Kitabı oku: «Verschwunden», sayfa 10
Kapitel 20
Der Stuhl war bequem und die Umgebung elegant, aber das sanfte Licht in Mike Nevins Büro half Riley nicht ihre Stimmung zu heben. Cindy wurde immer noch vermisst. Gott alleine wusste, was sie jetzt gerade durchmachte. Wurde sie gefoltert? So wie es bei ihr selbst gewesen war?
Die Agenten, die nach ihr suchten, waren bisher nicht erfolgreich gewesen, nicht einmal nach vierundzwanzig Stunden im Einsatz. Riley war nicht überrascht. Sie wusste, dass sie in der falschen Gegend suchten. Das Problem war, dass weder sie noch jemand anderes auch nur einen Hinweis darauf hatten, wo die richtige Gegend war. Sie wollte nicht darüber nachdenken, wie weit der Killer mit ihr gefahren sein könnte – oder ob sie noch am Leben war.
“Wir verlieren sie, Mike,” sagte Riley. “Mit jeder Minute, die vergeht, hat sie größere Schmerzen, kommt sie ihrem Tod näher.”
“Warum bist du so sicher, dass sie den Falschen erwischt haben?” fragte der forensische Psychiater Michael Nevins.
Wie immer tadellos gepflegt und mit einer Weste über seinem teuren Hemd, zeigte Nevins seine akkurate und übertrieben sorgfältige Persönlichkeit. Riley mochte ihn gerade deswegen noch mehr. Sie fand ihn erfrischend. Sie hatten sich vor über zehn Jahren das erste Mal getroffen, als er bei einem Fall des FBI mit großer öffentlicher Aufmerksamkeit geholfen hatte. Sein Büro war in D.C. daher sahen sie sich nicht sehr häufig. Aber über die Jahre hatten sie oft gemerkt, dass eine Zusammenarbeit ihrer Instinkte mit seinem Hintergrundwissen ihnen einen einzigartigen Einblick in die Gedanken der Täter ermöglichte. Sie war an diesem Morgen sofort zu ihm gefahren.
“Wo fange ich an?” erwiderte Riley mit einem Schauer.
“Lass dir Zeit,” sagte er.
Sie nippte an der heißen Tasse Tee, die er ihr gegeben hatte.
“Ich habe ihn gesehen,” sagte sie. “Ich habe ihm Fragen gestellt, aber Walder wollte mich nicht mehr Zeit mit ihm verbringen lassen.”
“Und passt er auf dein Profil?”
“Mike, dieser Darrell Gumm ist ein Möchtegern,” fuhr sie fort. “Er ist sowas wie ein Fan von Psychopathen. Er will einer sein. Er will berühmt dafür werden. Aber er bringt es nicht fertig. Er ist gruselig, aber kein Mörder. Er hat jetzt nur gerade die Gelegenheit seine Fantasie auszuleben. Als würde für ihn ein Traum wahr werden.”
Mike strich sich nachdenklich über das Kinn. “Und du denkst nicht, dass der wahre Mörder Berühmtheit möchte?”
“Er hat vielleicht Interesse an Berühmtheit und vielleicht will er sie sogar, aber sie ist nicht, was ihn antreibt. Er wird von etwas anderem getrieben, etwas persönlicherem. Die Opfer sind Stellvertreter für ihn. Er genießt ihren Schmerz weil sie für etwas oder jemanden stehen. Sie werden nicht zufällig ausgewählt.”
“Wie dann?”
Riley schüttelte ihren Kopf. Sie wünschte sich, dass sie es besser in Worte fassen könnte.
“Es hat etwas mit den Puppen zu tun, Mike. Der Typ ist besessen von ihnen. Und Puppen haben auch etwas damit zu tun, wie die Frauen ausgewählt werden.”
Dann seufzte sie. Sie klang nicht einmal für sich selbst überzeugend. Und trotzdem war sie sich sicher, dass sie auf dem richtigen Weg war.
Mike schwieg während er nachdachte. Dann sagte er, “Ich weiß, dass du ein Talent dafür hast die Natur des Bösen zu erkennen. Ich habe deinen Instinkten immer vertraut. Aber wenn du Recht hast, dann führt dieser Verdächtige alle anderen an der Nase herum. Und nicht alle FBI Agenten sind Trottel.”
“Aber einige schon,” sagte Riley düster. “Ich bekomme die Frau, die er gestern entführt hat einfach nicht aus dem Kopf. Ich denke ständig darüber nach, was sie wohl jetzt gerade erleiden muss.” Dann platzte sie mit dem eigentlichen Grund für ihren Besuch heraus. “Mike, könntest du Darrell Gumm befragen? Du würdest ihn sofort durchschauen.”
Mike sah sie überrascht an. “Ich wurde nicht zu dem Fall gebeten,” sagte er. “Ich habe mir den Fall heute Morgen angesehen und mir wurde gesagt, dass Dr. Ralston ihn gestern befragt hat. Offensichtlich stimmt er zu, dass Gumm der Mörder ist. Er hat Gumm sogar dazu bekommen ein schriftliches Geständnis zu unterschreiben. Der Fall ist abgeschlossen, soweit es das FBI angeht. Sie denken, dass sie jetzt nur noch die Frau finden müssen und sie sind sich sicher, dass sie Gumm zum Reden bringen können.”
Riley rollte entnervt mit den Augen.
“Aber Ralston ist ein Quacksalber,” sagte sie. “Er ist Walders Kriecher. Er wird zu jeder Schlussfolgerung kommen, die Walder ihm vorgibt.”
Mike antwortete darauf nicht. Er lächelte Riley einfach nur an. Riley war sich sicher, dass Mike Ralston genauso wenig leiden konnte wie sie, aber er war zu professionell um es zu sagen.
“Ich bin einfach nicht in der Lage die Lösung zu finden,” sagte Riley. “Wirst du dir zumindest die Unterlagen durchlesen und mir sagen, was du denkst?”
Mike schien tief in Gedanken versunken. Dann sagte er, “Lass uns eine Weile über dich reden. Wie lange bist du schon wieder im Einsatz?”
Riley musste darüber nachdenken. Der Fall hatte sie vollkommen vereinnahmt, aber er war noch neu.
“Etwa eine Woche.”
Er legte besorgt den Kopf zur Seite. “Du übernimmst dich mit der Arbeit, das tust du oft.”
“Der Mann hat in dieser Zeit eine Frau getötet und eine andere entführt. Ich hätte an dem Fall dranbleiben müssen, seit ich vor sechs Monaten das erste Mal damit zu tun hatte. Ich hätte ihn niemals beiseitelegen dürfen.”
“Du wurdest unterbrochen.”
Sie wusste, dass er ihre eigene Gefangenschaft und Folter meinte. Sie hatte Stunden damit verbracht Mike davon zu erzählen und er hatte ihr durch die Dunkelheit geholfen.
“Ich bin zurück. Und eine andere Frau ist in Schwierigkeiten.”
“Mit wem arbeitest du jetzt zusammen?”
“Wieder mit Bill Jeffreys. Er ist wirklich gut, aber seine Vorstellungskraft ist nicht so aktiv wie meine. Ihm ist auch nichts weiter eingefallen.”
“Wie funktioniert das für dich? Wieder jeden Tag mit Jeffreys zu verbringen?”
“Gut. Warum sollte es das nicht?”
Mike sah sie einen Moment schweigend an und beugte sich dann mit einem Ausdruck von Besorgnis zu ihr.
“Ich meine, bist du sicher, dass dein Kopf klar ist? Bist du sicher, dass du ganz bei dem Fall bist? Ich glaube, was ich fragen will ist – hinter welchem Mörder bist du wirklich her?”
Riley war über den Themenwechsel überrascht.
“Was meinst du mit ‘welchem’?” fragte sie.
“Dem Neuen oder dem Alten?”
Schweigen senkte sich über den Raum.
“Ich denke, dass du vielleicht hier bist, um über dich zu reden,” sagte Mike sanft. “Ich weiß, dass du Schwierigkeiten damit hast zu glauben, dass Peterson wirklich in der Explosion getötet wurde.”
Riley wusste nicht, was sie sagen sollte. Das hatte sie nicht erwartet; sie hatte nicht erwartet, dass sie plötzlich über sie reden würden.
“Darum geht es jetzt nicht,” wehrte sie ab.
“Was ist mit deinen Medikamenten, Riley?”
Wieder antwortete Riley nicht. Sie hatte die verschriebenen Beruhigungsmittel seit Tagen nicht genommen. Sie wollte nicht, dass sie ihre Konzentration dämpften.
“Ich weiß nicht, ob ich mag in welche Richtung du damit gehst,” sagte Riley.
Mike nahm einen großen Schluck von seinem Tee.
“Du trägst eine Menge emotionales Gepäck mit dir herum,” sagte er. “Du wurdest dieses Jahr geschieden und ich weiß, dass deine Gefühle darüber widersprüchlich sind. Und natürlich hast du deine Mutter auf so tragische Weise vor vielen Jahren verloren.”
Rileys Gesicht wurde rot vor Ärger. Sie wollte sich nicht damit beschäftigen.
“Wir haben über die Umstände deiner eigenen Gefangenschaft geredet,” fuhr Mike fort. “Du hast die Grenzen überschritten. Du bist ein großes Risiko eingegangen. Deine Handlungen waren ziemlich tollkühn.”
“Ich habe Marie rausgeholt,” sagte sie.
“Und hast dafür selber einen hohen Preis bezahlt.”
Riley atmete tief durch.
“Du sagt, ich habe mir das selber eingebrockt,” sagte sie. “Weil meine Ehe auseinandergefallen ist, weil meine Mutter getötet wurde. Du sagst, dass ich vielleicht denke, dass ich es verdient habe. Also habe ich es förmlich angezogen. Ich habe mich selber in diese Situation gebracht.”
Mike lächelte sie mitfühlend an.
“Ich sage nur, dass du darüber nachdenken solltest, was gerade in die vorgeht.”
Riley kämpfte mit den Tränen. Mike hatte Recht. Sie hatte sich das alles gefragt. Deshalb trafen seine Worte sie auch so hart. Aber sie hatte diese unterbewussten Gedanken zu lange ignoriert. Es war an der Zeit herauszufinden, was davon der Wahrheit entsprach.
“Ich habe meinen Job gemacht, Mike,” sagte sie mit erstickter Stimme.
“Ich weiß,” sagte er. “Nichts davon war deine Schuld. Weißt du das? Es ist diese Selbstanklage, um die ich mir Sorgen mache. Man zieht an, was man selber glaubt zu verdienen. Jeder erschafft seine eigenen Lebensumstände.”
Riley stand auf, nicht in der Lage länger zuzuhören.
“Ich wurde nicht deshalb gefangen, Doktor, weil ich es angezogen habe,” sagte sie. “Ich wurde gefangen, weil es dort draußen Psychopathen gibt.”
*
Riley eilte aus dem nächsten Ausgang in den offenen Innenhof. Es war ein schöner Sommertag. Sie atmete mehrmals tief durch, um sich wieder zu beruhigen. Dann setzte sie sich auf eine Bank und vergrub den Kopf in ihren Händen.
In dem Moment vibrierte ihr Telefon.
Marie.
Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass der Anruf dringend war.
Riley antwortete und hörte nichts außer unkontrolliertem Keuchen.
“Marie,” fragte Riley besorgt, “was ist los?”
Für einen Moment hörte Riley nur Schluchzen. Marie war offensichtlich in einem noch schlechteren Zustand als sie.
“Riley,” keuchte Marie schließlich, “hast du ihn gefunden? Hast du nach ihm gesucht? Hat irgendjemand nach ihm gesucht?”
Riley wurde das Herz schwer. Natürlich meinte Marie Peterson. Sie wollte ihr versichern, dass er wirklich tot war, getötet in der Explosion. Aber wie konnte sie das mit Sicherheit sagen, wenn sie selbst Zweifel hatte? Sie erinnerte sich daran, was Betty Richter ihr vor ein paar Tagen über die Wahrscheinlichkeit von Petersons Tod gesagt hatte.
Ich würde sagen neunundneunzig Prozent.
Diese Zahl hatte Riley keinen Trost gegeben. Und sie war das letzte was Marie jetzt hören wollte.
“Marie,” sagte Riley traurig, “es gibt nichts, was ich tun kann.”
Marie entfuhr ein verzweifeltes Heulen, das Riley bis auf die Knochen erschütterte.
“Oh Gott, dann ist er es!” jammerte sie. “Es kann niemand sonst sein.”
Rileys Nerven waren plötzlich zum Zerreißen gespannt. “Wovon redest du, Marie? Was ist passiert?”
Maries Worte sprudelten in panischer Eile aus ihr heraus.
“Ich habe dir gesagt, dass er mich anruft. Ich habe mein Telefon abgeschnitten, aber irgendwie hat er meine Handynummer gefunden. Er ruft mich ständig an. Er sagt nichts, er ruft nur an und atmet, aber ich weiß, dass er es ist. Wer sollte es sonst sein? Und er ist hier gewesen, Riley. Er war in meinem Haus!”
Rileys Angst nahm mit jeder Sekunde zu.
“Was meinst du damit?” fragte sie.
“Ich höre nachts Geräusche. Er schmeißt Dinge an meine Tür und mein Schlafzimmerfenster. Kieselsteine glaube ich.”
Rileys Herz machte einen Satz, als sie sich an die Kieselsteine auf ihrer Eingangsstufe erinnerte. War es möglich, dass Peterson wirklich noch am Leben war? Waren sie und Marie wieder in Gefahr?
Sie wusste, dass sie ihre nächsten Worte mit Bedacht wählen musste. Marie stand zweifellos vor einem nervösen Zusammenbruch.
“Ich komme sofort zu dir, Marie,” sagte sie. “Und ich setze sofort das Büro darauf an.”
Marie lachte ein hartes, verzweifeltes und bitteres Lachen.
“Darauf ansetzen?” echote sie. “Vergiss es, Riley. Du hast es schon gesagt. Es gibt nichts, was du tun kannst. Du wirst nichts tun. Niemand wird etwas tun. Niemand kann etwas tun.”
Riley lief zu ihrem Auto und stellte ihr Telefon auf Lautsprecher, sodass sie reden und fahren konnte.
“Bleib am Telefon,” sagte sie als sie sich auf den Weg in Richtung Georgetown machte. “Ich komme zu dir.”
Kapitel 21
Riley kämpfte sich durch den Verkehr, während sie versuchte Marie am Telefon zu halten. Sie fuhr über eine Kreuzung nachdem die Ampel schon von Geld auf Rot gesprungen war; sie fuhr verantwortungslos und sie wusste es. Aber was konnte sie sonst tun? Sie war in ihrem eigenen Auto unterwegs, nicht in einem Einsatzwagen, also hatte sie keine Lichter und Sirenen.
“Ich lege auf, Riley,” sagte Marie zum fünften Mal.
“Nein!” rief Riley wieder und unterdrückte das ansteigende Gefühl von Verzweiflung. “Bleib am Telefon, Marie.”
Maries Stimme klang jetzt resigniert.
“Ich kann das nicht mehr,” sagte sie. “Rette dich wenn du kannst, aber ich schaffe es nicht mehr. Ich bin fertig damit. Ich werde dem jetzt ein Ende setzen.”
Riley fühlte sich, als würde es sie vor lauter Panik auseinanderreißen. Was wollte Marie ihr damit sagen? Was hatte sie vor?”
“Du kannst es schaffen, Marie,” sagte Riley flehend.
“Leb wohl, Riley.”
“Nein!” rief Riley. “Warte einfach. Warte! Mehr musst du nicht machen. Ich bin sofort da.”
Sie fuhr sehr viel schneller als der normale Verkehr und wechselte wie eine Wahnsinnige zwischen den Spuren. Die anderen Autofahrer versuchten ihr auszuweichen und hupten laut.
“Leg nicht auf,” verlangte Riley verzweifelt. “Hörst du?”
Marie sagte nichts. Aber Riley konnte sie weinen hören.
Der Klang war auf perverse Weise erleichternd. Zumindest war sie noch da. Zumindest war sie noch am Telefon. Aber konnte Riley sie am Hörer halten? Sie wusste, dass die arme Frau in einen tiefen Abgrund aus purer Angst fiel. Marie konnte nicht länger rational denken; sie schien fast verrückt vor Angst zu sein.
Rileys eigene Gedanken drohten sie zu übermannen. Schreckliche Tage in einem tierähnlichen Zustand, in denen die menschliche Welt nicht existiert hatte. Völlige Dunkelheit, das Gefühl verlierend, dass es dort draußen tatsächlich eine andere Welt gab und der Verlust von jeglichem Gefühl für Zeit.
Ich muss dagegen ankämpfen, sagte sie sich selbst.
Dann konnte sie die Erinnerungen nicht länger zurückhalten …
Ohne etwas hören oder sehen zu können, versuchte Riley ihre anderen Sinne wachzuhalten. Sie fühlte den sauren Geschmack von Angst in ihrem Hals, der in ihren Mund stieg und sich schließlich in ein elektrisiertes Kribbeln auf ihrer Zungenspitze verwandelte. Sie kratze über den Erdboden auf dem sie saß und fühlte seine Feuchtigkeit. Sie roch den Schimmel und Moder, der sie umgab.
Diese Sinneseindrücke waren alles, was sie in der Welt der Lebenden hielt.
Dann, inmitten der Dunkelheit, kam das gleißende Licht und das Brüllen von Petersons Propanflamme.
Ein plötzlicher Schlag riss Riley aus ihrem grausigen Tagtraum. Sie braucht einen Moment, bis sie verstand, dass sie einen Bordstein getroffen hatte und sich in Gefahr befand in den entgegenkommenden Verkehr zu driften. Lautes Hupen ertönte.
Riley gewann die Kontrolle über den Wagen zurück und sah sich um. Es war nicht mehr weit bis Georgetown.
“Marie,” rief sie. “Bist du noch da?”
Wieder hörte sie nur ersticktes Schluchzen. Das war gut. Aber was sollte Riley jetzt tun? Sie zögerte. Sie konnte das FBI anrufen und um Hilfe bitten, aber bis sie erklärt hatte wo das Problem lag und den Agenten die Adresse gegeben hatte, konnte wer weiß was passiert sein. Außerdem würde sie dann das Telefonat mit Marie beenden müssen.
Sie musste sie am Hörer halten, aber wie?
Wie sollte sie Marie aus diesem Abgrund ziehen? Sie war selber fast hineingefallen.
Riley erinnerte sich an etwas. Vor langer Zeit hatte sie ein Training mitgemacht, in dem sie lernte wie man in Krisensituationen jemanden in der Leitung halten konnte. Sie hatte dieses Training bisher nie anwenden müssen. Sie versuchte krampfhaft sich daran zu erinnern, was sie tun musste. Das war schon so lange her.
Ein Teil kam langsam zu ihr zurück. Sie hatte gelernt, dass sie alles tun musste, alles sagen musste, um den Anrufer im Gespräch zu halten. Es war egal wie bedeutungslos oder irrelevant es war. Wichtig war nur, dass der Anrufer eine besorgte, menschliche Stimme hörte.
“Marie, es gibt etwas, das du für mich tun musste,” sagte Riley.
“Was?”
Rileys Gedanken rasten und sie sagte das erste, was ihr einfiel.
“Du musst für mich in deine Küche gehen,” sagte sie. “Ich möchte, dass du mir ganz genau beschreibst, welche Gewürze und Kräuter du in deinem Schrank hast.”
Marie antwortete zunächst nicht. Riley machte sich Sorgen. War Marie im richtigen Geisteszustand um bei dieser seltsamen Ablenkung mitzumachen?
“Okay,” sagte Marie. “Ich gehe jetzt in die Küche.”
Riley atmete erleichtert aus. Vielleicht konnte sie sich so etwas Zeit verschaffen. Sie konnte das Klicken von Gewürzdosen über das Telefon hören. Maries Stimme klang seltsam – hysterisch und gleichzeitig mechanisch.
“Ich habe getrockneten Oregano. Und gemahlenen roten Pfeffer. Und Muskat.”
“Ausgezeichnet,” sagte Riley. “Was noch?”
“Getrockneten Thymian. Und gemahlenen Ingwer. Und schwarze Pfefferkörner.”
Marie hielt inne. Wie konnte Riley weitermachen?
“Hast du Currypulver?” fragte sie.
Nach weiterem Klicken von Dosen und Gläsern, antwortete Marie, “Nein.”
Riley sprach langsam, als würde sie lebenswichtige Anweisungen geben – denn das war genau das, was sie tat.
“Such dir ein Stück Papier und einen Stift,” sagte Riley. “Schreib es auf. Wenn du einkaufen gehst, musst du Currypulver mitbringen.”
Riley hörte das Geräusch von einem Stift auf Papier.
“Was hast du noch?” fragte Riley.
Dann kam eine tödliche Stille.
“Das bringt nichts, Riley,” sagte Marie in einem Ton resignierter Verzweiflung.
Riley stammelte hilflos. “Tu – tu es einfach, okay, für mich?”
Eine weitere Pause.
“Er ist hier, Riley.”
Riley spürte, wie sich ihre Kehle zusammenzog.
“Er ist wo?” fragte sie.
“Er ist im Haus. Ich verstehe es jetzt. Er ist die ganze Zeit hier gewesen. Es gibt nichts, was du tun kannst.”
Riley versuchte aus dem, was Marie sagte, Sinn zu machen. Marie rutschte womöglich in eine paranoide Halluzination. Riley verstand das durch ihre eigenen Kämpfe mit PTSD nur zu gut.
Auf der anderen Seite könnte Marie auch die Wahrheit sagen.
“Woher weißt du das, Marie?” fragte Riley, die nach einer Möglichkeit suchte den langsamen LKW vor ihr zu überholen.
“Ich höre ihn,” sagte Marie. “Ich höre seine Schritte. Er ist oben. Nein, er ist im Flur. Nein, er ist im Erdgeschoss.”
Hatte sie bereits Halluzinationen? Riley hatte selbst mehr als einmal nicht existierende Geräusche in den Tagen nach ihrer Befreiung gehört. Sogar jetzt konnte sie manchmal ihren fünf Sinnen nicht ganz trauen. Nach einem Trauma konnte die eigene Fantasie einem fürchterliche Streiche spielen.
“Er ist überall im Haus,” sagte Marie.
“Nein,” erwiderte Riley fest. “Er kann nicht überall sein.”
Riley schaffte es endlich den LKW zu überholen. Das Gefühl von Sinnlosigkeit überrollte sie wie eine Welle. Es war ein schreckliches Gefühl – als würde sie ertrinken.
Als Marie sprach, weinte sie nicht länger. Sie klang resigniert, auf unheimliche Weise gelassen.
“Vielleicht ist er wie ein Geist, Riley. Vielleicht ist das passiert, als du ihn in die Luft gejagt hast. Du hast seinen Körper getötet, aber nicht sein Böses. Jetzt kann er überall gleichzeitig sein. Jetzt kann ihn nichts mehr aufhalten. Du kannst keinen Geist bekämpfen. Gib auf, Riley. Du kannst nichts tun. Ich auch nicht. Alles was ich tun kann, ist nicht das gleiche noch einmal passieren zu lassen.”
“Leg nicht auf! Du musst noch etwas für mich tun.”
Stille. Dann sagte Marie. “Was? Was jetzt, Riley?”
“Ich möchte, dass du in der Leitung bleibst, aber du musst für mich die Polizei über dein Festnetz anrufen.”
Maries Stimme verwandelte sich in ein leichtes Knurren. “Meine Güte, Riley. Wie oft muss ich dir noch sagen, dass ich das Festnetz rausgezogen habe?”
In ihrer Verwirrung hatte Riley es vergessen. Marie klang tatsächlich leicht genervt. Das war gut. Ärger war besser als Panik.
“Außerdem,” fuhr Marie fort, “was bringt es die Polizei zu rufen? Was können die tun um mir zu helfen? Niemand kann helfen. Er ist überall. Er erwischt mich früher oder später. Und er wird auch dich erwischen. Wir können genauso gut beide aufgeben.”
Riley war ratlos. Maries Halluzination bildete sich ihre ganze eigene Logik. Und sie hatte nicht die Zeit um Marie davon zu überzeugen, dass Peterson kein Geist war.
“Wir sind Freunde, oder etwa nicht, Marie?” sagte Riley schließlich. “Du hast mir mal gesagt, dass du alles für mich tun würdest. Ist das wahr?”
Marie fing wieder an zu weinen.
“Natürlich ist das wahr.”
“Dann leg auf und ruf die Polizei. Es muss keinen Grund geben. Es muss nicht einmal etwas bringen. Nur weil ich es möchte.”
In der langen Pause, die folgte, konnte Riley Marie atmen hören.
“Ich weiß, dass du aufgeben willst, Marie. Das verstehe ich. Das ist deine Wahl. Aber ich will nicht aufgeben. Vielleicht ist es dumm, aber ich will es nicht. Deshalb bitte ich dich die Polizei zu rufen. Weil du gesagt hast, dass du alles für mich tun würdest. Ich möchte, dass du das tust. Es ist notwendig für mich, dass du es tust. Bitte. Für mich.”
Die Stille hielt weiter an. War Marie überhaupt noch in der Leitung?
“Versprichst du das?” fragte sie.
Der Anruf endete mit einem Klick. Ob Marie Hilfe rufen würde oder nicht, Riley konnte es nicht dem Zufall überlassen. Sie wählte auf ihrem Handy die Notrufnummer.
“Hier ist Spezialagentin Riley Paige vom FBI,” sagte sie, sobald jemand abnahm. “Ich rufe an wegen eines möglichen Eindringlings. Jemand der extrem gefährlich ist.”
Riley gab dem Polizisten am anderen Ende der Leitung Maries Adresse.
“Wir schicken sofort ein Team hin,” sagte er.
“Gut,” antwortete Riley und legte auf.
Dann wählte sie wieder Maries Nummer, aber sie nahm nicht ab.
Jemand muss rechtzeitig hinkommen, dacht sie. Jemand muss sofort dorthin.
Währenddessen kämpfte sie gegen eine erneute Welle dunkler Erinnerungen. Sie musste sich selber unter Kontrolle bringen. Was auch immer als nächstes passieren würde, sie musste bei klarem Verstand bleiben.
Als Maries Stadthaus in Sicht kam, fühlte Riley eine Welle der Panik. Bis jetzt war kein Einsatzwagen zusehen. Sie hörte Polizeisirenen in der Ferne. Sie waren auf dem Weg.
Riley hielt in zweiter Reihe und sprintete zur Tür. Sie probierte die Türklinke und die Tür schwang auf. Aber warum war sie nicht verschlossen?
Sie trat ein und zog ihre Waffe.
“Marie!” rief Riley. “Marie!”
Es kam keine Antwort.
Riley wusste mit Sicherheit, dass etwas Schreckliches passiert war – oder jetzt gerade passierte. Sie trat weiter in den Flur.
“Marie!” rief sie wieder. Das Haus blieb ruhig.
Die Polizeisirenen wurden lauter, aber es war noch keine Hilfe angekommen.
Riley fing an das Schlimmste zu glauben – das Peterson hier gewesen war und sich vielleicht immer noch irgendwo versteckte.
Sie ging weiter den nur trübe beleuchteten Flur entlang. Sie rief weiter Maries Namen, während sie vorsichtig jede Tür betrachtete. War er vielleicht im Schrank zu ihrer Linken? Was war mit dem Badezimmer zu ihrer Rechten?
Falls sie Peterson begegnete, würde sie sich nicht wieder von ihm fangen lassen.
Sie würde den Bastard ein für allemal töten.