Kitabı oku: «Gesicht des Wahnsinns», sayfa 3
KAPITEL VIER
Zoe zögerte vor dem großen, quadratischen Betonklotz, dem J. Edgar-Hoover-Building, für einen Moment. Andere fanden es hässlich, sahen in ihm ein Stück Architektur, das mehr an das Russland des Kalten Krieges erinnerte, denn an amerikanische ‚Greatness‘, also Größe. Zoe hingegen schätzte seine geraden Linien und dass es innen und außen sehr ähnlich aussah – trotzdem wünschte sie sich in diesem Moment auch, nicht hier sein zu müssen.
„Das wird ein Spaß“, murmelte Shelley und zog ihre dünne Jacke etwas enger über ihr Kleid.
Zoe, die nicht einmal eine Jacke mitgenommen hatte, war geneigt, dem zuzustimmen. Sie hätte jetzt gerade ihr Gespräch mit John haben sollen, über die Zukunft ihrer Beziehung. Und vielleicht hätten sie dann Entscheidungen getroffen, die sie noch sehr lange Zeit glücklich gemacht hätten. Stattdessen waren sie und Shelley kurz davor, in Abendgarderobe und Make-up durch ein ganzes Gebäude voller Kollegen zu gehen, was Zoes Vorstellung der Hölle schon recht nah kam.
Sie waren gerade erst durch die Türen hereingekommen und warteten noch auf den Aufzug, als bereits die erste Bemerkung gemacht wurde. Johnson, ein Agent, der ein echter Klugscheißer war, stolzierte den Korridor hinunter auf sie zu. „Haben ihr ein heißes Date, Ladies?“, fragte er und deutete mit einer Pistolengeste auf sie. „Schön zu sehen, dass ihr zwei endlich euren Trieben nachgebt.“
Shelley rollte mit den Augen. „Ich bin glücklich verheiratet, Johnson. Mit einem Mann.“
„Oh“, sagte Johnson und tat so, als wäre er geschockt. „So eine Homophobie hätte ich vom besten Frauenduo des FBI ja nicht erwartet.“
„Ich bin nicht homophob, ich bin nur …“ Shelley seufzte und schloss für einen Moment die Augen, bevor sie in einem ruhigeren Ton weitersprach. „Ich bin nicht lesbisch. Und Johnson? Tu mir einen Gefallen und leck mich.“
Zoe lächelte nur halb. Es war zwar nicht lustig, von ihren Kollegen verarscht zu werden, vor allem, da sie die Hälfte der Anspielungen und Untertöne nicht verstand, aber es war irgendwie lustig zu sehen, wie Shelley auch mal durch etwas aus der Fassung gebracht wurde. Und obwohl Zoe natürlich nicht wollte, dass Shelley sich schlecht fühlte, war es eine nette Erinnerung daran, dass sie beide menschlich waren.
Zurufe und Kommentare über alles an ihnen, von ihren Schuhen bis hin zu ihren Haaren, zogen sie auf dem ganzen Weg wie ein Kondensstreifen hinter einem Paar Düsenjets hinter sich her, bis sie es endlich zur Tür von SAIC Maitlands Büro geschafft hatten. Shelley nahm sich einen Moment Zeit, um sich gerade hinzustellen und eine lose Haarsträhne von ihrer Schulter zu streichen. Dann klopfte sie an.
„Herein.“
Die dröhnende Stimme des Mannes trug ebenso sehr zu seiner einschüchternden Präsenz bei wie seine Größe. Leo Maitland war mit seinen eins neunzig nicht einfach nur groß, sondern er war auch breit und hatte einen Bizeps von achtunddreißig Zentimeter Umfang, nicht gerade typisch für sein Alter. Seine aufrechte, militärische Haltung war immer noch vorhanden, obwohl er nicht mehr beim Militär war. Das ergraute Haar an seinen Schläfen war der einzige Hinweis darauf, dass er Mitte vierzig war.
„Sir“, sagten Zoe und Shelley fast einstimmig. Er war derjenige, der sie hierher gerufen hatte. Sie wussten, dass es nicht nötig war, das Gespräch mit unnötigem Smalltalk zu beginnen. Der Special Agent, der die Zweigstelle des FBIs in Washington, D.C. leitete, war ein vielbeschäftigter Mann, seine Zeit war kostbar.
SAIC Maitland überflog noch für einen Moment einige Papiere und runzelte konzentriert die Stirn, bevor er sie mit Schwung unterschrieb und beiseitelegte. „Agents Prime und Rose“, sagte er und kramte in einer übervollen Ablage auf seinem Schreibtisch herum, um eine Akte herauszuholen. „Ich glaube, dass Ihnen dieser Fall gefallen wird.“
Zoe runzelte die Stirn. Ein schöner Mordfall? Das schien unwahrscheinlich, es sei denn, der Mörder erstickte seine Opfer in Zuckerwatte und für die Lösung des Falls waren ausgiebige Geschmacksproben nötig. „Sir?“, fragte sie zweifelnd.
„Das war sarkastisch gemeint, Agent Prime“, sagte er ohne zu lächeln. Er hielt die Akte mit ausgestrecktem Arm von sich weg. „Nimmt mir das einer von Ihnen jetzt ab, oder sind Sie beide gelähmt?“
Shelley sprang nach vorn und nahm ihm die Akte aus der Hand. „Entschuldigung, Sir.“
„Zu dem Fall. Sie fliegen in vier Stunden“, sagte er und fuhr fort, als wäre das eine eher nebensächliche Information gewesen. „Ihre Tickets sind in der Akte. Schneller konnten wir Sie nicht nach Nebraska bringen.“
Das Wort traf Zoe wie ein Blitz. Nebraska. Ihr Geburtsstaat. Nicht, dass das etwas zu sagen hatte – Nebraska war groß. Es war nicht besonders wahrscheinlich, dass sie in der Nähe ihres Geburtsortes sein würden.
„Innerhalb der letzten zwei Tage wurden zwei Frauen enthauptet aufgefunden. Klingt, als würde es sich um einen Serienmord handeln, deshalb brauchen wir Sie so schnell wie möglich vor Ort. Entschuldigen Sie den Nachtflug, aber Sie werden am frühen Morgen in der Ortschaft ankommen und können dann sofort nach Ihrer Ankunft mit der örtlichen Polizei in Kontakt treten“, fuhr Maitland fort. „Wir haben zwei verschiedene Tatorte in zwei verschiedenen Städten, also ist es möglich, dass der Täter auf Reisen ist. Sie müssen ihn so schnell wie möglich aufhalten. Denn wir wollen natürlich vermeiden, dass er den Staat verlässt und verschwindet.“
Shelley blätterte in der Akte und einige der Fotos darin ließen sie zusammenzucken. Zoe schaute ihr über die Schulter und konnte eine ganze Menge Blut sehen, bevor Shelley umblätterte.
„Wir werden unser Bestes versuchen, Sir“, sagte Shelley mit leicht abwesender Stimme, sie konzentrierte sich bereits auf die Akte.
„Versuchen Sie es nicht nur“, sagte Maitland düster. „Die Presse wird der Sache viel Aufmerksamkeit widmen. Lösen Sie den Fall. Bevor die ganze Sache zu einem Zirkus wird und ich unserem Chef erklären muss, warum wir eine schwindelerregende Anzahl von Leichen vor den Kameras der Welt haben.“
***
Zoe versuchte, ihr Handy zwischen ihrem Kopf und ihrer Schulter einzuklemmen, sodass sie beim Telefonieren ihre Klamotten zusammenlegen konnte. „Es tut mir wirklich leid“, sagte sie. „Es sieht so aus, als ob wir mindestens ein paar Tage unterwegs sind.“
„Ich wusste schon bei unserem ersten Date, worauf ich mich einlasse“, sagte Johns Stimme aus dem Hörer. Er klang entspannt und amüsiert. „Es ist in Ordnung. Rette du die Welt. Ich bin hier, wenn du zurückkommst.“
Zoe kaute abwesend auf ihrer Lippe herum, legte ihre letzten Sachen zusammen und ging schnell ins Badezimmer, um ihre Kulturtasche zu holen. Wegen der Fliesen im Bad klang ihre Stimme nun hallend. „Ich hasse es, dass ich unsere Dates immer wieder abbrechen muss“, sagte sie. „Heute Abend hat Spaß gemacht.“
„Das hat es“, sagte John, dann fügte er mit noch etwas sanfterer Stimme hinzu: „Ich hatte mich darauf gefreut, dich nach Hause zu fahren. Dieses Kleid, was du anhattest – das hat mir sehr gefallen.“
Zoe warf einen Blick auf den roten Stoff, der jetzt auf ihrem Bett lag, und ein kleiner Schauer überkam sie, als sie seine Worte hörte. Sie warf die Kosmetikartikel in ihren Koffer – und alles, was sonst noch fehlte, hinterher. „Vielleicht ziehe ich es nochmal für dich an, wenn ich wieder da bin.“ Schuhe – sie öffnete die Tür ihres Schranks und holte ein Paar Ersatzschuhe heraus, nur für den Fall, dass die Schuhe, die sie gerade trug, zu unbequem wurden.
„Das wäre toll.“ Johns Tonfall änderte sich erneut, diesmal wurde er ernster. „Eigentlich fände ich es schön, wenn wir mal reden könnten, wenn du wieder zu Hause bist.“
Zoe zögerte. Reden. Was bedeutete das? Redeten sie nicht jetzt gerade?
War sie jetzt in der Situation, die sie nur aus Filmen kannte – das gefürchtete Gespräch – der Moment der Trennung?
Nein, sicher war sie nur paranoid. John war ein erwachsener Mann. Er scheute sich nicht, seine Gefühle anzusprechen und er schien bisher nicht unzufrieden gewesen zu sein.
Natürlich hatte er sich nicht gerade darüber gefreut, dass sie wieder irgendwo hin musste, jetzt, da die beiden sich immer näher kamen.
„Okay“, zwang Zoe sich zu sagen. Sie wollte nicht, dass sich das Schweigen noch länger hinzog. „Klar. Das sollten wir.“
„Dann ruf mich an, wenn du zurück bist“, sagte John. Er machte auch eine Pause. „Zoe?“
„Ja?“
Er machte erneut eine Pause, so würde er seine Worte sehr genau abwägen. „Ich wünsche dir einen guten Flug.“
Zoe starrte auf das Handy in ihrer Hand, das Display war nun dunkel, das Gespräch beendet. Für einen kurzen Moment dachte sie, es war absurd, dass er es für nötig hielt, sie dazu aufzufordern, ihn nach ihrer Rückkehr anzurufen. Warum hätte sie das denn nicht tun sollen? Warum hätte sie sich absichtlich in so eine schreckliche Situation bringen sollen?
Dann ermahnte sie sich gedanklich selbst: Sie hatte doch gar keine Ahnung, worüber er mit ihr reden wollte. Nur, weil sie dank ihrer Fähigkeiten und ihrer Art für alle anderen anders und seltsam erschien und sie bereits mit Ablehnung rechnete, hieß das nicht, dass er ihr auch eine Abfuhr erteilen würde. Sie dachte an Dr. Monk und an das, was sie sagen würde – wahrscheinlich etwas dazu, dass man die Gedanken anderer Menschen nicht lesen konnte – und versuchte, ihren Kopf frei zu bekommen.
Ein klimperndes Geräusch erregte ihre Aufmerksamkeit, als sie einen Wäschesack für schmutzige Kleidung herausholte, den sie in den Koffer packen wollte. Zoes Hände wanderten zu ihren Ohren und ihr wurde klar, dass sie in all der Eile und Verwirrung der Vorbereitung vergessen hatte, ihre Ohrringe abzunehmen.
Langsam ging sie zum Badezimmerspiegel. Es war das erste Mal seit dem Verlassen des Büros von SAIC Maitland, dass sie für einen kurzen Moment innehielt. Der Eyeliner auf ihren Augen war eine Erinnerung daran, wie die Nacht hätte verlaufen sollen. Mit Bedauern griff Zoe nach ihrer Gesichtsreinigung und einem Waschlappen. Die Nacht war vorbei, und es hatte keinen Sinn, zu versuchen, sich an einem Überbleibsel davon festzuklammern, das spätestens im Flugzeug ihr Gesicht verschmieren würde.
***
Zoe rieb sich die Augen und gähnte. Es begann allmählich die Dämmerung. Nicht, dass sie das sehen konnte, denn sie hatten die Blende am Fenster heruntergezogen und die Welt jenseits des Flugzeugs der Fantasie überlassen, um in der Dunkelheit noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen.
Sie hatte sich reisetauglich anziehen, ihren Koffer packen, den Katzenfutter-Spender auffüllen und einige Termine umzuorganisieren müssen. Vier Stunden hatten gerade noch gereicht, dann auch noch Shelley am Hauptquartier abzuholen und rechtzeitig zum Flughafen zu kommen. Im Flugzeug hatten sie sich darauf geeinigt, dass sie sich etwas ausruhen müssten, damit sie bei der Landung auch noch klar denken konnten.
„Okay“, sagte sie. „Also, nachdem wir gelandet sind holen wir einen bereits bezahlten Mietwagen ab?“
„Ja“, bestätigte Shelley und blätterte in den Unterlagen, die ihnen zur Verfügung gestellt worden waren. „Das Präsidium hat tatsächlich für eine ‚Priority-Abholung‘ bezahlt, sodass es nicht lange dauern sollte, bis wir uns auf den Weg machen können.“
„Und wohin dann?“
„Hier steht Broken Ridge“, sagte Shelley und ging bereits zur nächsten Seite über.
Zoes Herz klopfte in ihrer Brust. „Broken Ridge?“, antwortete sie und hoffte wider Erwarten, etwas Falsches gehört zu haben.
„Ja, das ist etwa eine Stunde Fahrt vom Flughafen entfernt“, sagte Shelley und warf einen schnellen Blick auf die Karte. „Warum?“, sagte sie.
Zoe schluckte. „Nur so“, sagte sie.
Das war nicht ganz die Wahrheit. Die Wahrheit war etwas, das sie nicht zugeben wollte – und zwar, dass die Stadt Broken Ridge in der Nähe des Ortes lag, in dem Zoe aufgewachsen war. So nah, dass sie den Ort kannte und bildlich vor Augen hatte. Sie wusste, dass es nicht weit davon entfernt einen Windenergiepark gab, der in Zoes Kindheit gebaut worden war.
Gedanken und Erinnerungen an Broken Ridge führten unweigerlich zu Gedanken und Erinnerungen an ihre Heimat. Nicht, dass der Ort, an dem sie aufgewachsen war, es jemals verdient hatte, Heimat genannt zu werden. Teufelskind, konnte sie ihre Mutter förmlich sagen hören, genauso klar und deutlich wie damals, als sie acht Jahre alt gewesen war und neben ihrem Bett kauernd die Hände zu einem vorgetäuschten Gebet falten musste.
Zoe atmete tief durch und zählte dabei die Sekunden. Drei Sekunden einatmen, vier Sekunden ausatmen. Einen Moment lang hatte sie fast das Gefühl, die Wärme einer tropischen Sonne auf ihrem Gesicht zu spüren, als sie ihre Augen schloss und sowohl die einengende Umgebung des Flugzeugs als auch die Erinnerungen, die sie bedrückten, ausblendete.
Sie öffnete die Augen, wieder konzentriert und ruhig. „Was wissen wir über die Opfer?“, fragte sie.
„Hier“, sagte Shelley und reichte ihr ein einzelnes Blatt Papier. Sie behielt ein weiteres für sich und begann, laut vorzulesen. „Das erste Opfer wurde anhand des Ausweises, das es in seiner Tasche trug, als Michelle Young identifiziert. Es konnten anhand des Gesichtes identifizieren werden, da der Kopf fehlte.“
Zoe fluchte leise. „Und sie haben ihn immer noch nicht?“
Shelley schüttelte den Kopf. „Aber es gibt ein relativ aktuelles Foto. Hier.“ Sie hielt ein Bild einer lächelnden Blondine hoch, die direkt in die Kamera blickte. Jemand hatte einen Arm um ihre Schultern gelegt, wobei der Besitzer des Arms ausgeschnitten worden war. „Sieht aus, als wäre der Kopf mit etwas Scharfem abgetrennt worden, möglicherweise mit einer Art Schwert. Die erste Untersuchung der Schnittstellen lässt auf eine lange Klinge schließen, möglicherweise eine Machete. Sie war Anfang dreißig, eins vierundsiebzig, zweiundsiebzig Kilo. Keine Tätowierungen. Hat als Kassiererin in einer Bank gearbeitet. Sie war diejenige, die aus dem Nachbarort kam – Easternville.“
Zoe folgte ihrem Zeichen, als Shelley nach oben sah, fertig mit den Details ihres Berichts. „Ich habe Lorna Troye“, las sie vor. „Ihr Kopf hat auch gefehlt. Zweiunddreißig Jahre alt, eins siebzig, achtundfünfzig Kilo. Offenbar war sie freiberufliche Illustratorin. Hier ist ein Foto.“
Die beiden betrachteten das Bild von Lorna, das von der Profilseite ihrer eigenen Website stammte. Sie lächelte freundlich in die Kamera, obwohl sie darauf eine seriöse und professionelle Pose eingenommen hatte. In ihrer Hand hielt sie einen Bleistift. Darunter lag ein Skizzenblock – ganz so, als ob sie jederzeit bereit wäre, mit der Arbeit zu beginnen.
Zoe und Shelley schwiegen sich einen Moment lang an, während sie sich die Bilder der beiden toten Frauen ansahen. Die eine war blond gewesen, die andere brünett – genau wie Shelley und Zoe selbst. Zoe war sogar ungefähr im gleichen Alter, Shelley ein paar Jahre jünger.
Das Schicksal liegt in Gottes Hand, hieß es. Es hätte auch sie treffen können. Aber da Zoe mit dem Glauben an das, was ihre Mutter ihr gesagt hatte – nämlich dass Zoe das Blut des Teufels in den Adern trug, weil sie überall Zahlen sehen konnte – auch den Glauben an Gott aufgegeben hatte, wurde sie daraus nicht schlau.
„Wir landen bald“, sagte Shelley und unterdrückte ein Gähnen. „Wir sollten uns bereit machen.“
Bereit machen, dachte Zoe. Und wie genau sollte man sich darauf vorbereiten an genau dem einen Ort zu landen, vor dem man sein ganzes Leben lang weggerannt war?
Sie schnallte sich an, wohl wissend, dass sie keine andere Wahl hatte.
KAPITEL FÜNF
Die frühe Morgensonne warf alles in ein schimmerndes Licht, als Zoe Shelley zögernd über den Parkplatz folgte. Es beschlich sie das unangenehme Gefühl, sich an einem Ort zu befinden, der ihr zwar irgendwie bekannt vorkam, an den sie sich aber nicht gut genug erinnern konnte, um sich hier sicher zu fühlen.
Und dann schwirrte da auch noch ein anderer Gedanke in ihrem Hinterkopf herum – und zwar die Befürchtung, dass sie hier, in unmittelbarer Nähe ihres Heimatortes, jederzeit jemanden treffen konnte, den sie kannte. Auf dem Parkplatz standen jede Menge Behördenfahrzeuge – der Van des Gerichtsmediziners, Streifenwagen der örtlichen Polizei und die Autos vieler anderer Offiziellen, die sich ein solches Großereignis sicher nicht entgehen lassen wollten. Was hier vor sich ging, war für die Menschen hier keineswegs alltäglich. Und genau deshalb waren sie nun auf die Unterstützung des FBIs angewiesen.
„Sheriff Hawthorne?“, rief Shelley. Sie schützte dabei mit der einen Hand ihre Augen vor der Sonne und winkte mit der anderen einem braun-beige gekleideten Mann hinter einem polizeilichen Absperrband zu. Er winkte zurück und machte sich in ihre Richtung auf. Das weiße Haar des etwa eins achtzig großen Mannes leuchtete im Glanz der Sonne – fast so, als schwebte ein Heiligenschein über seinem Kopf.
„Sie müssen die Mädels vom FBI sein“, sagte er mit Blick auf ihre Windjacken und schwarzen Anzüge mit FBI-Aufdruck. „Die Leiche ist schon weg. Mussten wir gestern Abend wegbringen, wegen des Wetters. Aber den Tatort könnt ihr euch ansehen, da ist noch alles so, wie wir es vorgefunden haben.“
„Ich bin Agent Shelley Rose“, sagte Shelley und zeigte ihm, ganz nach Vorschrift, kurz ihre Dienstmarke. „Dann führen Sie uns doch bitte dorthin.”
„Agent Zoe Prime“, fügte Zoe hinzu und ahmte Shelleys Bewegungen nach, bevor sie sich drehte, um den beiden zu folgen. Diesen Sheriff hatte sie immerhin noch nie zuvor getroffen. Hoffentlich ein gutes Omen.
Das grüne Gras zu beiden Seiten des Wanderwegs glitzerte hell im Morgenlicht, frisch und mit einem Hauch von Morgentau bedeckt. Als würden sie durch eine Postkarte spazieren, dachte Zoe, als sie dem ausgetretenen Weg folgten. Er wurde offensichtlich viel benutzt. Zoes Aufmerksamkeit fiel auf das Gras, von dem der Weg umgeben war – an welchen Stellen es dünner wurde und wie der breite Eingang zum Parkplatz immer schmaler wurde, bis er schließlich gerade für eine Person reichte, ganz gleich einem Fluss, der vom Meer wegführt.
„Sie wurde gestern Abend gefunden, richtig?“, fragte Shelley, nur, um sich noch einmal zu vergewissern.
„Am späten Nachmittag“, bestätigte der Sheriff. „Ein Wanderer hat uns alarmiert, der noch die letzten Züge des schönen Wetters genießen wollte. Er wollte zu einem der höheren Hügel, um von dort den Sonnenuntergang über der Stadt zu genießen. Leider ist er nicht weit gekommen, sondern schon recht bald auf Miss Troyes Leiche gestoßen. Sie lag einfach auf dem Wanderweg – wie Sie gleich sehen werden.“
Seine unheilverkündenden Worte standen in starkem Kontrast zu der malerischen Umgebung, in der sie sich befanden. Zoe sah sich auf dem Weg zum Tatort genau um. Nicht weit vor ihnen gingen drei Männer – sie trugen die gleiche beige-braune Uniform wie auch der Sheriff – ein Stück des Pfads auf und ab; höchstwahrscheinlich bewachten sie den Tatort. Aber um sie herum, links und rechts abseits des Wanderweges, gab es nicht viel Bemerkenswertes zu sehen – abgesehen von der sie umgebenden Hügellandschaft mit seinen Büschen, Sträuchern und einigen in der Ferne emporragenden weißen Windrädern. Sie zählte auf die Schnelle zweiundvierzig, aber es war natürlich nicht auszuschließen, dass da noch mehr waren, die man von hier, vom grellen Sonnenlicht geblendet, nicht erkennen konnte.
Ihr fiel besonders auf, wie offen und ungeschützt dieser Ort war. Es gab hier keine Berge oder Wälder, in denen man sich verstecken, in denen man Schutz suchen konnte. Es war weit und breit nur die Hügellandschaft zu sehen, mit einigen vereinzelten Büschen hie und da. Nicht gerade der Ort, den sie sich aussuchen würde, wenn sie am helllichten Tage einen Mord begehen wollte.
„Ein kühner Mord“, sagte sie, damit Shelley ihren Gedanken folgen konnte. „Hier gibt es keinerlei Deckung.“
Shelley nickte und setzte sich etwas vom Sheriff ab, um mit Zoe zu sprechen. „Das Opfer mag allein gewesen sein, aber vollkommen isoliert war es nicht. Vom Parkplatz aus hätte man etwas sehen können. Wahrscheinlich nicht alle Details, aber genug, um zu wissen, dass hier etwas nicht stimmt.“
„Und hätte das Opfer geschrien, dann wäre es wahrscheinlich gehört worden“, fügte Zoe hinzu und warf nochmal einen Blick zurück Richtung Parkplatz, um einen Eindruck von der Entfernung zu bekommen, jetzt, wo sie sich in der Nähe des Tatorts befanden. „Und wenn es dem Opfer gelungen wäre, aufzustehen, dann hätte es womöglich entkommen können. Oder es hätte zumindest die Aufmerksamkeit anderer erregen können. Der Mörder ist hier ein großes Risiko eingegangen.“
Sie waren nun bei den anderen Polizisten angekommen, die eine Art Halbkreis um ein Areal hinter sich gebildet hatten und es tunlichst vermieden, dort hinzusehen. Aus der Nähe konnte Zoe nun auch erkennen, warum die Polizisten sich alle Mühe gaben, nicht in Richtung des Tatorts zu schauen: Der Boden hinter ihnen war blutgetränkt. Er hatte das Blut des Opfers förmlich aufgesaugt und dadurch einen roten Farbton angenommen, auf den Grashalmen waren noch dazu deutlich einzelne Blutspritzer zu erkennen.
An einem weiteren, mit Absperrband abgetrennten Bereich ging Zoe in die Hocke, um den Tatort aus der Nähe zu betrachten und die Details genauer unter die Lupe zu nehmen. In aller Ruhe, als öffnete sie behutsam eine innerliche Schleuse, erlaubte sie es den Zahlen, allmählich wieder in den Vordergrund ihrer Wahrnehmung zu drängen.
Das Opfer, Lorna Troye, hatte hier schier unfassbare Mengen an Blut verloren. Überall waren Blutspritzer zu sehen, der kreidehaltige Boden hatte sich geradezu vollgesogen. Einen so großen Blutverlust hätte das Opfer unter keinen Umständen überleben können, auch dann nicht, wenn ihm nicht der Kopf abgetrennt worden wäre. Das Blut sammelte sich an einem zentralen Punkt, direkt neben dem Wanderweg, aber auch abseits des ausgetretenen Weges und auf den glatten Kieselsteinen des Weges selbst waren Blutspritzer zu finden. Das deutete darauf hin, dass der Täter wiederholt und mit großer Kraft auf das Opfer eingehackt hatte, wodurch die Blutstropfen beide Seiten des Weges erreichten – und sicher auch die Schuhe, die Hose und vielleicht sogar die Vorderseite eines Hemdes oder T-Shirts des Täters bedeckten.
Zoe umrundete den Tatort langsam, blieb dabei aber außerhalb der Absperrung, um auf keinen Fall Beweismittel zu vernichten. Der ausgetretene Pfad war flach und hart, es zeichneten sich keine Fußspuren darauf ab und es waren keine Kampfspuren zu finden. Ein Großteil des Blutes hatte sich in einer rauen Kerbe angesammelt, die von der Mordwaffe in dem weichen Untergrund hinterlassen worden war, als diese nach der Enthauptung in den Boden eingeschlagen hatte. Es muss ein harter Einschlag gewesen sein.
War das ein Indiz für die körperliche Überlegenheit und physische Kraft des Täters? Möglicherweise. Aber vielleicht waren zum Abtrennen des Kopfes auch einfach mehrere Hiebe nötig gewesen. Im Bericht des Gerichtsmediziners zum vorherigen Opfer war von Anzeichen für Hackbewegungen die Rede gewesen – so als hätte der Täter mehrfach mit dem Schwert auf sein Opfer einschlagen müssen, bis er sein Ziel endlich erreicht hatte. Zoe untersuchte den Tatort noch etwas genauer, indem sie sich nach vorne beugte und mit ihren Händen – natürlich in Handschuhen – hie und da vorsichtig ein paar Grashalme zur Seite schob.
Da – eine zweite Kerbe, nah bei der ersten, um fünfzehn Grad gedreht und etwa fünf Zentimeter weniger tief.
Er hatte auf ihren Nacken eingehackt, bis er ihn schließlich vollständig durchtrennt hatte. Vielleicht war der Täter also doch nicht außergewöhnlich stark, auch wenn zum Durchtrennen von Knochen und Muskelsträngen sicher eine gewisse Kraft in den Armen vonnöten ist.
„Viel haben sie nicht“, murmelte Shelley, als sie wieder zu ihrer Kollegin am Absperrband stieß. „Hast du irgendetwas entdeckt?“
Zoe richtete sich wieder auf, zum Leidwesen ihrer Oberschenkel, die mit Schmerzen in den Muskeln gegen die abrupte Bewegung protestierten. Die Zahlen waren ihr heute keine Hilfe, dafür gab es einfach nicht ausreichend Beweisstücke. Anhand der Druckstellen im Gras konnte sie die Körpergröße des Opfers schätzen, aber was nützte das schon? Sie lag ja schließlich schon in der Leichenhalle. „Nicht viel. Keine eindeutigen Hinweise auf die Größe, das Gewicht oder die Körperkraft des Täters, wobei wir wohl davon ausgehen können, dass wir keinen Schwächling suchen. Höchstwahrscheinlich ist nur ein Mann physisch in der Lage, einen Kopf abzutrennen. Aber ich kann seine körperlichen Eigenschaften nicht genauer schätzen, weil er sie geköpft hat, als sie schon am Boden lag.“
„Sie haben die Gegend gestern Abend systematisch abgesucht, dabei aber nichts Nennenswertes gefunden“, sagte Shelley, als sie mit zusammengekniffenen Augen zum restlichen Windpark hinübersah, der sich nun vor ihnen erstreckte. „Was hältst du von der Wahl des Tatorts? Ein zu willkürlicher Ort, um hier darauf zu warten, dass jemand vorbeiläuft, oder?“
„Und viel zu ungeschützt“, stimmte Zoe zu. „Das passt nicht ins Schema eines Gelegenheitsverbrechers. Hier ist etwas anderes vorgefallen.“
Shelley biss sich auf die Unterlippe und schaute sich um. Die kurzen Haare an ihrer Schläfe richteten sich im Wind auf. „Warum wartet man nicht an einem schlechter einsehbaren Ort auf sein Opfer, oder geht weiter in den Park hinein?“, sagte sie. Es klang eher so, als würde sie laut denken – und nicht wie eine Frage. „Warum ausgerechnet hier, so nah am Parkplatz? Es muss einen Grund dafür geben, dass er dieses Risiko eingegangen ist.“
Zoe warf einen weiteren Blick auf die Blutspuren am Boden. „Der Körper war so ausgerichtet“, sagte sie und zeigte dabei in eine Richtung. Füße in Richtung restlicher Park, Kopf in Richtung Parkplatz. „Ein Überraschungsangriff eines versteckten Täters erfolgt normalerweise von hinten, wodurch das Opfer nach vorne fällt.“
„Mit anderen Worten: Sie war auf dem Weg zurück zum Parkplatz, als sie attackiert wurde.“
„Vielleicht wollte sie gehen. Er musste hier zuschlagen, bevor es zu spät war.“ Zoe starrte in Richtung einiger Büsche ganz in der Nähe. Auf ihren Blättern waren rote Flecken zu erkennen, die ein wenig wie äußerst makabre Beeren aussahen. „Vielleicht hat sie ihn ja gesehen und ist dann weggelaufen. Aber ich kann keine Anzeichen dafür erkennen – keine aufgewühlte Erde. Man kann erkennen, dass sie an der Seite des Weges entlanggelaufen ist, nicht auf der stärker verhärteten Mitte. Es hätte also Spuren hinterlassen müssen, wenn sie gerannt wäre.“
Shelley schloss die Augen, als würde sie sich die Szene bildlich vorstellen. „Lorna war also auf dem Rückweg, in Richtung Parkplatz. Er erkennt, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt, bis sie wieder in Sicherheit ist und er keine Gelegenheit zum Angriff mehr hat. Er muss es also jetzt tun. Vielleicht versteckt er sich irgendwo an der Seite, vielleicht da drüben im Gebüsch.“
Zoe schüttelte den Kopf, nachdem sie die Größe der Büsche abgeschätzt hatte. Sie waren nicht groß genug, um sich darin zu verstecken. „Glaube ich nicht“, sagte sie, aber es gab einen einfachen Weg, das zu überprüfen. „Herr Kollege?“
Einer der jungen Männer, die den Tatort abschirmten, sah sich zu ihr um. „Ja, Ma’am?“
„Tun Sie uns doch einen Gefallen. Gehen Sie doch bitte mal dort rüber und versuchen Sie, sich so gut wie möglich im Gebüsch zu verstecken. Knien oder legen Sie sich hin, damit man Sie möglichst nicht mehr sehen kann.“
Der Mann blinzelte kurz und sah zu seinem Chef, der seine Zustimmung signalisierte. Er tat wie ihm geheißen und versuchte, sich zu verstecken. Obwohl er Kleidung in natürlichen Farbtönen trug, war er im saftigen Grün des Gestrüpps deutlich zu erkennen. Die Sträucher waren nicht besonders hoch gewachsen – und dank der großen Lücken zwischen den einzelnen Ästen versperrten sie die Sicht nicht besonders gut.
Shelley ging um die Absperrung herum zur anderen Seite des Weges und sah von dort wieder in seine Richtung. „Ich kann ihn auch von hier noch sehen“, bestätigte sie.
„Mach dich etwas kleiner“, rief Zoe ihr zu. „Du bist zweieinhalb Zentimeter zu groß.“
Shelley ging für einen kurzen Moment in die Knie, wodurch sie sich mindestens fünf Zentimeter kleiner machte. „Macht keinen Unterschied“, sagte sie. „Ich kann sowohl seine Füße als auch seine Schultern sehen.“
„Ich danke Ihnen. Sie können wieder rauskommen“, sagte Zoe, sehr zur Erleichterung des Mannes, der sofort damit begann, sich den Dreck von der Kleidung zu klopfen.
„Also ist er gelaufen“, sagte Shelley und kam wieder zu Zoe zurück. „Sie ist nicht weggelaufen, also hat sie ihn wahrscheinlich gesehen und nicht für gefährlich gehalten.“
„Dann kann er keine Machete getragen haben“, merkte Zoe an. „Zumindest nicht offen.“
„Und wenn er die Opfer kannte?“, fragte Shelley, den Blick auf die nicht weit entfernte Stadt gerichtet. „Die Orte sind nicht weit voneinander entfernt. Man könnte beispielsweise problemlos in dem einen Ort wohnen und in dem anderen arbeiten. Es ist also durchaus plausibel, dass der Täter zu beiden Opfern eine persönliche Verbindung hatte.“
„Die meisten Morde, bei denen eine persönlichen Verbindung zwischen Täter und Opfer besteht, sind emotional aufgeladene Affekthandlungen“, sagte Zoe und bezog sich dabei auf die Daten aus verschiedenen Fachbüchern zu diesem Thema. Diese Informationen hatte sie zwar verinnerlicht, aber es gab da etwas, das ihr auch die besten Lehrbücher nicht verständlich machen konnten: die sogenannte ‚Atmosphäre‘, die an einem Tatort herrschte. Aber bei diesem Fall wurde ihr allmählich klar, was damit gemeint sein musste. Einen Mord wie diesen musste man im Voraus planen und es war zu erkennen, dass der Täter nur genauso oft zugeschlagen hatte, wie es zum Abtrennen des Kopfes nötig gewesen war – er war also nicht in Rage geraten, sondern hatte den Mord in aller Ruhe begangen. „Hier wurde emotionslos und berechnend gehandelt.“
„Es könnte trotzdem eine persönliche Verbindung geben. Vielleicht hat ihn ja jemand langsam, aber sicher in den Wahnsinn getrieben. Vielleicht haben wir es mit einem Psychopathen zu tun.“
Das Wort ‚Psychopath‘ ließ Zoe immer noch innerlich zusammenzucken. Zu oft war es ihr selbst an den Kopf geworfen worden. Von ihrer eigenen Mutter, von Klassenkameraden, von all denen, die dachten, sie würde in bestimmten sozialen Situationen nicht angemessen, nicht sensibel genug reagieren. Ihr war schon immer klar gewesen, dass sie anders war, als die meisten ihrer Mitmenschen. Aber es hatte sehr lange gedauert, bis sie verstanden hatte, dass sie deswegen noch lange kein schlechter Mensch war.