernahm zustimmende Geräusch, gefolgt von Geklapper, als sie alle zu ihrem Besteck griffen und zu essen begannen. Für Zoe war es einerseits ein Segen, dass das Essen nun da war, aber andererseits auch nicht. Es bot eine Ausrede, nicht ständig Gespräche führen zu müssen, aber das Schweigen am Tisch empfand sie andererseits auch als unangenehm.
Ehrlich gesagt fühlte Zoe sich am wohlsten, wenn um sie herum vollkommene Stille herrschte. Aber in dieser Art von Stille spürte sie die sozialen Erwartungen der anderen, den Druck, die Stille mit etwas zu füllen. Sie blickte nervös auf, traf Johns Blick und er grinste sie mit seiner Gabel im Mund an. Sie griff nach ihrem Glas Wein, trank einen Schluck sagte sich selbst beruhigend, dass alles so war, wie es sein sollte.
Der Hauptgang verstrich reibungslos – mit ein paar Gesprächsfetzen hier und da, die scheinbar reibungslos wieder hinter den allgemeinen Genuss des Essens zurückfielen. Zoe blieb wachsam, sie schaute sich in regelmäßigen Abständen am Tisch um, auf der Suche nach Anzeichen dafür, wie sie sich verhalten sollte. Dass half ihr, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren und verdrängte die Zahlen aus ihrer Wahrnehmung. Sie war tatsächlich anwesend und Teil der Gemeinschaft, anstatt wie früher nur vom Rand aus zuzusehen und sich überwältigt zu fühlen.
„Also, John, du bist doch Anwalt, oder?“, fragte Harry und schaufelte sich seinen letzten Bissen Fisch in den Mund.
John nickte und schluckte hastig sein Essen herunter, bevor er sprach. „Ich bin im Immobilienrecht tätig. Immobilienerbschaft, Immobiliengeschäfte, Konflikte um Grundstücksgrenzen – solche Dinge.“
„Dann hast du ja sicher viel zu tun“, kommentierte Harry. Zoe hatte diese Art von Smalltalk nie verstanden, und tat es auch jetzt nicht. Warum fragte Harry nicht, was er wirklich wissen wollte? Stattdessen mussten sie alle ihre wirkliche Botschaft in höfliche, vage Fragen verpacken, im Versuch, nach einer Antwort zu fischen. Zoe war froh, dass sie zumindest mit John und Shelley so gut klarkam, dass die beiden sowas von ihr nicht erwarteten.
„Ja, es hält mich auf Trab“, antwortete John und deutete ein Lächeln auf seinen Lippen an. Er legte kurz die Gabel ab, um mit einer Hand durch sein kurz geschnittenes braunes Haar zu fahren, eine seiner Angewohnheiten. Zoe sah, wie sich die Muskeln in seiner Schulter und in seinem Arm unter seinem Hemd anspannten und ermahnte sich, sich zu konzentrieren. „Ich habe gerade einen sehr interessanten Fall abgeschlossen. Zwei Brüder, die sich um den Nachlass ihres verstorbenen Vaters gestritten haben. Die beiden hätten sich wegen ein paar Metern mehr oder weniger fast gegenseitig gekreuzigt. Sie konnten den Wunsch ihres Vaters einfach nicht akzeptieren.“
Shelley schüttelte klagend den Kopf. „Ich verstehe nicht, wie Menschen so herzlos sein können“, sagte sie. „Die Familie sollte doch über allem stehen. Sich so zu zerstreiten, ist doch nicht okay.“
„Familie ist nicht jedem so wichtig“, sagte Zoe leise. „Manche Menschen pfeifen auf ihre Blutsverwandtschaft.“
Shelley warf ihr einen erschrockenen und entschuldigenden Blick zu. Offenbar hatte sie in für einen Moment Zoes problematische Beziehung zu ihrer eigenen Mutter – oder das Fehlen einer Beziehung zu ihr – vergessen. „Das stimmt“, sagte sie. „Klar. Es fällt mir einfach nur schwer, mir vorzustellen, mich so gegen meine eigene Familie zu stellen.“
„Das liegt daran, dass du so ein großes Herz hast“, sagte Harry und drückte die Hand seiner Frau, die auf dem Tisch lag. Sie sahen sich einen Moment lang liebevoll an und Zoes eigene Augen wanderte zu John, der sie zärtlich ansah.
„Wollen wir noch was zum Nachtisch bestellen?“, fragte John und legte Messer und Gabel ordentlich auf dem leeren Teller vor ihm ab.
Harry und Shelley tauschten einen vielsagenden Blick aus, bevor sie gleichzeitig nickten. „Wieso nicht?“, sagte Harry. „Ich versuche mal, den Kellner zu holen, damit wir nochmal eine Karte bekommen.“
„Sehr gut“, antwortete Shelley und legte ihre Serviette neben ihrem Teller auf den Tisch. „In der Zwischenzeit gehen Zoe und ich mal aufs Klo.“
Zoe blinzelte. „Ich muss aber gar nicht“, sagte sie verwirrt.
Shelley sah sie frech an, beugte sich leicht zu ihr hinunter und murmelte Zoe ins Ohr: „Du musst auch nicht müssen. Aber ich muss. Und du kommst mit.“
„Warum?“, fragte Zoe und blinzelte wieder.
„Damit ich Gesellschaft habe“, sagte Shelley. Dann, mit einer ungeduldigen Geste und einem kleinen Anflug von Frustration: „Um über unsere Männer zu tratschen, wo sie uns nicht hören können. Komm schon.“
Zoe war sich immer noch nicht ganz sicher, ob sie den Grund verstand, aber sie stand trotzdem auf und folgte ihrer Partnerin zögerlich. Nicht, weil sie ihr nicht folgen wollte – sie vertraute Shelley genug, um zu tun, was sie wollte –, sondern weil sie vergessen hatte, dass sie Absätze trug – und das fremde Gefühl an ihren Füßen brachte sie nach dem Aufstehen für einen Moment aus dem Gleichgewicht. Shelley lief derweil selbstbewusst in ihren Stöckelschuhen voran, ihre kurvigen Hüften schwangen graziös von einer Seite zur anderen.
„Gehen Frauen deshalb immer gemeinsam auf die Toilette?“, fragte Zoe, als sie die Tür aufstieß und drinnen ein paar andere Frauen vorfand, die sich die Hände wuschen und sich in den Spiegeln über den Waschbecken begutachteten.
„Ja“, sagte Shelley lachend. „Und um sich gegenseitig beizustehen und Gesellschaft zu leisten. Weil es schön ist. Und weil Männer in Rudeln jagen, also warum sollten wir das nicht auch tun?“
Damit hatte Shelley nicht ganz unrecht, das musste Zoe zugeben. Sie verkniff sich ein Lächeln, während sie sich gegen den unbesetzten, hochgeklappten Wickeltisch lehnte – das war der Platz, an dem sie in dem kleinen Raum am wenigsten im Weg stand. Sie erhaschte ihr eigenes Spiegelbild in einem Ganzkörperspiegel neben der Tür und erkannte sich für einen Moment selbst nicht. Dr. Applewhite hatte ihre Augen betont, und ihre Figur – die sie oft als jungenhaft empfand, ohne besonders viel Hüfte oder nennenswertes Dekoltée – erschien durch den Schnitt des Kleides deutlich kurviger. Sogar ihr kurzer Haarschnitt wirkte heute Abend irgendwie weicher und weiblicher. Abgerundet von den Ohrringen mit roten Steinen, die sie trug und die sich schwer und ungewohnt anfühlten.
Eine nach der anderen machten die Frauen sich hübsch und gingen dann wieder zurück ins Restaurant; und als Shelley aus ihrer Kabine kam, waren die beiden schließlich allein.
Beim Händewaschen sah Shelley Zoe auf eine Art und Weise an, die ihr signalisierten, dass sie näher kommen sollte, damit Shelley das Gespräch beginnen konnte, auf das sie offensichtlich aus war. „Du machst das wirklich gut“, sagte sie und drehte den Wasserhahn ab.
„Tue ich das?“
Shelley schaute seitlich zu ihr, während sie ihre Hände mit Papiertüchern trocknete. „Das weißt du doch. Aber ich musste es trotzdem ansprechen. Ich bin stolz auf dich. Als wir uns kennengelernt haben, hätte ich nie gedacht, dass du zu so etwas in der Lage wärst.“
Zoe musste sich innerlich erneut eingestehen, dass Shelley recht hatte. „Ich hätte nie gedacht, dass ich es wollen, geschweige denn können würde.“
„Dann bin ich ja froh, dass wir dich davon überzeugen konnten“, sagte Shelley, ging von den Papiertüchern weg und stellte sich vor sie. „Du siehst wunderschön aus, Zoe. Dieser neue Look gefällt mir richtig gut.“
Zoe lächelte und spürte eine ungewohnte Röte auf ihren Wangen. „Es hat mich eine ganze Menge Übung gekostet“, sagte sie. Sie war noch nicht ganz so weit, zugeben zu können, dass sie auch Hilfe benötigt hatte. Sie sah sich Shelley an: sie war immer perfekt geschminkt und elegant – und auch heute war da keine Ausnahme. Ihr blondes Haar war etwas eleganter als sonst zusammengebunden, mit kompliziert aussehenden Windungen und Wicklungen und der hellrosane Lidschatten auf ihren Augenlidern passte gut zu dem Stoff ihres schlichten, aber figurbetonten Kleides. Sie sah aus, nun ja, wie sie immer aussah: für den Anlass perfekt gekleidet.
„Die Übung hat sich gelohnt“, sagte Shelley und griff nach ihrer Handtasche, die sie zuvor neben dem Waschbecken abgelegt hatte.
Zoe spürte, dass sie den richtigen Moment verpasste hatte, um das Kompliment zurückzugeben und geriet deshalb beinahe in Panik, beschloss dann aber, es trotzdem zu sagen. „Du siehst auch sehr schön aus.“
Shelley belohnte sie mit einem strahlenden Lächeln und betrachtete sich selbst im Spiegel, bevor sie sich wieder Zoe zuwandte. „Ich halte mich ganz gut für eine Mutter, was?“
Zoe wollte ihr gerade sagen, dass das noch untertrieben war – und hoffte dann, über John sprechen zu können und Shelley zu sagen, dass sie nach dem Essen noch länger bleiben wollte, um allein mit ihm zu reden –, aber fast zeitgleich damit war ein kurzes Klingeln im Raum zu hören, das sie unterbrach.
Zoe und Shelley tauschten einen Blick aus. Das Geräusch war aus ihrer beider Handtaschen gekommen – Zoe hatte sich eine Tasche von Dr. Applewhite geliehen, die zu ihrem Kleid passte. Es waren ihre Handys, die klingelten. Es gab nur zwei mögliche Erklärungen dafür, dass sie beide zur gleichen Zeit eine Nachricht erhalten hatte. Die erste war, dass es eine Art staatlicher oder landesweiter Notfall war und sie vom Präsidenten benachrichtigt wurden.
Die zweite war, dass sie zu einem Fall hinzugezogen werden sollten.
Zoe betete innerlich kurz dafür, dass es sich um einen Notfall handelte, der ihr Essen nicht unterbrechen würde. Aber natürlich glaubte sie gar nicht an Gott – und jeder Gott, der von einem Ungläubigen angebetet wurde, würde dieses Gebet wohl kaum erhören. Sie fischten ihre Telefone aus ihren Taschen und lasen beide die gleiche Nachricht: Rufen Sie so schnell wie möglich SAIC Maitland für eine Lagebesprechung zurück.
Shelley seufzte. „Dieser Abend war wohl etwas zu perfekt, um wahr zu sein.“
Zoe biss sich auf die Lippe und dachte an John, der da draußen auf sie wartete. Und sie fragte sich, wie viele Tage es wohl diesmal dauern würde, bis sie ihn wiedersehen würde.