Kitabı oku: «So Gut Wie Verloren», sayfa 4
Cassie gab Madison den Apfel, den sie in ihre Tasche steckte, und gab den anderen Dylan. Aber er winkte ab.
Cassie sah ihn ungläubig an und beobachtete dann, wie er eine Zuckerstange des Ladens auspackte, den sie eben besucht hatten.
„Dylan …“, begann sie.
„Ah, ich wollte auch so eine“, beschwerte sich Madison.
„Ich habe dir eine mitgebracht.“ Dylan griff in die tiefen Taschen seines Mantels und zog zu Cassies Entsetzen weitere Zuckerstangen heraus.
„Hier“, sagte er.
„Dylan!“ Cassie fühlte, wie ihr die Luft wegblieb und ihre Stimme klang hoch und gestresst. Ihr Kopf drehte sich, als sie versuchte, die Situation zu verstehen. Handelte es sich um ein Missverständnis?
Nein. Dylan hatte unmöglich für die Süßigkeiten bezahlt. Nach Madisons peinlichem Kommentar hatte sie die beiden eilig aus dem Laden geschoben. Dylan hatte unmöglich Zeit gehabt, für die Zuckerstangen zu bezahlen, vor allem weil die Verkäuferin nicht sehr geschickt darin gewesen war, die altertümliche Kasse zu bedienen.
„Ja?“ Er sah sie fragend an und Cassie wurde unwohl, als seine hellblauen Augen keinerlei Emotion zu zeigen schienen.
„Ich denke – ich denke, dass du möglicherweise vergessen hast, dafür zu bezahlen.“
„Ich habe nicht bezahlt“, sagte er beiläufig.
Cassie starrte ihn schockiert an.
Dylan hatte gerade unverblümt zugegeben, gestohlen zu haben.
Nie hätte sie sich ausgemalt, dass Ryans Sohn so etwas tun würde. Dies war außerhalb ihres Erfahrungsgebiets und sie hatte keine Ahnung, wie sie reagieren sollte. Ihr Eindruck einer perfekten Familie war weit von der Realität entfernt. Wie hatte sie sich nur so täuschen können?
Ryans Sohn hatte gerade ein Verbrechen begangen. Und noch schlimmer: Er schien weder Reue, noch Scham oder Verständnis für die Tragweite seiner Handlung zu zeigen. Er betrachtete sie ruhig und unaufgeregt.
Kapitel sechs
Während Cassie schockiert und entsetzt darüber nachdachte, wie sie mit Dylans Diebstahl umgehen sollte, bemerkte sie, dass Madison diesbezüglich bereits eine Entscheidung getroffen hatte.
„Ich esse nix Geklautes“, kündigte das Mädchen an. „Du kannst sie zurückhaben.“
Sie hielt Dylan die Zuckerstange hin.
„Warum gibst du sie mir zurück? Ich habe dir eine mitgebracht, weil du eine Zuckerstange haben wolltest, der erste Laden keine hatte und Cassie zu geizig war, dir eine zu kaufen.“
Dylan sprach mit beleidigter Stimme, als hätte er ein Dankeschön dafür erwartet, den Tag gerettet zu haben.
„Ja, aber ich will nichts Gestohlenes.“
Madison drückte ihm die Zuckerstange in die Hand und verschränkte die Arme.
„Schön – aber ich werde sie dir nicht erneut anbieten.“
„Ich habe nein gesagt.“
Mit nach vorne gedrücktem Kinn marschierte Madison davon.
„Du bist entweder für mich oder gegen mich. Du weißt, was Mum immer sagt“, rief Dylan ihr nach. Cassie, die sich wegen der erneuten Erwähnung der Mutter Sorgen machte, hörte die Drohung in seiner Stimme.
„Okay, genug jetzt.“
Mit wenigen, schnellen Schritten erreichte Cassie Madison, packte sie am Arm und brachte sie dann zurück. Schließlich starrten sie sich alle auf dem gepflasterten Fußgängerweg an. Sie zitterte vor Angst. Die Situation geriet immer weiter außer Kontrolle, die Kinder begannen zu streiten und sie hatte die Sache mit dem Diebstahl noch nicht geregelt. Egal, wie traumatisiert die Kinder auch waren oder welche Emotionen sie unterdrückten – es ging um ein Verbrechen.
Es entsetzte sie noch mehr, zu wissen, dass der Laden Freunden der Familie gehörte. Die Besitzerin wollte sie sogar mitnehmen! Man sollte niemanden beklauen, der einem eine Mitfahrgelegenheit angeboten hatte. Naja, man sollte überhaupt niemanden beklauen, aber definitiv nicht die Frau, die noch am selben Morgen großzügig und hilfreich gewesen war.
„Wir sollten uns hinsetzen.“
Zu ihrer Linken befand sich eine Teestube, die auf den ersten Blick voll wirkte, doch sie entdeckte, dass ein Paar gerade seine Sitznische verlassen hatte. Schnell schob sie die Kinder durch die Tür.
Eine Minute später saßen sie in der warmen Stube, die köstlich nach Kaffee und knusprigem Buttergebäck roch.
Cassie starrte auf die Speisekarte und fühlte sich hilflos, denn jede vergehende Sekunde zeigte den Kindern, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie mit der Situation umgehen sollte.
Idealerweise sollte sie Dylan vermutlich dazu zwingen, zurückzugehen und für die Süßigkeiten zu bezahlen. Doch was, wenn er sich weigerte? Außerdem kannte sie die Strafen für Ladendiebstahl in England nicht. Er könnte Ärger kriegen, wenn die Richtlinien des Ladens eine Berichterstattung bei der Polizei erforderten.
Cassie dachte erneut an die Geschehnisse und bemerkte, dass es eine andere Sichtweise geben könnte.
Sie erinnerte sich daran, dass Madison kurz vor Dylans Diebstahl das gemeinsame Rösten von Maronen mit ihrer Mutter erwähnt hatte. Vielleicht hatte der stille Junge die Worte seiner Schwester mitangehört und sich an das Trauma erinnert, das die Familie mitgemacht hatte.
Vielleicht hatte er seine unterdrückten Emotionen mit einer offensichtlich verbotenen Tat ausdrücken wollen. Je mehr Cassie darüber nachdachte, desto plausibler wurde diese Erklärung.
In diesem Fall wäre es besser, die Situation sensibler zu lösen.
Sie blickte zu Dylan, der durch die Speisekarte blätterte und keine Miene verzog.
Auch Madison schien ihren Wutausbruch vergessen zu haben. Mit der Verweigerung der gestohlenen Süßigkeiten und dem Streit mit Dylan schien die Sache für sie abgehakt zu sein. Sie war nun darin vertieft, die Beschreibungen der verschiedenen Milchshakes zu lesen.
„Okay“, sagte Cassie. „Dylan, bitte gib mir all die Süßigkeiten, die du genommen hast. Leere deine Taschen.“
Dylan wühlte in seiner Jackentasche und zog vier Zuckerstangen und eine Packung Turkish Delight heraus.
Cassie betrachtete den kleinen Haufen vor ihr.
Er hatte nicht viel genommen, dies war also kein Diebstahl in großem Stil. Die Tatsache, dass er etwas gestohlen hatte, war das Problem – und, dass er keine Reue zu zeigen schien.
„Ich werde die Süßigkeiten konfiszieren, denn es ist nicht richtig, etwas mitzunehmen, ohne zu bezahlen. Die Verkäuferin könnte zur Rechenschaft gezogen werden, wenn das Geld nicht stimmt und auch du hättest einiges an Ärger bekommen können. All diese Läden haben Kameras.“
„Okay“, sagte er gelangweilt.
„Ich werden deinem Vater davon erzählen und er wird entscheiden, wie es weitergeht. Bitte mach das nicht nochmal, auch wenn du helfen möchtest, die Welt für unfair hältst oder wegen Familienangelegenheiten wütend bist. Das könnte ernsthafte Konsequenzen für dich haben. Verstanden?“
Sie nahm die Süßigkeiten und verstaute sie in ihrer Handtasche.
Madison, die selbst nicht verwarnt worden war, blickte weitaus besorgter drein als Dylan. Dieser sah sie lediglich verwirrt an, nickte dann kurz und sie vermutete, dass mehr nicht aus ihm herauszubringen war.
Sie hatte getan, was sie konnte. Nun war es ihre Aufgabe, Ryan davon zu erzählen und es ihm zu überlassen, die Geschichte weiterzuverfolgen.
„Möchtest du einen Milchshake, Madison?“, fragte sie.
„Mit Schokolade kannst du nichts falsch machen“, erklärte Dylan und damit war die Spannung gebrochen und alles wieder beim Alten.
Cassie war unglaublich erleichtert, die Situation überstanden zu haben. Sie bemerkte, dass ihre Hände zitterten, also steckte sie sie unter den Tisch, damit die Kinder nichts davon sahen.
Sie hatte Streitereien immer gemieden, da diese Erinnerungen an ihre Zeit als unwilliges, hilfloses Opfer mit sich brachten. Sie erinnerte sich an Bruchstücke – laute Stimmen, wütendes Schreien, das Zerbrechen von Geschirr. In ihrem Versteck unter dem Esstisch hatten die Scherben ihre Hände und ihr Gesicht zerschnitten.
Wenn sie die Wahl hätte, würde sie sich in jedem Konflikt am liebsten verstecken.
Jetzt war sie froh, ihre Autorität ruhig aber bestimmt ausgeübt zu haben, ohne den Tag in ein Desaster zu verwandeln.
Die Managerin der Teestube eilte zu ihnen, um ihre Bestellung aufzunehmen und Cassie begann zu realisieren, wie klein die Stadt war, denn auch sie kannte die Familie.
„Hallo Dylan, hallo Madison. Wie geht es euren Eltern?“
Cassie zuckte zusammen, da sie offensichtlich nicht auf dem neuesten Stand zu sein schien und sie mit Ryan noch nicht besprochen hatte, wie sie darauf reagieren sollte. Als sie nach den richtigen Worten suchte, sagte Dylan: „Es geht ihnen gut, danke Martha.“
Cassie war dankbar über Dylans kurze Antwort, obwohl seine Gelassenheit sie überraschte. Sie hatte aufgebrachtere Reaktionen von ihm und Madison erwartet. Vielleicht hatte Ryan ihnen aufgetragen, nicht darüber zu sprechen, wenn jemand nicht Bescheid wusste. Vermutlich war das der Grund, schließlich schien die Frau in Eile zu sein und ihre Frage war nur eine höfliche Formalität gewesen.
„Hallo Martha, ich bin Cassie Vale“, sagte sie.
„Du klingst, als kämst du aus den Staaten. Arbeitest du für die Ellis-Familie?“
Wieder zuckte Cassie zusammen.
„Ich helfe nur aus“, sagte sie, da sie trotz ihres informellen Einverständnisses mit Ryan vorsichtig sein musste.
„Es ist so schwer, gute Hilfskräfte zu finden. Wir selbst haben gerade Not am Mann. Erst gestern wurde eine unserer Kellnerinnen ausgewiesen, weil sie nicht die richtigen Papiere hatte.“
Sie sah Cassie an, die schnell zum Tisch blickte. Was meinte die Frau? Verdächtigte sie Cassie, kein Arbeitsvisum zu haben, weil sie mit amerikanischem Akzent sprach?
Wollte sie ihr mitteilen, dass sich die Behörden in der Nachbarschaft umsahen?
Schnell gaben sie und die Kinder ihre Bestellungen auf und die Managerin eilte davon.
Kurze Zeit später erschien eine gestresst wirkende Bedienung, die offensichtlich aus dem Ort zu sein schien, und brachte Pasteten und Pommes.
Cassie wollte nicht länger als nötig sitzen bleiben, um der Managerin keine Gelegenheit zu geben, ihr Gespräch fortzuführen, da das Restaurant sich mittlerweile geleert hatte. Sobald sie aufgegessen hatten, ging sie zum Tresen, um zu bezahlen.
Sie verließen die Teestube auf demselben Weg, den sie auch gekommen waren. An einem Zoogeschäft machten sie Halt, um Fischfutter für die Tiere zu kaufen, die Dylan Orange und Lemon genannt hatte. Außerdem brauchte sein Hase, Benjamin Bunny, frische Streu.
Auf dem Weg zur Bushaltestelle hörte Cassie Musik und sie bemerkte eine Gruppe von Leuten, die sich auf dem gepflasterten Marktplatz versammelt hatten.
„Was machen die Leute dort?“, fragte Madison, die die Aktivitäten ebenfalls bemerkt hatte.
„Können wir schauen gehen, Cassie?“, fragte Dylan.
Sie überquerten die Straße und entdeckten, dass Straßenkünstler ihre Zelte aufgeschlagen hatten.
In der nördlichen Ecke des Platzes spielte eine Live-Band, die aus drei Musikern bestand und auf der gegenüberliegenden Seite wurden Ballontiere hergestellt. Eltern mit kleinen Kindern standen bereits Schlange.
In der Mitte führte ein Magier, der Frack und Zylinder trug, seine Tricks vor.
„Oh, wow. Ich liebe Zaubertricks“, flüsterte Madison.
„Ich auch“, stimmte Dylan ihr zu. „Ich möchte mehr darüber lernen und erfahren, wie sie funktionieren.“
Madison verdrehte die Augen.
„Ganz einfach. Zauberei!“
Als sie ankamen, hatte der Magier gerade einen Trick vollendet, die Menge staunte und applaudierte und ging dann weiter. Der Zauberer drehte sich zu ihnen.
„Willkommen, liebe Leute. Vielen Dank, dass ihr an diesem wundervollen Nachmittag euren Weg zu mir gefunden habt. Aber sag mal, kleines Fräulein, ist dir nicht ein bisschen kalt?“
Er winkte Madison zu sich.
„Kalt? Mir? Nein.“ Sie machte einen Schritt nach vorne und lächelte vorsichtig.
Er streckte seine leeren Hände aus, ging auf sie zu und klatschte dann neben Madisons Kopf.
Sie keuchte. Als er seine Hände nach unten hielt, sah sie einen kleinen Spielzeugschneemann.
„Wie hast du das gemacht?“, fragte sie.
Er gab ihr das Spielzeug.
„Er war die ganze Zeit auf deiner Schulter und ist mir dir gereist“, erklärt er und Madison lachte sowohl begeistert als auch ungläubig.
„Also, dann wollen wir mal sehen, wie schnell eure Augen sind. Und so funktioniert’s. Ihr wettet gegen mich – egal, wie viel. Und ich bewege vier Karten hin und her. Wer erraten kann, wo die Königin gelandet ist, verdoppelt sein Geld. Wer falsch liegt, geht mit leeren Händen von dannen. Also, wer möchte wetten?“
„Ich! Kann ich etwas Geld haben?“, fragte Dylan.
„Klar. Wie viel möchtest du denn verlieren?“ Cassie wühlte in ihrer Jackentasche herum.
„Fünf Pfund, bitte. Dann kann ich zehn gewinnen.“
Cassie, die die Menge bemerkt hatte, die sich hinter ihnen versammelte, gab Dylan das Geld.
„Das sollte kein Problem für dich sein, junger Mann. Ich kann sehen, dass du schnelle Augen hast. Aber vergiss nicht – die Königin ist eine hinterlistige Dame, die schon viele Schlachten gewonnen hat. Sieh gut zu, wenn ich die vier Karten austeile. Ich lege sie mit dem Bild nach oben ab, damit jeder es sehen kann. Das ist fast schon zu einfach. Es ist, als würde ich Geld hergeben. Die Herz-Königin, das Pik-Ass, die Kreuz-Neun und der Bube in Karo. Schließlich sagt man ja über die Ehe: Sie beginnt mit Herzen und endet mit Hacke und Pickel.“
Das Publikum hinter ihnen lachte.
Die Aussage des Zauberers über eine zerbrochene Ehe bereitete Cassie Sorgen und sie betrachtete nervös die Kinder, doch Madison schien den Witz nicht verstanden zu haben und Dylans Aufmerksamkeit war auf die Karten gerichtet.
„Jetzt drehe ich sie um.“
Eine Karte nach der anderen wurde verdeckt.
„Und jetzt bewege ich sie.“
Geschwind, aber nicht zu schnell, mischte er die vier Karten. Es war eine Herausforderung, der Königin zu folgen, doch als er stoppte, war sich Cassie ziemlich sicher, dass sich die Königin ganz rechts befinden musste.
„Wo ist die werte Königin?“, fragte der Zauberer.
Dylan hielt inne und zeigte dann auf die Karte ganz rechts.
„Bist du dir sicher, junger Mann?“
„Ja“, Dylan nickte.
„Du hast noch die Chance, deine Meinung zu ändern.“
„Nein, ich bleibe dabei. Sie muss einfach dort sein.“
„Sie muss einfach dort sein. Nun, dann wollen wir mal sehen, ob unsere Königin gleicher Meinung ist oder ob einer ihrer Konsorten sie verstecken konnte.“
Er drehte die Karte um und Dylan stöhnte hörbar.
Es war der Bube in Karo.
„Verdammt“, sagte er.
„Der Bube. Immer bereit, seine Königin zu beschützen. Treu und loyal bis zum Ende. Doch die Königin der Herzen, dem Zeichen der Liebe, entzieht sich uns noch immer.“
„Also, wo ist die Königin?“
„Ja, wo ist sie?“
Cassie hatte bemerkte, dass er beim Mischen der Karten eine Karte überhaupt nicht berührt hatte – die auf der linken Seite. Das war das Pik-Ass gewesen.
„Ich glaube, sie ist dort“, riet sie und zeigte auf die Karte.
„Ah, eine clevere Frau, zeigt auf die eine Karte, von der sie weiß, dass sie es unmöglich sein kann. Aber wisst ihr was? Wunder geschehen.“
Geschwind deckte er die Karte auf und dort war sie – die Königin.
Gelächter und Applaus füllten den Marktplatz und Cassie freute sich, als Dylan und Madison ihr ein High-Five schenkten.
„Wie schade, dass Sie kein Geld gesetzt haben, meine Dame. Sie wären jetzt ein bisschen reicher, aber so ist das Leben. Wer braucht schon Geld, wenn man von der Liebe selbst erwählt wurde?“
Cassie spürte, wie ihre Wangen rot wurden. Schön wär’s, dachte sie.
„Als Erinnerung dürfen Sie die Karte behalten.“
Er steckte sie in eine Papiertüte und schloss diese mit einem Aufkleber, bevor er sie Cassie übergab, die sie in das Seitenfach ihrer Handtasche steckte.
„Ich frage mich, was geschehen wäre, wenn ich diese Karte ausgewählt hatte“, meinte Dylan, als sie davongingen.
„Ich bin mir sicher, es wäre der Karo-Bube gewesen“, sagte Cassie. „So verdient er sein Geld – er vertauscht die Karten, wenn Leute Geld wetten.“
„Seine Hände waren so schnell“, sagte Dylan und schüttelte den Kopf.
„Ich nehme an, dafür braucht man eine natürliche Begabung und muss jahrelang trainieren“, antwortete Cassie.
„Vermutlich“, stimmte Dylan ihr zu, als sie die Bushaltestelle erreichten.
„Ich glaube, dass auch Irreführung eine Rolle spielt, aber ich weiß nicht, wie das funktioniert, wenn vier Karten so nah beieinander liegen.“
„Ok, lass uns üben. Versuche, mich irrezuführen, Cassie“, bat Madison.
„Das werde ich, aber jetzt kommt der Bus. Lass uns erst einsteigen.“
Madison drehte sich um und während sie abgelenkt war, zog Cassie den Karamellapfel aus ihrer Jackentasche.
„Hey! Was hast du getan? Ich habe etwas gespürt. Und da ist gar kein Bus.“ Madison drehte sich um, sah, dass Dylan laut auflachte und hielt kurz inne, während sie realisierte, was geschehen war. Dann kicherte auch sie.
„Du hast mich erwischt!“
„Es ist nicht immer so einfach. Ich hatte Glück.“
„Der Bus kommt, Madison“, sagte Dylan.
„Ich werde mich nicht umdrehen. Du kannst mich nicht zwei Mal austricksen.“ Noch immer lachend verschränkte sie ihre Arme.
„Dann wirst du wohl hierbleiben müssen“, meinte Dylan, als der schlanke, einstöckige Bus vor ihnen stehen blieb.
Währen der kurzen Fahrt gaben sie alle ihr Bestes, sich gegenseitig in die Irre zu führen. Als sie ihre Haltestelle erreichten, schmerzte Cassies Bauch vor lauter Lachen und sie war glücklich, dass der Tag ein Erfolg gewesen war.
Als sie die Haustüre aufschloss, vibrierte ihr Handy. Es war eine Nachricht von Ryan, der ankündigte, Pizza nach Hause zu bringen und wissen wollte, ob sie etwas nicht mochte.
Sie schrieb zurück. „Ich bin für alles zu haben, danke.“ Als sie kurz davor war, die Nachricht abzuschicken, bemerkte sie, wie das klingen musste.
Mit roten Wangen löschte sie die Nachricht und ersetzte die Worte mit „Mir schmeckt eigentlich alles, danke.“
Eine Minute später klingelte ihr Handy erneut und sie griff schnell danach, um Ryans Antwort zu lesen.
Aber die Nachricht war nicht von ihm. Sie war von Renee, einer alten Schulfreundin aus den Staaten.
„Hey, Cassie. Heute Morgen hat jemand nach dir gesucht. Eine Frau. Sie rief aus Frankreich an. Sie war auf der Suche nach dir, wollte aber nicht mehr sagen. Kann ich ihr deine Nummer geben?“
Cassie las die Nachricht wieder und wieder durch und plötzlich fühlte sich das Dorf weder abgelegen noch sicher an.
Die Verhandlung ihres ehemaligen Arbeitgebers in Paris stand an und sein Verteidigungsteam suchte nach weiteren Zeugen – sie befürchtete, dass sich das Netz über ihr zusammenzog.
Kapitel sieben
Als sie den Kindern bei ihrer Abendroutine half, ihnen im Bad und beim Umziehen zur Seite stand, konnte Cassie die verstörende Nachricht nicht vergessen. Sie versuchte, sich davon zu überzeugen, dass Pierre Dubois‘ Anwaltsteam sie vermutlich direkt kontaktiert hätte ohne eine alte Schulfreundin ausfindig machen zu müssen. Aber die Tatsache blieb: Jemand suchte nach ihr.
Und sie musste dringend herausfinden, wer.
Nachdem sie das Badezimmer aufgeräumt hatte, antwortete sie Renee.
„Hat die Frau dir eine Nummer oder einen Namen hinterlassen?“
Sie ließ ihr Handy im Zimmer und ging zur Küche, um Madison dabei zu helfen, den Tisch mit all den Extras zu decken, die zur Pizza passten – Salz, Pfeffer, Knoblauch, Tabasco-Sauce und Mayonnaise.
„Dylan mag Mayo“, erklärte sie. „Ich finde es eklig.“
„Ich auch“, gab Cassie zu und ihr Herz machte einen Sprung, als sie hörte, wie sich die Haustür öffnete.
Madison eilte aus der Küche und Cassie folgte ihr.
„Pizza!“, rief Ryan und übergab Madison die Schachteln. „Es ist schön, drinnen zu sein. Draußen ist es dunkel und eiskalt.“
Er sah Cassie und sein Mund verzog sich zu einem unglaublich attraktiven Grinsen, ganz wie sie es sich erhofft hatte.
„Hallo Cassie! Gut siehst du aus. Wie ich sehe, hat die frische Meeresluft ordentlich Farbe in deine Wangen gebracht. Ich kann es kaum erwarten, von eurem Tag zu hören.“
Cassie lächelte zurück und war dankbar, dass er annahm, die frische Luft hatte ihre Wangen gerötet – nicht die Tatsache, dass sie wegen seines Erscheinens aufgeregt und merkwürdig verlegen geworden war.
Sie versuchte sich einzureden, dass es vermutlich das Beste wäre, diese Schwärmerei für ihren Chef abzulegen.
Einige Minuten später gesellte sich Ryan zu ihnen in die Küche und Cassie sah, dass er eine braune Papiertüte in der Hand hielt.
„Ich habe Geschenke mitgebracht“, kündigte er an.
„Was denn?“, fragte Madison.
„Geduld, mein Liebling. Setzt euch hin.“
Als die Kinder am Tisch saßen, öffnete er die Tüte.
„Maddie, das ist für dich.“
Es war ein schwarzes, enganliegendes Top mit einem Slogan in glitzerndem Pink, der auf dem Kopf geschrieben war.
„Das ist mein Handstand-Shirt“, stand auf dem Oberteil.
„Oh, wie hübsch. Ich kann es kaum erwarten, das Top in die Turnhalle anzuziehen“, sagte Madison und ihre Augen leuchteten, als sie das Shirt drehte und wendete und dabei zusah, wie es im Licht glitzerte.
„Das ist für dich, Dylan.“
Sein Geschenk war ein neongelbes, langärmeliges Fahrradshirt.
„Cool, Dad. Danke.“
„Ich hoffe, es trägt zu deiner Sicherheit bei, jetzt wo es morgens so dunkel ist. Und das ist für dich, Cassie.“
Zu Cassies Erstaunen zog Ryan ein Paar eleganter, warmer Handschuhe aus der Tasche. Ihre Augen weiteten sich, als ihr klar wurde, dass es sich fast um dieselben Handschuhe handelte, die sie in der Stadt anprobiert hatte.“
„Oh, wie wunderhübsch. Und so praktisch.“
Entsetzt stellte Cassie fest, dass ihre Schwärmerei für Ryan so garantiert nicht abklingen würde, denn sie stellte sich gerade vor, mit ihm auf der Terrasse zu sitzen und Wein zu trinken.
„Ich hoffe, sie passen dir. Ich habe versucht, mir deine Hände vorzustellen, als ich sie gekauft habe“, sagte Ryan.
Für einen Moment blieb Cassie der Atem weg und sie fragte sich, ob er ähnlich dachte wie sie.
„Also, hattet ihr einen schönen Tag?“, fragte Ryan.
„Wir hatten so viel Spaß. In der Stadt war ein Magier. Er hat mir einen Schneemann geschenkt und Dylan fünf Pfund leichter gemacht. Aber dann hat Cassie erraten, wo die Karte war und sie gewonnen – aber leider kein Geld.“
„Welche Karte hat sie gewonnen?“, fragte Ryan seine Tochter.
„Die Herz-Königin, also hat der Magier gesagt, dass sie bald Liebe finden wird.“
Cassie nahm einen Schluck Orangensaft, weil sie nicht wusste, wo sie hinschauen sollte und zu schüchtern war, um Ryans Blick aufzufangen.
„Nun, ich denke, Cassie verdient diese Karte und alles, was sie mit sich bringt“, sagte Ryan und sie verschüttete fast ihren Saft, als sie das Glas abstellte.
„Was habt ihr danach gemacht?“, fragte er.
„Wir haben auf dem Weg zum Bus über Irreführungen geredet und Cassie hat mich ausgetrickst und meinen Karamellapfel gestohlen!“
Die Worte strömten nur so aus Madison heraus und obwohl Dylan mit seiner Pizza beschäftigt war, nickte er enthusiastisch.
„Wir haben dir auch etwas mitgebracht“, sagte Cassie und gab ihm schüchtern die Cashewnüsse.
„Mein Lieblingssnack! Ich habe einen anstrengenden Tag vor mir und werde die Nüsse mitnehmen und zu Mittag essen. Welch Überraschung. Danke für das aufmerksame Geschenk.“
Während der letzten Worte sah er Cassie an und seine blauen Augen hielten ihren Blick mehrere Sekunden lang fest.
Nachdem die Pizzen verschlungen waren – Cassies fehlender Appetit wurde von Ryan und seinen Kindern wettgemacht, am Ende war der Teller blitzeblank – nahm Cassie die Kinder mit ins Familienzimmer zum Fernsehen. Nach einer Talentshow, die ihnen allen gefiel, brachte sie sie ins Bett.
Die Abenteuer des Tages und die Talentshow, in der es auch um zwei Turnschülergruppen gegangen war, beschäftigten Madison noch länger.
„Ich glaube, ich will mal Turnerin werden“, sagte sie.
„Das ist viel Arbeit, aber wenn es dein Traum ist, dann musst du ihm folgen“, riet Cassie.
„Ich habe das Gefühl, nicht einschlafen zu können.“
„Willst du noch etwas plaudern? Oder soll ich dir eine Geschichte vorlesen?“
Cassie versuchte, beim Gedanken an Ryan, der mit einem Glas Wein auf der Terrasse saß und auf sie wartete, nicht ungeduldig zu werden. Oder vielleicht wartete er gar nicht, sondern war bereits zu Bett gegangen. Dann würde sie die Gelegenheit verpassen, ihm von Dylans Ladendiebstahl zu erzählen.
Die Erinnerung rüttelte sie auf. In ihrem Glück über das aufmerksame Geschenk und dem Geplauder am Esstisch hatte sie den unangenehmen Vorfall vollkommen vergessen. Es war ihre Pflicht, Ryan davon zu erzählen, auch wenn sie damit den wundervollen Tag ruinierte.
„Ich würde gerne etwas lesen.“
Madison schlug ihre Decke zurück, ging zum Regal und wählte ein Buch, das sie offensichtlich schon oft gelesen hatte, denn der Rücken war faltig und die Seiten voller Eselsohren.
„Das ist die Geschichte eines normalen Mädchens, das Balletttänzerin wird. Es ist so aufregend. Jedes Mal, wenn ich es lese, begeistert es mich aufs Neue. Denkst du, das ist seltsam?“
„Nein, überhaupt nicht. Die besten Geschichten geben dir immer dieses Gefühl“, sagte Cassie.
„Cassie, denkst du, dass auf dem Internat Turnen unterrichtet wird?“
Wieder dieses Internat. Cassie hielt inne.
„Ja, vor allem weil es sich bei Internaten gewöhnlich um größere Schulen handelt. Ich nehme an, dass es dort viele Sporteinrichtungen gibt.“
Madison schien mit der Antwort zufrieden zu sein, hatte dann aber einen weiteren Gedanken.
„Darf man die Ferien über im Internat bleiben?“
„Nein, in den Ferien gehen die Schüler nach Hause. Warum würdest du in der Schule bleiben wollen?“
Cassie hoffte, eine Antwort zu erhalten, aber Madison zog sich die Decke bis zum Kinn und öffnete das Buch.
„Ich habe mich nur gewundert. Gute Nacht. Ich schalte mein Licht später selbst aus.“
„Ich sehe nochmal nach dir“, versprach Cassie, bevor sie die Tür schloss.
Sie eilte zu ihrem Zimmer, nahm sich ihren Mantel und zog die hübschen, neuen Handschuhe an, bevor sie auf den Balkon ging.
Zu ihrer Erleichterung war Ryan noch immer dort. Sie sah sogar freudig, dass er auf sie gewartet und den Wein noch nicht eingeschenkt hatte. Als er sie sah, sprang er auf die Füße, zog ihren Stuhl näher an seinen und schüttelte das Kissen auf, bevor sie sich setzte.
„Prost. Vielen Dank für heute. Es ist das beste Gefühl der Welt, die Kinder so glücklich zu sehen.“
„Prost.“
Als ihr Weinglas seines berührte, erinnerte sie sich, dass der Tag nicht wirklich perfekt gewesen war. Es hatte einen ernsthaften Vorfall gegeben. Wie sollte sie ihm davon erzählen? Was wäre, wenn er sie für ihre Vorgehensweise kritisierte?
Sie entschied sich dafür, das Thema langsam anzugehen und im Gespräch darauf zu kommen. Vielleicht würde Ryan ja erneut seine Scheidung erwähnen, das wäre die perfekte Überleitung für sie: „Weißt du, ich denke, die Scheidung war schwerer für Dylan als gedacht. Kurz nachdem Madison ihre Mutter erwähnt hat, hat er in einem Laden Süßigkeiten gestohlen.“
Sie sprachen eine Weile über das Wetter – der folgende Tag versprach, gut zu werden – und den Zeitplan der Kinder. Ryan erklärte ihr, dass der Schulbus die beiden morgens um halb acht abholen würde, er dann bereits bei der Arbeit sei und die Kinder sie über den weiteren Tagesverlauf oder etwaige Aktivitäten informieren würden.
„In meinem Schrank hängt außerdem ein Stundenplan, den kannst du dir jederzeit ansehen“, sagte er. „Ich aktualisiere ihn stets.“
„Danke. Ich werde mich bei Bedarf daran orientieren“, antwortete Cassie.
„Weißt du“, sagte Ryan und Cassie verspannte sich. Sie leerte ihr Glas, denn seine Stimme hatte sich verändert, war ernster geworden. Sie war sich sicher, dass er seine Scheidung erwähnen würde, was für sie bedeutete, dass es Zeit war, das schwierige Ladendiebstahl-Thema auf den Tisch zu bringen.
Er schenkte ihr Wein nach, bevor er fortfuhr.
„Weißt du, ich habe heute viel an dich gedacht. Als ich diese Handschuhe gesehen habe, kamst du mir sofort in den Sinn und mir wurde klar, wie sehr ich unsere Unterhaltung gestern Abend genossen habe. Die Handschuhe waren also quasi nur meine Art, dir zu sagen, dass ich sehr gerne jeden Abend mit dir hier draußen verbringen würde.“
Für einen Moment wusste Cassie nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie konnte nicht glauben, was sie gerade gehört hatte. Als sie seine Worte verdaute, wurde ihr warm vor Freude.
„Sehr gerne. Ich habe den gestrigen Abend auch sehr genossen.“
Sie wollte noch mehr hinzufügen, hielt sich aber zurück. Sie musste sich in Acht nehmen, ihre auflodernden Emotionen für sich zu behalten. Schließlich war es möglich, dass Ryans Kommentar reine Höflichkeit gewesen war.
„Passen sie gut?“ Er nahm ihre linke Hand und streichelte ihre Finger zärtlich mit seinem Daumen.
„Ja, sie passen perfekt. Und mir ist darin überhaupt nicht mehr kalt.“
Ihr Herz klopfte so laut, dass sie sich fragte, ob er ihren Puls fühlen konnte, während er seine Finger sanft über ihr Handgelenk wandern ließ, bevor er sie schließlich losließ.
„Ich bewundere dich so sehr, den Schritt gewagt zu haben, die andere Seite des Ozeans zu erkunden. Hast du dich ganz alleine dazu entschieden? Oder mit anderen gemeinsam?“
„Ganz alleine“, sagte Cassie und freute sich über seine Anerkennung.
„Das ist unglaublich. Was denkt deine Familie darüber?“
Cassie wollte nicht lügen, also gab sie ihr Bestes, die Angelegenheit zu umgehen.
„Ich habe nur Unterstützung erfahren. Von Freunden, Familienmitgliedern und meinen vorherigen Arbeitgebern. Einige Freunde meinten, ich würde Heimweh bekommen und bald nach Hause zurückkehren, aber dem war nicht so.“
„Und hast du jemand Besonderen zurückgelassen? Einen Freund, vielleicht?“
Cassie konnte kaum atmen, als ihr klar wurde, was seine Frage beinhaltete. Machte Ryan Anspielungen? Oder handelte es sich lediglich um eine normale Unterhaltung, weil er mehr über sie erfahren wollte? Sie musste vorsichtig sein. Ihre Schwärmerei für ihn könnte sie dazu bringen, etwas Unangebrachtes zu sagen.
„Ich habe keinen Freund. Anfang des Jahres war ich mit jemandem zusammen, aber wir haben uns schon lange vor meiner Abreise getrennt.“
Das war nicht die Wahrheit. Sie hatte nur wenige Wochen vor ihrem Abschied mit ihrem gewalttätigen Ex Schluss gemacht. Es war einer ihrer Hauptgründe gewesen, den Kontinent zu verlassen – sie hatte nicht riskieren wollen, von ihm verfolgt zu werden oder ihre Meinung ihm gegenüber zu ändern.
Aber diese Version konnte Cassie Ryan nicht erzählen. In diesem Moment, an diesem Ort, während sie die weißen Kämme der Wellen beobachtete, die ans Ufer rollten, wollte sie, dass er glaubte, ihre letzte Beziehung befände sich weit in der Vergangenheit. Dass sie ruhig und narbenlos und bereit für etwas Neues war.