Kitabı oku: «Vorher Schadet Er», sayfa 3
KAPITEL SECHS
Als sie auf dem Revier eintrafen, ging Mackenzie zuerst die Original-Berichte durch, um sich die Fotos des Tatorts anzusehen. Bisher hatten sie und Ellington lediglich digitale Kopien erhalten. Sie verteilte die Fotos auf dem großen Tisch, der den Großteil des Platzes in ihrer Büronische einnahm und beugte sich darüber. Während sie die Bilder betrachtete, machte sich Ellington auf seinem Handy Notizen.
Das Mädchen war noch ziemlich jung gewesen, vermutlich nicht älter als zwanzig, dachte Mackenzie. Sie war blond und hatte ein Gesicht, das die meisten wohl als hübsch einstufen würden. Aber sie hatte etwas an sich, was selbst in ihrem emotionslosen, leeren Gesicht erkennbar war und Mackenzie glaubte, dass es sich bei dem Mädchen möglicherweise um eine Ausreißerin oder Vagabundin gehandelt haben könnte. Das – oder sie hatte erst kürzlich etwas traumatisches erlebt. Ihre Haut hatte eine Färbung, die auf Schmutz oder harte Lebensumstände schließen ließ.
„Keine Identität“, sagte sie und sprach dabei mehr zu sich selbst als mit Ellington. „Ich frage mich, ob sie im Zeugenschutzprogramm war.“
„Zeugenschutzprogramm?“, fragte Ellington. „Ist das nicht etwas weit hergeholt? Vor allem, da ihr Führerschein vermutlich gefälscht ist.“
„Naja, sie hat keinen richtigen Ausweis und ist vor irgendetwas davongerannt. Wenn sie im Zeugenschutzprogramm und auf der Flucht war, würde uns das zumindest einen Anhaltspunkt geben. Vielleicht hat jemand aus ihrer Vergangenheit sie gefunden.“
„Und genau deshalb liebe ich dich“, sagte Ellington. „Du untersuchst lieber eine Theorie, die weder Hand noch Fuß hat, als zuzugeben, dass wir nicht wissen, wo wir anfangen sollen.“
„Man kann immer irgendwo anfangen“, sagte Mackenzie, die noch immer die Fotos betrachtete. „Nur manchmal ist der erste Anhaltspunkt der schwerste.“
Sie zog ihr Handy heraus, während ihr Blick zwischen ihrem Telefonbuch und den Fotos des toten Mädchens auf dem Tisch hin und her wanderte.
„Wen rufst du an?“, fragte Ellington.
„Ich werde mich vom Büro in DC zum Polizeirevier der US Marshals durchstellen lassen, um vielleicht eine Liste zu bekommen.“
Ellington, der von dem Vorschlag offensichtlich überrascht war, nickte amüsiert. „Ja, viel Glück damit.“
Während der Anruf beantwortet, sie in die Warteschleife geleitet und dann schließlich zum Büro der Marshals durchgestellt wurde, sah sie sich weiter die Bilder an. Die Verletzungen, die vom Zusammenstoß mit dem Fahrzeug stammten, waren auf den Bildern nicht sichtbar, aber der brutale Spalt in ihrer Kehle blendete sie. Der Teer unter ihr war ein bisschen feucht und glitzerte, was das dunkle Rot, das aus ihrem Hals trat, fast surreal wirken ließ.
„Hier spricht die Stellvertretung des Chiefs, Manning“, ertönte eine raue Stimme am anderen Ende der Leitung. „Mit wem spreche ich?“
„Special Agent Mackenzie White vom FBI. Ich arbeite an einem Fall in Salt Lake City und glaube, dass eine junge Frau involviert ist, die Teil des Zeugenschutzprogramms war. Wir haben absolut keine Identität. Ihre Fingerabdrücke sind in keinem System und der Führerschein, der bei ihrer Leiche gefunden wurde, ist ein Fake. Es ist ein Schuss ins Dunkle, aber ich hoffe, dass sie möglicherweise in Ihrem System ist.“
„Agent White, Sie wissen, dass ich Ihnen die Identitäten der Menschen, die unter unserem Schutz stehen, nicht geben darf. Das würde mindestens ein Dutzend verschiedener Gesetze und Richtlinien brechen.“
„Dessen bin ich mir bewusst. Aber was, wenn ich Ihnen ein Bild schicke? Mit einer Gesichtserkennungssoftware sind Sie vielleicht in der Lage, etwas herauszufinden …“
„Entschuldigung, aber selbst, wenn Sie nur vermuten, dass sie Teil des Zeugenschutzprogramms war, würde das Verschicken eines Fotos bereits mehrere Regeln brechen.“
„Da es sich um ein Tatortfoto handelt, denke ich, dass es erlaubt ist“, keifte Mackenzie. „Man hat sie mit einem Fahrzeug angefahren und ihr dann die Kehle aufgeschnitten. Ich schicke Ihnen also kein Glamour-Foto.“
Manning seufzte tief und Mackenzie wusste, dass sie ihren Willen bekommen würde. „Schicken Sie mir das Bild und ich werde es durch die Gesichtserkennungssoftware laufen lassen. Natürlich kann ich nichts versprechen. Aber ich werde sehen, was ich tun kann.“
„Danke.“
„Wir melden uns, sobald wir können.“ Er gab ihr die Informationen durch, wohin sie das Foto schicken sollte und legte dann auf.
Ellington hatte sich während ihrem Telefonat mit Manning den Bericht des Gerichtmediziners genauer angesehen. „Hast dich durchgesetzt, hm?“
„Hast du je daran gezweifelt?“
Er schüttelte den Kopf und überreichte ihr den gerichtsmedizinischen Bericht. „Das ist der aktuellste Report, ganz frisch, nur etwa fünf Stunden alt. Irgendwie interessant, findest du nicht auch?“
Sie überflog die offensichtlichen Inhalte des Berichts, bis sie die aktuellsten Ergebnisse fand. Was sie las, war tatsächlich interessant. Die Updates des Gerichtsmediziners und auch das medizinische Gutachten gaben an, dass das Opfer in der Vergangenheit mehrere Knochenbrüche erlitten hatte, die nicht richtig verheilt waren. Zwei Rippen, das linke Handgelenk und ein Wulstbruch am rechten Arm. Der Mediziner hatte notiert, dass die Knochen im linken Handgelenk vermutlich nie korrekt gerichtet worden waren.
„Denkst du an Misshandlung?“, fragte Mackenzie.
„Ich denke, dass sie vor jemandem weggelaufen ist und in der Vergangenheit Knochenbrüche erlitten hat, die nicht behandelt wurden. Also ja – Misshandlung oder vielleicht sogar noch dunkler. Ich frage mich, ob sie vielleicht gefangen gehalten wurde. Sie sieht nicht unbedingt gesund aus. Laut Bericht wiegt sie gerade mal fünfzig Kilo. Und du siehst es in ihrem Gesicht auf den Bildern … sie sieht irgendwie … ich weiß nicht …“
„Verhärtet aus“, beendete Mackenzie seinen Satz.
„Ja, das ist ein gutes Wort.“
„Also vielleicht war sie eine Gefangene und hat es geschafft, ihrem Schänder zu entkommen. Und als er sie erwischt hat, kam es ihm wohl gelegener, sie einfach umzubringen, als erneut gefangen zu nehmen.“
„Aber die Sorglosigkeit der Tat – der Schänder musste gewusst haben, dass sie keine Identität besitzt.“
Das war ein guter Punkt, über den beide schweigend nachdachten. Mackenzie dachte an ein Mädchen, das erst durch ein feuchtes Feld und dann auf die regennasse Straße rannte. Sie war barfuß gewesen, hatte ihre Sandalen in der Hand getragen. Das Szenario stellte sie vor zwei Fragen, aber sie war sich nicht sicher, welche wichtiger war.
Die erste war, woher sie kam und wovor sie wegrannte.
Die zweite Frage allerdings schien dringender zu sein: „Wo wollte sie hin?“, fragte Mackenzie laut. „Es kann kein Zufall sein, dass sie sich diese Wohngegend ausgesucht hat. Ich weiß, dass es keine Beweise dafür gibt, dass sie das Feld durchquert hat, von dem Sheriff Burke gesprochen hat. Aber was, wenn? Sie hätte in jede Richtung gehen können, hat sich aber für diese Nachbarschaft entschieden. Also warum?“
Ellington lächelte und nickte, während er sich von ihrem Enthusiasmus anstecken ließ. „Warum finden wir es nicht heraus?“
KAPITEL SIEBEN
Zum Glück war es Samstag und die meisten Autos der Nachbarschaft standen entweder in Einfahrten oder offenstehenden Garagen. Sie erreichten Plainsview um 15.10 Uhr und parkten dort, wo sie sich zuvor mit Sheriff Burke getroffen hatten. Es war ein sonniger Märznachmittag, nicht wirklich kalt, aber auch nicht warm. Trotzdem erwartete Mackenzie nicht, Probleme damit zu haben, Anwohner zu finden, mit denen sie sprechen konnten.
„Du übernimmst die rechte Seite, ich die linke“, sagte Ellington, als sie aus dem Wagen ausstiegen.
Mackenzie nickte. Sie wusste, dass die meisten Partner sich dagegen entschieden, sich aufzuteilen. Doch sie und Ellington vertrauten einander auf einem Level, das dieses Vorgehen erlaubte. Dieses Vertrauen entstammte nicht nur ihrer starken Partnerschaft als Teamkollegen, sondern auch dem Verbundenheitsgefühl verheirateter Menschen. Sie trennten sich ohne Trara und begaben sich auf ihre jeweilige Straßenseite.
Das erste Haus auf Mackenzies Seite war ein Kinderspiel, da Mutter und Tochter sich im Vorgarten aufhielten. Die Tochter war vielleicht sechs Jahre alt und fuhr mit ihrem Dreirad den Gehweg hoch und runter. Die Mutter saß auf der Veranda und tippte auf ihrem Handy. Als Mackenzie näherkam, blickte sie auf und lächelte.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie. Ihr Ton ließ erkennen, dass sie überhaupt nicht helfen wollte, vor allem wenn Mackenzie vorhatte, etwas zu verkaufen.
Mackenzie entfernte sich ein paar Schritte von dem kleinen Mädchen, während sie ihre Marke herauszog und sich vorstellte. „Ich bin Agent Mackenzie White vom FBI. Mein Partner und ich befragen die Nachbarschaft, um Informationen bezüglich eines Unfalls mit Fahrerflucht vor zwei Tagen zu finden.“
„Ich habe der Polizei bereits gesagt, dass ich nichts gesehen habe“, sagte sie. „Man geht scheinbar davon aus, dass sich der Vorfall nach Mitternacht ereignet hat und meine Familie schläft bereits um 23 Uhr.“
„Wissen Sie, wer die Leiche gefunden hat?“
„Nicht sicher. Es sind einige Gerüchte im Umlauf und ich weiß nicht, welchem ich glauben soll. Nach einer Weile hört man einfach auf, zuzuhören, verstehen Sie?“
„Würden Sie einer der Gerüchtequellen zutrauen, die Wahrheit zu sagen?“
„Ich fürchte nicht.“
„Nun, dann danke, dass Sie sich Zeit genommen haben.“
Sie drehte sich um und winkte dem kleinen Mädchen zu, während sie auf das nächste Haus zuging. Sie klopfte drei Mal, erhielt aber keine Antwort. Beim dritten Haus war es dasselbe. Erst beim vierten Haus wurde die Tür sofort geöffnet, nachdem sie geklingelt hatte.
Mackenzie stand vor einer älteren Frau, vielleicht um die sechzig Jahren alt. Sie hielt eine Flasche Reinigungsmittel und einen Staubwedel in der Hand. Rockmusik aus den 70ern spielte im Hintergrund; Peter Frampton, wenn Mackenzies doch ziemlich beeindruckendes Musikwissen sie nicht täuschte. Ihre Gedanken waren offensichtlich bei ihrer Putzarbeit, doch sie schenkte Mackenzie dennoch ein Lächeln.
„Es tut mir leid, dass ich störe“, sagte Mackenzie. „Ich bin Agent White vom FBI.“ Sie zog ihre Marke heraus und die Frau starrte Mackenzie an, als hätte sie gerade einen Zaubertrick aufgeführt. „Ich befrage die Nachbarschaft, um Informationen zum Unfall mit Fahrerflucht zu finden, der sich vor zwei Tagen auf dieser Straße ereignet hat.“
„Oh, natürlich“, sagte die Frau. Und sofort war ihre Putzarbeit vergessen. „Haben Sie den Verantwortlichen denn schon gefunden?“
„Noch nicht. Deshalb sind wir hier, um Hinweise zu finden. Haben Sie in jener Nacht etwas gesehen oder gehört?“
„Nein. Ich denke nicht, dass überhaupt jemand etwas mitbekommen hat. Und das ist ja das Erschreckende an der Sache.“
„Weshalb?“
„Nun, wir befinden uns hier in einer sehr friedlichen Nachbarschaft. Aber gleichzeitig sind wir auch mitten im Nirgendwo. Ja, Salt Lake City ist weniger als dreißig Kilometer von hier entfernt, aber wir fühlen uns hier dennoch nicht wie in einer Großstadt.“
„Welche Gerüchte sind im Umlauf?“, fragte Mackenzie.
„Ich habe nichts gehört. Die Sache ist zu dunkel, um darüber zu sprechen.“ Sie ging einen Schritt weiter auf Mackenzie zu, um mit verschwörerischer Stimme sprechen zu können. „Ich habe das Gefühl, diese Nachbarschaft glaubt, dass die ganze Sache sich in Luft auflöst, wenn wir einfach nicht darüber sprechen. Dass jeder es einfach wieder vergessen wird.“
Mackenzie nickte. Sie hatte bereits mehrere Fälle in Städten wie dieser bearbeitet. Doch sie wusste auch, dass der Klatsch und Trasch in genau diesen kleinen Nachbarschaften seine Wurzeln hatte und weit reichen konnte.
Aber als sie ihre Tour durch die Straße fortsetzte, war sie sich nicht sicher, ob das auch für Plainsview zutreffen würde. Die Bewohner begegneten ihr mit zwei verschiedenen Einstellungen: Es gab die, die sich vom Besuch des FBI irritiert fühlten, weil sie bereits mit der Polizei gesprochen hatten. Und die, die sich um die Sicherheit in ihrer Nachbarschaft fürchteten, nachdem nun auch das FBI involviert war.
Das achte Haus, das sie erreichte, wirkte ziemlich unscheinbar. In den Beeten blühten keine Blumen und der Mulch hatte sich schon lange verfärbt. Obwohl auf der Veranda Möbel standen, befanden sich diese in einem verfallenen Zustand. Einer der Stühle hing voller Spinnenweben. Das Gebäude war lediglich zwei Häuser von der Kreuzung entfernt und obwohl es nicht herausstach, vermutete Mackenzie, dass sich die älteren Hausbesitzer der Nachbarschaft möglicherweise daran störten.
Sie klopfte an der Tür und hörte leise Schritte im Inneren. Weitere zehn Sekunden vergingen, bevor jemand erschien. Und auch dann wurde die Tür nur einen Spalt weit geöffnet. Eine junge Frau schielte heraus; ihre dunklen Augen betrachteten Mackenzie prüfend. Vermutlich handelte es sich um eine argwöhnische Frau.
„Ja?“, fragte die junge Frau.
Mackenzie zeigte ihre Marke und ihren Ausweis und nahm sofort eine seltsame Spannung wahr. Alle anderen Nachbarn hatten die Türen weit geöffnet, doch diese Frau wirkte, als wolle sie die Tür als Schutzschild benutzen. Vielleicht war sie eine der Anwohnerinnen, die sich dafür entschieden hatten, mit absoluter Angst auf den Mord zu reagieren.
„Ich bin Agent White vom FBI. Ich hatte gehofft, Ihnen ein paar Fragen zu dem Unfall mit Fahrerflucht vor zwei Tagen stellen zu können.
„Mir?“, fragte die Frau verwirrt.
„Nein, nicht nur Ihnen. Mein Partner und ich gehen von Tür zu Tür, um mit allen Anwohnern zu sprechen. Verzeihen Sie mir die Frage, aber Sie sehen noch sehr jung aus. Sind Ihre Eltern zuhause?“ Ein kurzes, irritiertes Flackern erschien im Gesicht der Frau. „Ich bin zwanzig Jahre alt“, sagte sie. „Ich wohne mit zwei Mitbewohnern zusammen.“
„Oh, das tut mir leid. Also … ist Ihnen in jener Nacht etwas Interessantes aufgefallen?“
„Nein. Ich meine, ich habe gehört, dass sich der Vorfall sehr spät ereignet hat. Normalerweise schlafe ich bereit gegen 22 oder 23 Uhr.“
„Und Sie haben nichts gehört?“
„Nein.“
Die Frau öffnete die Tür noch immer nicht weiter. Sie sprach außerdem ziemlich schnell. Mackenzie glaube nicht, dass die Frau etwas versteckte, aber sie verhielt sich auf eine Art und Weise, die Mackenzie aufmerksam machte.
„Wie heißen Sie?“, fragte sie.
„Amy Campbell.“
„Amy, sind Ihre Mitbewohner zuhause?“
„Eine, ja. Die andere ist unterwegs und macht Besorgungen.“
„Wissen Sie, ob sie in der Nacht des Vorfalls etwas gesehen oder gehört haben?“
„Nein, haben sie nicht. Wir haben darüber gesprochen, um etwas herauszufinden. Aber wir haben in der Nacht alle bereits um halb elf geschlafen.“
Mackenzie wollte gerade darum bitten, eintreten zu dürfen, entschied sich aber dagegen. Amy schien die Situation offensichtlich nicht zu behagen und es machte keinen Sinn, ihre Angst zu verschlimmern. Der Moment der Anspannung zwischen ihnen verging und Mackenzie sah, dass sich hinter Amy etwas bewegte. Eine weitere Frau ging den Flur entlang und bog dann links in ein Zimmer ab. Sie schien etwa in Amys Alter zu sein und hatte ein kantiges Gesicht. Ihre Haare, die braun zu sein schienen, waren lose zusammengebunden. Mackenzie hielt sich davon ab, nach ihr zu fragen, um Amy nicht zu verlieren.
„Woher wussten Sie von dem Mord?“, fragte Mackenzie.
„Von der Polizei. Die kam an jenem Morgen vorbei und hat genau dieselben Fragen gestellt.“
„Und Sie haben ihnen dieselben Antworten gegeben?“
„Ja. Wirklich. Ich habe nichts gesehen, nichts gehört. Ich wünschte, helfen zu können, denn es ist wirklich furchtbar … aber ich habe geschlafen.“
In diesem Kommentar nahm Mackenzie Emotionen wahr. Amy war entweder traurig oder verzweifelt – was Sinn machte, schließlich war auf dieser Straße vor zwei Nächten etwas Schreckliches geschehen. Trotzdem verhielt sie sich seltsamer als die anderen Nachbarn, mit denen Mackenzie gesprochen hatte. Sie griff in ihre Jackentasche und zog eine Visitenkarte heraus. Als sie sie Amy überreichte, nahm die junge Frau sie geschwind entgegen.
„Rufen Sie mich an, wenn Ihnen oder Ihren Mitbewohnerinnen etwas einfällt – oder wenn Sie mitbekommen, dass Ihre Nachbarn etwas erwähnen. Können Sie das tun?“
„Ja. Viel Glück, Agent.“
Amy Campbell schloss schnell die Tür und ließ Mackenzie alleine auf der schmutzigen Veranda zurück. Langsam ging sie die Stufen herunter und dachte nach.
Eine Zwanzigjährige mietet ein Haus in einer Nachbarschaft wie dieser … das ist irgendwie seltsam. Aber wenn sie Mitbewohner hat, besteht die Möglichkeit, dass sie alle an einer Universität in Salt Lake City studieren. Vielleicht ist es hier billiger und schöner als in den Wohnheimen auf dem Campus.
Während die ganze Situation ihr noch immer merkwürdig vorkam, musste sie sich daran erinnern, dass in dieser Straße ein grausamer Mord verübt worden war. Jeder ging anders damit um – vor allem Mädchen im College-Alter, die wussten, dass das Opfer in ihrem Alter gewesen war.
Mackenzie dachte darüber nach, während sie zurück auf die Straße ging. Dabei fielen ihr auf der Betonplatte, die Amy Campbells Einfahrt darstellte, zwei Autos auf. Beide waren ziemlich alt, bei einem schien es sich um einen 2005 Pontiac zu handeln, der so aussah, als würde er beim nächsten Kontakt mit einem Schlagloch auseinanderfallen.
Bevor sie weiterlief, nahm Mackenzie ihr Handy aus der Tasche. Sie notierte sich Amys Namen und ihre Adresse. Es war nur eine Ahnung, aber nur allzu oft zahlten sich Mackenzies Ahnungen am Ende aus.
Sie steckte ihr Handy zurück in die Jackentasche und ging weiter die Straße entlang, um an weiteren Türen zu klopfen.
KAPITEL ACHT
Acht Minuten und drei Häuser später wurde Mackenzies Tour durch die Trabantenstadt Plainsview von einem Anruf unterbrochen. Sheriff Burke am anderen Ende hatte am Telefon eine noch rauere Stimme. Es war eine dieser emotionslosen Stimmen, die es so gut wie unmöglich machten, die Laune des Gesprächspartners einzuschätzen.
„Ich habe gerade einen Anruf vom Forensik-Labor erhalten. Eine Art versteckter Signatur wurde unter dem UV-Licht nicht gefunden. Dafür aber ein halber Daumenabdruck, der nicht dem Mädchen gehört.“
„Irgendwelche Ergebnisse?“
„Ja, ich habe den Abdruck gerade durchs System laufen lassen. Er gehört einem Typen namens Todd Thompson. Ein Kollege durchleuchtet ihn gerade.“
„Also keine Signatur … es besteht also immer noch die Möglichkeit, dass der Führerschein legal hergestellt wurde.“
„Das macht noch immer keinen Sinn. Der Name auf dem Dokument passt nicht zu unseren Akten. Genau wie ihre Fingerabdrücke. Wenn das Bild auf dem Führerschein nicht fast exakt wie sie aussehen, hätte ich getippt, dass sie ihn irgendwo gestohlen hat.“
„Vielleicht könnten wir nach Einträgen von Frauen suchen, die innerhalb des letzten Monats einen Verlust ihrer Handtaschen oder Führerscheine gemeldet haben.“
„Das haben wir bereits am ersten Tag gemacht. Wir sind einigen Meldungen hinterher, aber es kam nichts dabei raus. Wir haben außerdem versucht … Moment, meine Kollegin hat Ergebnisse bezüglich Todd Thompson. Ich werde Sie auf laut stellen, Agent White.“
Etwas raschelte und klickte, dann ertönte eine zweite Stimme. Es handelte sich dabei um eine Frau, die genauso ernst wie Burke klang, dabei aber mehr Gefühle zeigte. Sie wirkte aufgeregt; vermutlich, weil sie vermutete, dass ihre Entdeckungen den Fall aufklären würden.
„Eine einfache Suche der Aufzeichnungen zeigt, dass Todd Thompson aus Salt Lake City stammt. Er ist dreiundfünfzig Jahre alt und – halten Sie sich fest – arbeitet bei der Kraftfahrzeugbehörde.“
Die Kfz-Behörde warf ein neues Licht auf die bizarre Führerscheingeschichte. Mackenzie konnte fast hören, wie die Zahnräder in ihrem Kopf einrasteten.
„Haben Sie eine Adresse?“
„Ja. Ich kann den Bericht einscannen und Ihnen schicken, sobald wir aufgelegt haben.“
„Perfekt.“
Sie beendeten den Anruf und Mackenzie blickte in die Richtung, aus der sie gekommen war. Die Stelle, wo sich der Vorfall ereignet hatte, war nun außer Sichtweite und Teil eines anderen Häuserblocks. Sie sah über die Straße und erkannte Ellington, der bereits ein Haus Vorsprung hatte. Er sprach gerade durch geöffnete Tür mit einem älteren Herrn. Sie war sich sicher, dass er mehr als glücklich wäre, die Befragung abzuschließen.
Sie eilte über die Straße, um ihn auf den neuesten Stand zu bringen, während eine kühle Nachmittagsbrise durch die Nachbarschaft wehte.
***
Dem Bericht zufolge, den Burke und seine Kollegin ihr geschickt hatten, waren in Todd Thompsons Akte ein paar Kleinigkeiten vermerkt worden. Zwei unbezahlte Parktickets (was Mackenzie, aufgrund seines Berufs, schon fast ein bisschen lustig fand) und eine Anklage wegen Beihilfe zu Einbruch von vor fast dreißig Jahren. Ansonsten schien Todd Thompsons sauber zu sein. Außer der Tatsache eben, dass sich sein Daumenabdruck auf dem möglicherweise gefälschten Führerscheindokument einer Frau ohne Identität zu befinden schien.
Mackenzie brachte Ellington auf den neuesten Stand, während sie zurück in die Stadt fuhren. Außerdem berichtete sie ihm von ihrer seltsamen Begegnung mit Amy Campbell. Wie sich herausstellte, war es der interessanteste Besuch aller neunzehn Anwohner gewesen. Ellington stimmte ihr zu, dass Amys Laune schlichtweg die Reaktion auf den Mord einer Frau ihres Alters nur wenige hundert Meter von ihrem Haus sein könnte.
Als sie die Stadt erreichten und zum Wohnsitz Todd Thompsons fuhren, hatte beide das Gefühl, mit diesem Besuch Licht ins Dunkle ihres Falles bringen zu können. Mackenzie sprach es nicht aus, aber sie wollte so schnell wie möglich zurück nach Hause. Der Anruf ihrer Mutter hatte sie mehr beunruhigt, als sie zugeben wollte und plötzlich fühlte sie sich albern, zu glauben, ihre Mutter könnte auf ihr Kind aufpassen, ohne selbst im Mittelpunkt stehen zu wollen.
Es wurde gerade dunkel, als Ellington vor Thompsons Apartmentgebäude parkte. Er lebte in einer der schöneren Gegenden der Stadt und das Wohngebäude befand sich am Ende einer Straße. Es überblickte einen kleinen Park sowie einen Marktplatz, wo am Wochenende Bauern- oder Kunsthandwerksmärkte veranstaltet wurden. Als sie das Gebäude betraten, packten einige Verkäufer gerade ihre Produkte ein.
Mackenzie klopfte an der Tür der Wohnung im zweiten Stock und fragte sich, an wie viele Türen sie heute schon geklopft hatte. Elf? Zwölf? Sie war sich nicht sicher.
„Einen Moment“, rief die heitere Stimme eines Mannes von der anderen Seite. Als die Tür schließlich geöffnet wurde, begrüßte sie nicht nur ein afroamerikanischer Mann mittleren Alters, sondern auch der Geruch von thailändischem Essen.
„Sind Sie Mr. Todd Thompson?”, fragte Ellington.
„Das bin ich“, sagte er. Er wirkte zuerst verwirrt, aber als er sah, wie beide Agenten nach ihren Dienstmarken griffen, schien er zu verstehen. Als Mackenzie seinen Gesichtsausdruck sah, begriff sie, dass Mr. Thompson schon seit einer Weile mit ihrem Besuch gerechnet haben musste.
„Wir sind vom FBI“, sagte Mackenzie. „Wir untersuchen den Mord einer jungen Frau, der sich etwa dreißig Kilometer entfernt von hier ereignet hat. Da wir Ihren Fingerabdruck auf dem Führschein der Dame gefunden haben, würden wir es zu schätzen wissen, wenn Sie uns reinlassen würden.“
Thompson nickte, machte einen Schritt zur Seite und ließ sie hinein. Mackenzie war sich nun noch sicherer, dass er mit ihrem Erscheinen gerechnet hatte. Seltsamerweise schien er aber keine Angst zu haben. Das bewies er noch deutlicher, als er die Tür hinter ihnen schloss und sich sofort an den kleinen Tisch in der Küche zu seinem thailändischen Take-Out setzte.
„Verzeihen Sie meine Anmerkung“, meinte Mackenzie, „aber es scheint Sie nicht aufzuregen, Besuch vom FBI zu empfangen.“
„Vor allem, da Beweise vorliegen, dass Sie den Führerschein einer jetzt toten Frau in den Händen gehabt haben“, fügte Ellington hinzu.
„Wann wurde sie getötet?“, fragte Thompson. Er klang traurig und sein Blick schweifte in die Ferne, als er begann, zu essen.
„Sie wissen wirklich nicht, von wem wir sprechen?“
„Nein. Aber ich weiß von den Führerscheinen.“
„Plural?“, fragte Mackenzie.
Thompson nahm einen weiteren Bissen, ließ dann die Plastikgabel ins Essen fallen und schob den Teller von sich. Er seufzte tief, während er die Agenten mit traurigen Augen ansah. „Ja“, sagte er. „Es sind vermutlich einige davon im Umlauf.“
„Sie ergeben keinen Sinn, Mr. Thompson“, sagte Mackenzie. „Warum erzählen Sie uns nicht, wie Ihr Daumenabdruck auf dem gefälschten Führerschein einer toten Frau gelandet ist?“
„Weil ich ihn gemacht habe. Obwohl ich ein Puder verwendet habe, dass Fingerabdrücke verhindern soll. Haben Sie UV-Licht verwendet?“
„Das haben wir.“
„Verdammt. Nun, naja … ich habe den Führerschein hergestellt.“
„Bei der Kfz-Behörde, nehme ich an?“, fragte Mackenzie.
„Ja.“
„Hat die junge Frau Sie dafür bezahlt? Der Name auf dem Führerschein war Marjorie Hikkum.“
„Nein. Es ist immer dieselbe Frau, die mich bezahlt.“
Der lässige Erzählton Thompsons begann, Mackenzie zu irritieren. Ellingtons angespannter Kiefer verriet ihr, dass auch er ärgerlich wurde.
„Mr. Thompson, bitte erklären Sie uns, wovon zum Teufel Sie sprechen.“
„Ich machte das jetzt seit etwa drei Jahren. Die Frau kommt, gibt vor, ein Problem zu haben und schiebt mir etwas Geld zu. Fünfhundert Dollar pro Führerschein. Eine Woche später gebe ich ihr, was sie bestellt hat.“
„Sie verstehen, wie unglaublich illegal das ist, nicht wahr?“, fragte Ellington.
„Das tue ich. Aber diese Frau … sie versucht, etwas Gutes zu tun. Sie besorgt diese Identitäten, weil sie den Mädchen helfen möchte.“
„Welchen Mädchen?“, fragte Ellington und bellte dabei fast.
Thompson sah sie verwirrt an. Er brauchte einen Moment, um zu verstehen, was vor sich ging. Dann sah er sie entschuldigend an. „Verdammt. Tut mir leid. Sie haben nach den Ausweisen und einer toten Frau gefragt, da nahm ich an, dass Sie bereits Bescheid wissen. Die Dokumente, die ich herstelle, sind für die Frauen, die es schaffen, der verrückten Farm auf der anderen Seite von Fellsburg zu entkommen.“
„Welche verrückte Farm?“, fragte Mackenzie.
Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft wirkte Thompson nun ehrlich besorgt. Er verzog das Gesicht und schüttelte leicht den Kopf. „Ich habe kein gutes Gefühl dabei, darüber zu sprechen. Zu viel Macht dort, wissen Sie?“
„Nein, tun wir nicht.“ Aber sie erinnerte sich an McGraths Anmerkung einer Art religiösen Gemeinschaft in der Gegend, was auch der Grund für die Abneigung der Kollegen vor Ort gewesen war, sich dem Fall anzunehmen.
„Nun, Mr. Thompson, ich mache das nicht gerne“, meinte Ellington, „aber Sie haben bereits gestanden, Ausweise gefälscht zu haben. Wir könnten Sie dafür verhaften und sichergehen, dass Sie mindestens sechs Monate im Bundesgefängnis verbringen. Je nachdem, an wen Sie verkauft haben, könnte es noch schlimmer enden. Aber wenn Sie uns erzählen, wer diese Frauen sind, die Ausweise brauchen und uns in dem Fall unterstützen, könnten wir ein Auge zudrücken. Wir würden allerdings darauf bestehen, dass Sie damit aufhören, in einer Regierungseinrichtung wie der Kfz-Behörde Dokumente zu fälschen, aber das wäre auch alles.“
Thompson wirkte peinlich berührt, überhaupt in die Falle gegangen zu sein. Sein verzagter Gesichtsausdruck verwandelte sich in ein geschlagenes Grinsen. „Besteht die Möglichkeit, meinen Namen außen vor zu lassen?“
„Solange es die Umstände nicht diktieren, sehe ich keinen Grund, ihn zu erwähnen“, meinte Mackenzie. „Haben Sie Angst, jemand könnte Rache üben wollen?“
„Bei diesen Leuten weiß man nie.“ Als er sah, dass die Agenten noch immer keine klare Vorstellung davon hatten, wovon er redete, seufzte er und fuhr fort. „Diese Frau kommt und kauft Ausweise. Sie besorgt sie für Frauen, die versuchen, die Gemeinschaft zu verlassen. Mithilfe der Identitäten kommen sie wieder auf die Beine und sind in der Lage, mit ein paar wenigen Besitztümern ein neues Leben zu beginnen. Ein normales Leben.“
„Was ist die Gemeinschaft?“, fragte Ellington.
„Eine religiöse Kommune etwa fünfundzwanzig Kilometer von Fellsburg entfernt, also etwa vierzig Minuten von hier. Viele Leute wissen davon, aber kaum einer redet darüber. Und wenn, dann als Gruselgeschichte beim Lagerfeuer oder auch in Form von Witzen.“
„Irgendeine Idee, warum die Frauen, die sich dieser Gemeinschaft anschließen, fliehen müssen?“
Thompson zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht mit Sicherheit. Und das ist die Wahrheit. Wirklich, ich weiß nicht mehr über den Ort als jeder andere hier auch. Ich stelle lediglich Ausweise her und verkaufe sie.“
„Sie wissen nichts darüber, was dort praktiziert wird?“
„Den Gerüchten zufolge ist es eine Art Polygamisten-Kult. Einige der Männer haben scheinbar drei oder vier Frauen. Sie sollen sehr religiös sein – aber eher Richtung Altes Testament.“
„Und was ist mit dieser Frau, die die Ausweise kauft? Was wissen Sie über sie?“
„Nicht allzu viel. Als sie sich an mich wandte und fragte, ob ich an einer Nebeneinkunft interessiert wäre, war eine ihrer Regeln, keine Fragen zu stellen. Ich habe es für Unsinn gehalten, aber dann hat sie fünfhundert Dollar über den Tisch geschoben. Und sehen Sie … ich bin fast sechzig und habe immer noch Schulden. Ich kann diese Art von Geld einfach nicht liegenlassen.“
„Sie wissen nicht einmal ihren Namen?“, fragte Ellington.
„Nein, tut mir leid.“
„Können Sie sie beschrieben?“
„Eher jünger. Zwischen fünfundzwanzig und dreißig, wenn ich schätzen müsste. Attraktiv. Braunhaarig, trägt eine Lesebrille.“
„Fällt Ihnen noch etwas anderes ein?“, fragte Mackenzie. „Irgendetwas?“
„Ich habe einmal ihren Wagen gesehen. Sie war nur drei Mal bei mir. Beim zweiten Mal bin ich einige Sekunden nach ihr aus dem Eingangsbereich geeilt. Ich habe ihr durch die Glasscheibe hinterhergesehen. Sie ist eilig über den Parkplatz gelaufen und in ihren Wagen gestiegen. Einen alten, roten Sedan, glaube ich.“
„Plant sie ihre Meetings mit Ihnen?“, fragte Ellington.
„Nope.“
Sie redeten weiter, doch Mackenzie hörte nur noch Bruchstücke. Sie dachte noch immer über etwas nach, das Thompson erwähnt hatte. Einen alten, roten Sedan, glaube ich.
In Amy Campbells Einfahrt war ein älterer, roter Wagen gestanden. Ein Pontiac. Eigentlich würde Mackenzie das nichts weiter als einen Zufall nennen. Aber Amy hatte sich seltsam verhalten – verängstigt und argwöhnisch. Sicherlich würde es sich lohnen, ihr einen weiteren Besuch abzustatten.
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