Kitabı oku: «So Gut Wie Verloren», sayfa 5

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„Ich bin froh, dass du das mit mir geteilt hast. Es wäre nicht richtig von mir, nicht sicher zu gehen“, sagte Ryan leise. „Und ich nehme an, dass du die Beziehung beendet hast, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass es andersherum gewesen sein könnte.“

Cassie starrte ihn an. Seine hellblauen Augen hypnotisierten sie und sie hatte das Gefühl, zu träumen.

„Ja, das habe ich. Es hat nicht funktioniert und ich musste die Entscheidung treffen.“

Er nickte.

„Das habe ich bereits bei unserem ersten Gespräch gespürt. Deine innere Stärke. Deine Fähigkeit, zu wissen, was du willst und danach zu streben. Und gleichzeitig bist du unglaublich empathisch, zärtlich und weise.“

„Naja, ich weiß nicht, wie weise ich tatsächlich bin. Meistens fühle ich mich nicht so.“

Ryan lachte. „Weil du zu beschäftigt bist, dein Leben zu leben und dich nicht übermäßig selbst beobachtest. Eine weitere hervorragende Eigenschaft.“

„Hey, ich habe das Gefühl, während meiner Zeit hier von einem Experten auf dem Gebiet zu lernen“, konterte sie.

„Macht das Leben nicht am meisten Spaß, wenn man es mit jemandem verbringt, der einem einen Sinn gibt?“

Seine Worte waren neckend, aber sein Gesicht ernst und sie bemerkte, dass sie nicht wegsehen konnte.

„Ja, auf jeden Fall“, flüsterte sie.

Das fühlte sich nicht wie eine normale Unterhaltung an. Das Gespräch bedeutete mehr, das musste es einfach.

Ryan stellte sein Glas ab, nahm ihre Hand und zog sie nach oben. Er legte seinen Arm lässig um ihre Taille, nur für einige Augenblicke, während sie sich zur Tür drehte.

„Ich hoffe, du schläfst gut“, sagte er, als sie ihre Schlafzimmertür erreichten.

Seine Hand berührte ihren Rücken, als er sich zu ihr beugte. Und für einen Moment betrachteten ihre faszinierten Augen die Form seines Mundes, sinnlich und fest, von der weichen Linie seiner Bartstoppeln umrandet.

Dann, nur für einen Augenblick, berührten seine Lippen ihre, bevor er sich wegdrehte und ihr leise eine gute Nacht wünschte.

Cassie sah zu, wie er seine Tür hinter sich schloss. Wie auf Wolken überprüfte sie, ob Madison ihr Licht ausgeschaltet hatte und kehrte dann in ihr Zimmer zurück.

Entsetzt fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, Ryan von dem Ladendiebstahl zu erzählen.

Sie hatte keine Gelegenheit dazu bekommen. Der Abend hatte sich in eine andere Richtung entwickelt, eine unerwartete, die sie erstaunt und sowohl hoffnungs- als auch erwartungsvoll gemacht hatte. Sie hatte das Gefühl, er habe mit dem Kuss eine Tür geöffnet und dahinter hatte sie etwas gesehen, was ihre ganze Welt verändern könnte.

War es ein rein freundschaftlicher Kuss gewesen? Oder hatte er etwas bedeutet? Sie war sich nicht sicher, glaubte aber, dass etwas dahinterstecken musste. Die Unsicherheit machte sie nervös und aufregt, aber es war ein gutes Gefühl.

In ihrem Zimmer checkte sie ihre Nachrichten und sah, dass Renee zurückgeschrieben hatte.

„Die Frau meinte, sie rufe von einem Münztelefon aus an. Also keine Nummer. Wenn sie nochmal anruft, werde ich sie nach ihrem Namen fragten.“

Beim Lesen hatte Cassie plötzlich eine Idee.

Die mysteriöse Frau hatte von einem Münztelefon aus angerufen, keine Informationen hinterlassen und eine Schulfreundin Cassies kontaktiert, die als eine der einzigen noch in ihrer alten Heimatstadt lebte.

Cassies Vater war schon lange weg- und mehrere Male umgezogen, hatte Jobs und Freundinnen gewechselt und sein Handy fast jedes Mal verloren, wenn er betrunken unterwegs gewesen war. Sie war schon lange nicht mehr mit ihm in Kontakt gewesen und wollte ihn nie wiedersehen. Er wurde älter, kränker und lebte so, wie er es verdiente. Doch das bedeutete auch, dass Familienmitglieder sich nicht mehr mit ihm in Verbindung setzen konnten. Selbst sie wüsste nicht, wie sie ihn kontaktieren könnte.

Es bestand die Möglichkeit – eine Möglichkeit, die wahrscheinlicher schien, je mehr sie darüber nachdachte – dass es bei der Anruferin um ihre Schwester Jacqui ging, die versuchte, Cassie zu finden. Eine alte Schulfreundin wäre die einzige Verbindung für jemanden, der sich nicht in den sozialen Netzwerken aufhielt. Und das tat Jacqui nicht, Cassie hatte oft genug nachgesehen. Immer wieder hatte sie nach ihr gesucht und gehofft, mit ihrer Detektivs-Arbeit eines Tages eine Spur zu ihrer Schwester zu finden.

Ihre Haut kribbelte, als sie die Möglichkeit bedachte, dass Jacqui eventuell versucht hatte, sie zu kontaktieren.

Das bedeutete nicht, dass sich Jacqui in einer guten Situation befand, aber das hatte sie auch nie geglaubt. Wenn Jacqui sich niedergelassen hätte, eine Wohnung besaß und arbeitete, hätte sie sich schon lange bei ihr gemeldet.

Wenn Cassie an Jacqui dachte, stellte sie sich immer Unsicherheit vor. Sie dachte an ein Leben als Gratwanderung – zwischen Geld und Armut, Drogen und Rehabilitation, Freunden und Vergewaltigern. Aber was wusste sie schon? Je unsicherer Jacquis Leben war, desto schwerer wäre es für sie, ihre Familie zu kontaktieren, die sie vor so langer Zeit verlassen hatte. Vielleicht erlaubten ihre Umstände es nicht oder sie schämte sich. Vielleicht verbrachte sie Wochen oder gar Monate auf der Straße oder unter dem Radar, high oder nach Essen bettelnd.

Cassie entschied sich dazu, Vertrauen zu haben und es darauf ankommen zu lassen.

Schnell schrieb sie Renee zurück, schließlich wusste sie, dass Ryan das WLAN jeden Moment ausschalten würde.

„Es könnte meine Schwester sein. Bitte gib ihr meine Nummer, wenn sie nochmals anruft.“

Cassie schloss die Augen und hoffte, richtig zu liegen. Sie hatte getan, was sie konnte, um mit dem einzigen Familienmitglied, das ihr etwas bedeutete, in Kontakt zu treten.

Kapitel acht

Am nächsten Morgen herrschte organisiertes Chaos, als Cassie versuchte, die Kinder für die Schule anzuziehen. Teile der Schuluniform fehlten, Schuhe waren schmutzig und Socken passten nicht zusammen. Sie rannte zwischen der Küche und den Schlafzimmern hin und her, um gleichzeitig auch noch alle mit Frühstück zu versorgen.

Die Kinder schlangen Tee, Toast und Marmelade herunter, bevor sie sich wieder auf die Suche nach ihren Schulsachen machten, die übers Wochenende in einem anderen Universum verschwunden zu sein schienen.

„Ich habe mein Abzeichen verloren!“, rief Madison und zupfte an ihrem Blazer herum.

„Wie sieht es denn aus?“, fragte Cassie mit niedergeschlagener Stimme. Sie hatte geglaubt, es endlich geschafft zu haben.

„Es ist rund und hellgrün. Ich kann ohne das Abzeichen nicht zur Schule gehen. Ich war letzte Woche Klassensprecherin und muss das Abzeichen heute weitergeben.“

Panisch ging Cassie auf die Knie, suchte das ganze Zimmer ab und fand das Abzeichen schließlich auf dem Boden des Schrankes.

Nachdem diese Krise abgewendet worden war, kündigte Dylan das Verschwinden seines Mäppchens an. Erst als die Kinder bereits das Haus verlassen hatten, fand Cassie es hinter dem Hasenkäfig, also rannte sie die Straße hinunter zur Bushaltestelle, wo die Kinder warteten.

Als alle sicher im Bus saßen, atmete Cassie tief durch und dachte glücklich an den vergangenen Abend zurück.

Während sie aufräumte, spielte sie gedanklich immer wieder die Interaktionen zwischen ihr und Ryan ab.

Er hatte mir ihr geflirtet, dessen war sie sich sicher.

Wie er sie berührt, ihre Hand genommen und nach ihrem Beziehungsstatus gefragt hatte. Es war eine unschuldige Frage gewesen, ganz im Gegensatz zu seinem darauffolgenden Kommentar.

„Es wäre nicht richtig von mir, nicht sicher zu gehen.“

Seine Frage war also nicht grundlos gewesen – er hatte sicher gehen wollen.

Und dann der Kuss. Sie schloss die Augen, als sie daran dachte und fühlte die Wärme in sich aufsteigen. Es war so unerwartet, so perfekt gewesen.

Es hatte sich freundschaftlich angefühlt, aber auch so, als hätte er mehr damit meinen können. Es war unmöglich auszuschließen. Sie fühlte sich unsicher, aber auf positive Art und Weise.

Der Morgen verging wie im Flug und da Ryan angekündigt hatte, erst spät nach Hause zu kommen, entschied sie sich, mit der Vorbereitung des Abendessens anzufangen. Sie kannte nur wenige Rezepte, aber in der Küche befand sich ein Regal voller Kochbücher.

Cassie entschied sich für das Buch für Familienessen. Sie hatte angenommen, dass es sich um Ryans Buch handelte und war überrascht, eine handgeschriebene Notiz auf der ersten Seite zu finden – Alles Liebe zum Geburtstag Trish.

Es war also Trishs Buch, ein Geschenk von einem Freund, vielleicht jemandem, der nicht wusste, dass Ryan sich meistens ums Kochen kümmerte. Sie hatte es jedenfalls nicht mitgenommen.

Cassies Gedanken wurden unterbrochen, als es laut klopfte.

Sie eilte zur Tür.

Ein Mann in schwarzen Lederklamotten stand davor, ein großes Motorrad parkte auf dem Gehweg hinter ihm.

Sobald Cassie die Tür geöffnet hatte, machte er einen Schritt nach vorne, sodass er sich bereits halb im Haus befand. Er war groß, breitschultrig, hatte kurzes, stacheliges Haar und einen Schnurrbart. Sie nahm einen Hauch von Aggression war, als er sie zurückschob und sie ansah.

Sie ging einen Schritt zurück, nervös, weil er ihre Privatsphäre so verletzt hatte. Sie bereute es, die Tür nicht mit der Kette versehen zu haben, bevor sie sie öffnete, aber sie hatte das in dem kleinen, ruhigen Dorf nicht für nötig gehalten.

„Ist das das Haus der Familie Ellis?“, fragte der Mann.

„Ja“, sagte Cassie und fragte sich, worum es ging.

„Ist Mr. Ryan Ellis zuhause?“

„Nein, er ist bei der Arbeit. Kann ich Ihnen helfen?“

Cassie wurde bereits panisch. Ihrer eigenen Sicherheit wegen hätte sie angeben sollen, Ryan sei lediglich kurz zu den Nachbarn gegangen. Sie wusste nicht, wer der Mann war. Er war aufdringlich und arrogant, kein Postbote würde so mit einem Kunden interagieren.

„Und wer sind Sie?“ Der Mann lächelte halbherzig und lehnte sich mit einer Hand gegen den Türrahmen.

„Ich bin das Au-Pair“, sagte Cassie abwehrend und erinnerte sich zu spät daran, dass sie sich als Freundin der Familie hätte ausgeben sollen.

„Ah, dann hat er Sie also angestellt? Und bezahlt Sie? Woher kommen Sie? Den Staaten?“

Cassie fühlte, wie ihr der Atem stockte. Sie hatte nicht damit gerechnet und dachte sofort an die abgeschobene Kellnerin, von der ihr die Managerin der Teestube gestern erzählt hatte.

Sie antwortete nicht. Stattdessen wiederholte sie: „Wie kann ich Ihnen helfen?“

Sie hoffte, dass er nicht spürte, wie sehr sie sich fürchtete.

„Ich habe eine besondere Lieferung für Mr. Ryan Ellis.“

Der Mann überreichte ihr einen großen Briefumschlag, auf dem sowohl Ryans Name als auch seine Adresse handschriftlich geschrieben waren.

Sie legte den Umschlag auf den Tisch im Flur und er überreichte ihr ein Clipboard.

„Hier unterschreiben. Name, Uhrzeit und Telefonnummer.“

Es handelte sich also doch nur um einen Lieferservice. Cassie war erleichtert, würde sich aber erst entspannen, wenn der komische Mann aus dem Türrahmen verschwunden war.

„Und Ihren Reisepass, bitte.“

„Meinen was?“

Sie starrte ihn entsetzt an.

„Ich muss ihn fotografieren. Wenn es Ihnen nichts ausmacht.“

Seine Stimme verriet bereits, dass es ihm egal war, ob es ihr etwas ausmachte oder nicht. Er lehnte sich an die Wand und sah auf die Uhr.

Cassie war durch und durch verwirrt. Worum ging es hier? Sie fürchtete, es könnte sich um eine Art Razzia illegaler Arbeiter handeln.

Sie konnte ihm nicht befehlen, zu verschwinden, obwohl sie genau das tun wollte. War ein Foto ihrer Dokumente überhaupt legal oder eine Verletzung ihrer Rechte? Es fühlte sich wie ein Einschüchterungsversuch an, aber ihr fiel kein Ausweg ein, der ihr nicht noch mehr Ärger einbringen würde.

„Würden Sie bitte draußen warten, während ich ihn hole?“, fragte sie.

Er bewegte sich langsam auf die Veranda, verschränkte die Arme und sah ihr mit einem Halblächeln auf dem runden, blassen Gesicht zu.

Sie schloss die Haustüre und wünschte, sie nicht erneut öffnen zu müssen. Dann eilte sie ins Schlafzimmer, um ihren Pass zu holen – inklusive dem belastenden Besuchervisum.

Dann ging sie zurück, öffnete die Tür und überreichte ihm ihren Pass.

In der Zwischenzeit hatte er sich eine Zigarette angezündet. Er steckte sie sich zwischen die Lippen, nahm sein Handy heraus und blätterte durch die Seiten des Dokuments.

Sie hörte das wiederholende Klicken der Handykamera. Es sah aus, als fotografiere er mehr als nur eine Seite.

Dann gab er ihr den Pass zurück und nahm die Zigarette aus dem Mund.

„Ok, das war’s. Richten Sie Mr. Ellis aus, dass ich zurückkommen werde, wenn er sich der im Umschlag beschriebenen Angelegenheit nicht annimmt.“

Er schnalzte den schwelenden Zigarettenstummel auf den Boden, drehte sich weg und ging zurück zu seinem Bike. Eine Minute später hörte sie das Dröhnen des Motors, dann war er weg.

Auf den Knien sammelte Cassie die brennende Zigarette auf, drückte sie auf dem feuchten Gras aus und nahm sie dann mit in die Küche, wo sie sie entsorgte. Ihre Hände zitterten. Was war das gewesen?

Sie starrte den Umschlag an, hielt ihn gegen das Licht und drehte ihn sogar um, um zu sehen, ob es einen Hinweis auf die Identität des Absenders gab. Aber sie fand nichts.

Sie würde warten müssen, bis Ryan nach Hause kam, um ihm davon zu erzählen.

Cassie begann, sich zu fürchten, dass ihre Anwesenheit und Ryans zuvorkommende Nettigkeit ihm ernsthaften Ärger eingebracht haben könnte.

Kapitel neun

Als es Zeit war, die Kinder von der Schule abzuholen, gab Cassie sich größte Mühe, ihre Sorgen beiseite zu schieben. Sie wusste, dass die Kinder aufgrund der Scheidung bereits genug eigenen Stress mit sich herumtrugen und wollten sie nicht mit ihrer Anspannung belasten.

Die Kinder warteten bereits am Schultor und vor allem Madison schien sich zu freuen, sie zu sehen. Auf der malerischen Fahrt nach Hause redete das Mädchen ununterbrochen über den langweiligen Unterricht, komplizierte Matheaufgaben und Sport – sie hatten einen Geländelauf gemacht, der ihr gefallen hatte. Cassie lächelte und ließ sich vorübergehend von den heiteren Kommentaren ablenken.

Die Kinder machten kurzen Prozess mit den belegten Broten, die sie vorbereitet hatte und verschlangen sie innerhalb weniger Minuten, bevor sie die Küche verließen.

Cassie räumte auf und verbrachte dann ihre Zeit mit dem Vorbereiten des Essens, um sich weder um den Inhalt des Umschlags noch Ryans Reaktion sorgen zu müssen.

Plötzlich fiel ihr auf, wie ruhig das Haus war.

„Dylan?“, rief sie. „Madison?“

Keine Antwort.

Ihr Magen zog sich zusammen wie ein unwillkommener Gast, den sie zeitweise verbannt hatte, aber bereits darauf wartete, zurückzukehren.

Cassie verließ die Küche und überprüfte die Zimmer. Sie waren leer, also ging sie in den Hinterhof und bemerkte, dass der kühle Wind nachgelassen hatte.

Dylan, der Blue Jeans und einen roten Parka trug, stand am anderen Ende des Grashügels auf einem Felsvorsprung, von wo aus man das Meer überblicken konnte. Er hatte den Rücken zum Ozean gerichtet und tippte auf seinem Handy. Er schien nah an der Kante zu sehen und es gab kein Geländer, lediglich einen Klippenhang aus Sandstein, der zum grauen Wasser abfiel.

„Dylan, würdest du bitte etwas vom Abhang wegkommen?“, rief sie.

Er sah neugierig auf.

„Wenn du an deinem Handy bist, solltest du nicht zu nahe an der Klippe stehen“, erklärte sie. „Du bist abgelenkt und könntest nach hinten fallen. Sandstein bröckelt.“

„Oh. Okay.“

Er machte einen Schritt in ihre Richtung.

„Wo ist Madison?“

Er zuckte mit den Schultern.

„Keine Ahnung, ich bin gerade erst rausgekommen, um mit meinem Kumpel zu schreiben.“

Dylan senkte den Kopf und wandte sich erneut dem Handy zu.

Aber Cassie hatte etwas entdeckt und ging in Richtung Felsvorsprung, um zu sehen, was es war.

Ein pinker Turnschuh lag im Gras neben der Klippe. Wo war der andere? Und wo war Madison?

Cassie fühlte, wie sie so plötzlich panisch wurde, dass sich ihre Kehle zuschnürte.

Sie eilte zum Abhang.

Dort zwang sie sich, kurz durchzuatmen, um ihre Gedanken zu sortieren und ihr Gleichgewicht zu finden. Wenn der steile Abhang einen weiteren Flashback der Schrecken, die sie in Frankreich erlebt hatte, auslösen sollte, wäre niemand da, um ihr zu helfen.

Vorsichtig schielte sie über den Vorsprung.

Weit unten auf den Felsen sah sie etwas Pinkes.

Sie sah genauer hin und musste entsetzt bestätigen, dass es der andere Schuh war.

„Madison!“, schrie sie so laut, dass Dylan alarmiert von seinem Handy aufsah.

„Madison, wo bist du?“

Sie spürte einen Anflug von Panik und stolperte von der schwindelerregenden Klippe zurück.

„Dylan, sie ist dort unten. Ich kann ihren Schuh sehen. Sie muss gefallen sein.“

Cassie legte sich die Hände auf den Mund, um ihr Schluchzen zu unterdrücken. Schuldgefühle überrollten sie. Sie war so mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie nicht daran gedacht hatte, nach den Kindern zu sehen. Sie war vernachlässigend und unverantwortlich gewesen und hatte sich um andere, weniger wichtige, Dinge gekümmert, statt sich richtig um das Wohlergehen der Kinder zu sorgen. Und ein furchtbarer Moment hatte gereicht, um eine Katastrophe herbeizuführen.

War Madison gefallen? Hatten die zwei gestritten und Dylan sie geschubst? Hatte sie sich zu nahe am Abhang an Turn- oder Akrobatikübungen versucht?

Sie fühlte sich krank vor Schuld, als sie sich fragte, ob sie den Unfall hätte verhindern können, wenn sie früher nach ihnen gesehen hätte.

„Wie kommen wir da runter?“

Cassie rief mit hoher und schriller Stimme und überlegte panisch, welche Notaktion sie unternehmen sollte und wie hoch die Chance war, einen solchen Fall zu überleben. Die Felsen sahen tödlich und scharfkantig aus und Madison musste bereits aufs Meer hinausgewaschen worden sein, denn außer dem furchtbaren Anblick des einsamen Schuhs war von dem Mädchen nichts zu sehen.

Plötzlich realisierte Cassie, dass das zerbrechliche Gefühl der Sicherheit, das sie in der Familie verspürt hatte, nur eine hauchdünne Schicht war, die die tiefen Wunden in ihr verdeckte. Jetzt war die Schicht aufgerissen und ihr wirkliches Selbst offenbart worden.

Wie hatte sie nur jemals gedacht, in der Lage zu sein, Kinder zu beaufsichtigen? Sie war inkompetent und unverlässlich und ihre Geschichte würde sie davor bewahren, jemals im Leben Erfolg zu haben.

„Dylan, schnell. Gib mir dein Handy. Was ist die Nummer des Notrufs?“

Während Cassie redete, begann Dylan zu lachen.

Einen Moment lang starrte sie ihn, von seiner Reaktion schockiert, an.

Dann folgte sie seinem Blick und erkannte Madison, die aus der Garage kam und zerknülltes Zeitungspapier in den Händen hielt.

Sie ging einige Meter weiter, starrte ins Gras und runzelte dann die Stirn.

„Wo sind meine Schuhe?“, fragte sie.

Cassie konnte nicht sprechen. Ein Sturm der Emotionen fegte durch ihren Kopf.

Dann schaffte sie es, Worte zu bilden.

„Dylan, was ist hier geschehen?“ Ihre Stimme war noch immer rau vor Anspannung, aber sie hoffte, laut genug zu sein, um ihre Autorität zu demonstrieren.

„Ich habe deine Schuhe bewegt. Einer ist über die Klippe gefallen“, sagte Dylan zu Madison.

„Was? Über die Klippe? Dylan, das sind meine Lieblingsschuhe! Hol ihn, sofort.“

„Er kann nicht …“, begann Cassie, aber Dylan unterbrach sie.

„Er liegt auf den Felsen. Die Flut ist auf dem Rückweg, in einer halben Stunde kann ich ihn holen.“ Er sah Cassie an. „Es gibt einen Pfad, der nach unten führt.“

„Warum hast du das getan?“ Madison klang noch immer wütend. „Ich habe sie gewaschen, weil sie nach dem Geländelauf schmutzig waren. Dann habe ich das Zeitungspapier geholt, um sie zu trocknen, wie Dad es uns beigebracht hat. Und jetzt hast du sie fortgeschleppt und der eine ist bestimmt wieder total schmutzig.“

„Ich dachte, es sei ein Spiel. Ich wollte nicht, dass er über den Vorsprung fällt.“

Cassie räusperte sich.

„Madison hätte beim Zurückholen der Schuhe fallen können. Auch du hättest ausrutschen können. Dylan, das war keine gute Idee von dir.“

Er sah sie ruhig an.

„Wir haben keine Höhenangst“, sagte er.

Das Wort traf Cassie wie ein Schlag ins Gesicht und brachte sie zurück zum Moment auf dem Balkon.

Dylan wusste, was geschehen war. Seine Stimme hatte es ihr verraten. Er war zu der Zeit vermutlich am Familienzimmer vorbeigegangen und hatte sie draußen gesehen. Und jetzt verwendete er das Wort mit Absicht, um zu demonstrieren, was er wusste. Das gab seinem Verhalten eine andere Konnotation.

Cassie nahm an, dass es sich um eine Art Rachefeldzug handelte.

Dylan rächte sich an Madison, ihr selbst oder ihnen beiden für etwas und sie war sich sicher, dass es an den Geschehnissen in der Stadt liegen musste. Sie hatten ihn kritisiert und des Diebstahls beschuldigt. Er hatte damals nicht viel Emotion gezeigt, aber die Worte mussten ihn getroffen haben und nun feuerte er zurück.

Wut loderte in ihr auf und sie wusste, dass sie kurz davor war, die Kontrolle zu verlieren. Sie würde ihn anschreien, ihm die boshaftesten und verletzendsten Dinge an den Kopf werfen, an die sie denken konnte, um seine Hülle der Lässigkeit zu durchbrechen und ihm den gleichen Schmerz zuzufügen, den sie selbst verspürte.

Fast war sie an dem Punkt, konnte sich kaum stoppen und sah in seinen wachsamen Augen, dass er darauf wartete.

Im letzten Moment hielt sie inne.

Würde sie ihn anschreien, weil sie wütend auf ihn war? Oder war sie wütend auf sich selbst, weil sie so beschäftigt mit sich selbst gewesen war und nicht nach den Kindern gesehen hatte?

Es wäre unfair, Dylan zum Opfer zu machen, wenn ihr selbst die Schuld zugeschrieben werden musste.

Dylans Verhalten war besorgniserregend und vielleicht sogar ein bisschen furchteinflößend, aber keineswegs boshaft. Es war ein doofer Scherz gewesen, das war alles. Seine Art, zu zeigen, wie clever und gleichzeitig sensibel er war.

Sie erinnerte sich an seine Worte – abwehrend und ein kleines bisschen drohend.

„Du bist entweder für mich oder gegen mich.“

Statt zu schreien, blieb sie so ruhig wie möglich.

„Kein Problem, Dylan. Ich gehe zusammen mit dir runter, sobald das Wasser weit genug draußen ist, und dann retten wir Madisons Schuh. Deal?“

Dylan sah überrascht aus, als hätte er diese Antwort von ihr nicht erwartet und sich nicht überlegt, wie er damit umgehen sollte.

„Deal“, sagte er zögerlich und Cassie wusste erleichtert, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte.

* * *

Der Pfad zum Meer war einige hundert Meter entfernt, wo die Felswand stabiler war. Cassie hatte sich Sorgen gemacht, es könnte gefährlich sein, doch trotz den Steinen und der Steile war der gewundene Weg nicht zu riskant.

Sobald sie und Dylan unten waren, gingen sie hintereinander über den freiliegenden Bereich des schmalen, steinigen Strands.

„Bei Flut ist das hier vollständig mit Wasser bedeckt“, rief Dylan ihr zu. „Dann bricht das Meer quasi an den Klippen selbst.“

Es war eiskalt dort unten und die Gischt der Wellen war sowohl schockierend als auch belebend. Cassie nahm an, dass ein windiger Tag einen Spaziergang hier unten zu einem klatschnassen Vergnügen machen würde.

„Hier.“

Der pinke Schuh lag auf einem Felsen und Dylan streckte seine Hand durch die scharfen Steine hindurch, um ihn einzusammeln. Er übergab ihn Cassie und dann eilten sie über den knirschenden Kiesstrand zurück und den Pfad hinauf.

Cassie merkte, dass das gute Wetter dabei war, sich zu verziehen und war froh, den Schuh rechtzeitig geborgen zu haben. Die Wolken wurden dichter und auch der Wind machte sich wieder bemerkbar; er wehte kalt und stark aus Richtung Norden.

Als sie nach Madison sah, fand sie sie in ihrem Schlafzimmer, wo sie ein Puzzle machte. Dylan begab sich mit einem Buch ins Esszimmer und breitete sich auf dem Sitzsack in der Ecke aus.

Cassie stopfte Zeitungspapier in beide Schuhe und stellte sie neben die Heizung im Waschraum.

Erst dann gestattete sie sich, in die Küche zurückzukehren, wo sie ihre Gedanken streng kontrollierte. Wenn sie sich nicht aufs Essen konzentrierte, lauschte sie, ob Dylan oder Madison sie brauchten.

Als sie das Klicken der Haustür hörte, machte ihr Herz einen Sprung – trotz der strengen Schelte, die sie sich selbst verpasst hatte. Es war erst halb drei am Nachmittag. Sie hoffte, dass alles in Ordnung war und Ryan bei der Arbeit keine Probleme gehabt hatte. Sie eilte aus der Küche, um ihn zu begrüßen.

Als sie den Flur erreichte, blieb Cassie erstaunt stehen.

Eine junge Frau mit hellem, rosafarbenem Haar war eingetreten und schloss die Tür hinter sich.

Sie drehte sich um, sah Cassie, schaute ein zweites Mal in ihre Richtung und betrachtete sie dann mit derselben Überraschung.

„Wer bist du?“, fragte sie.

Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.

Yaş sınırı:
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Litres'teki yayın tarihi:
15 nisan 2020
Hacim:
332 s. 4 illüstrasyon
ISBN:
9781094313160
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