Andershimmel

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Andershimmel
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Bruder und Schwester, Schwester und Bruder, Zwillinge. Aufgewachsen in der Obhut des HErrn, verurteilt vom Dorf, von den Eltern – in Liebe. Der eine flüchtet in die weite Welt, die andere bleibt zurück. In der Enge. Allein. Flucht in die Freiheit oder Rückzug und Resignation? Ist es so einfach?



In poetisch dichten Bildern lotet Peter Blickle die Untiefen menschlicher Beziehungen aus: in der Enge, in der Weite, zwischen Geschlechtern, Religionen, Welten.



Peter Blickle

, 1961 in Ravensburg geboren, aufgewachsen im oberschwäbischen Wilhelmsdorf, ist Professor emeritus für deutschsprachige Literatur und Gender and Women’s Studies an der Western Michigan University in Kalamazoo/ USA. Ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen und als Mitglied im PEN International veröffentlichte Peter Blickle 2014 bei Klöpfer & Meyer den Roman

Die Grammatik der Männer

.










Peter Blickle







Andershimmel







Roman



1. Auflage



in der Edition Klöpfer



Stuttgart, Kröner 2021



ISBN DRUCK: 978-3-520-75101-0



ISBN EBOOK: 978-3-520-75191-1



Lektorat: Klaus Isele



Umschlaggestaltung: Denis Krnjaić



unter Verwendung eines Fotos von Nate Rayfield,

unsplash.com



Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.



Jede Verwendung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.



© 2021 Alfred Kröner Verlag Stuttgart · Alle Rechte vorbehalten



E-Book-Konvertierung: Zeilenwert GmbH Rudolstadt




für



A. S., J. S., C. M., U. R., E. F.



und für



E. D., A. B., D. M., E. R. und J. W.






Ein durch Liebe verübter Mord.







Vom Liebenden nicht wahrgenommen.







Der Tod einer Welt.







Im Inneren eines Menschen.







Eines Geliebten.







Einer Geliebten.







Später noch als Gefühl in der Magengegend wahrnehmbar.







Manchmal.








1





Hätte er nicht in dem Augenblick, als das Telefon klingelte, den Rasierapparat ausgeschaltet, hätte er den Klingelton nicht gehört. Dann hätte Matthias ihn nicht mehr erreicht. Dann wäre Johannes zur Universität gefahren und die nächsten acht Stunden außer Reichweite gewesen. Acht Stunden später wäre es in Deutschland Nacht, fast schon der nächste Tag gewesen. Matthias hätte geschlafen und nicht noch einmal angerufen. Und am nächsten Tag wäre Johannes als Möglichkeit vielleicht nicht mehr in den Gedanken seines Schwagers gewesen. Dann wäre Miriam ihren Weg weitergegangen, und er, Johannes, wäre seinen Weg weitergegangen. So wie sie es dreißig Jahre lang getan hatten – er auf seinem Kontinent, sie auf ihrem, er in seiner Sprache, sie in ihrer, er in seinem Dorf, das eine Universität war, sie in ihrem, das eine Sekte war. Kontinente, Sprachen, Welten, Dörfer. Sie waren auseinandergewachsen, seit jenem Morgen, als Johannes den Koffer gepackt und das Haus verlassen, seit er den Bus, dann den Zug, dann das Flugzeug genommen hatte, seit er geflüchtet war – weg von den Eltern, weg von den Gemeindeältesten, weg von den Gemeindegesetzen.



Er legte den Rasierapparat auf den Waschbeckenrand und lief zum Telefon. »Hello?«



Es rauschte. Da war eine Stille, dann ein Klicken, und er hörte: »Hallo, Johannes.« Der offene Vokal im Hallo und das ohne die Explosion am Anfang seines Namens gesprochene J – er hörte es gern. In den drei Jahrzehnten, die er in der englischen Sprache gelebt hatte, hatte er sich nie an den Klang seines Namens gewöhnt.

Tschohännis

. Oder gleich:

Tschohn

. Dass er inzwischen länger in dieser raubeinigen Sprache gelebt hatte als in der, in der er aufgewachsen war, spielte keine Rolle.

Johannes

. Die erste Aussprache gehörte zu ihm, die zweite blieb ihm fremd; die erste, das war er; die zweite hing an ihm wie ein maßgeschneidertes Jackett, das für einen anderen, einen deutlich korpulenteren Mann bestimmt war.



»Es ist wegen Miriam«, sagte Matthias von der anderen Seite des Atlantiks herüber. Seine Worte brauchten eine Weile, bis sie angekommen waren. Das verwirrte das Gespräch. Matthias zögerte. Johannes zögerte. Das Rauschen wurde stärker, dann schwächer. Matthias sagte: »Sie hat sich …« Dann war Stille. Er sagte: »Wir brauchen dich.« Er sagte: »Jetzt.« Dann war es wieder still.



Johannes hörte auf seiner Seite des Atlantiks, viertausend Meilen weit weg, wie Matthias ein- und ausatmete. Es war fast schon ein Blasen, wie Matthias ausatmete. Dieser Anruf fiel ihm, das spürte Johannes, nicht leicht. Er hatte Matthias nie persönlich kennengelernt, nur ein paarmal in Skype-Gesprächen erlebt. Verschwommen. Der Mann, den Miriam geheiratet und mit dem sie zwei Kinder bekommen hatte, arbeitete in einer Maschinenfabrik. Er war ruhig, zuvorkommend, kompetent, aber alles andere als gesprächig. Dieser Anruf kostete ihn Überwindung. Eine ganze Weile sagte er nichts. Johannes schwieg ebenfalls. In ihm war etwas explodiert. Er blutete. Was hätte er sagen sollen? Er spürte die Wunde. Er wusste, welche Worte als nächste kommen würden. »Sie hat sich …« Es gab nicht viele Möglichkeiten, wie der Satz enden konnte. Johannes hatte diesen Anruf erwartet, schon Jahre. Jetzt war er da.



»Ja?« Matthias sollte die Worte aussprechen, erst dann würden sie gelten. Johannes sagte: »Sie hat sich … Was?«



Blätter, die der Wind über Nacht von den Bäumen geweht hatte, lagen in der Einfahrt – es gab endlos viele Variationen von Gelb und Rot und Braun und Orange. White Oak, Red Maple, Hickory, Dogwood.



»Sie hat sich selbst eingewiesen«, sagte Matthias.



»Selbst eingewiesen?« Das war doch etwas Anderes, als er erwartet hatte. Johannes wiederholte: »Selbst eingewiesen?« Er sagte es in einem Ton, der erleichtert klang. Das war ihm nicht recht. Aber die Worte waren draußen. Sie waren viertausend Meilen weit gereist. Eine unpassende Reaktion. Trotzdem. Er musste es zulassen. Vielleicht hatte Matthias den Tonfall wegen der schlechten Verbindung nicht wahrgenommen.

Selbst eingewiesen

. Diese Worte gab es nur in einem Zusammenhang. Johannes sagte: »Wo?«



Ein Windstoß bewegte die Blätter. Der Wind kam aus dem Westen heute. Das war angenehm. Westwinde brachten trockene Luft aus der Prärie.



»Irrenanstalt«, hatten sie die Klinik am See genannt, als die Vollzugsanstalt noch »Zuchthaus«, das Kinderheim »Waisenhaus« und das Fachkrankenhaus für Suchtkranke »Trinkerheilstätte« hießen. Er kannte die Klinik. Sie war in einem ehemaligen Klostergebäude untergebracht. Er kannte den langen, vierstöckigen Backsteinbau. Rot leuchtete er über den See. Klinik Sankt Georg am See. »Du bist doch plemm plemm. Du gehörst ins Sankt Georg.« Das war auch so ein Spruch aus der Kindheit.



»In die Klinik am See«, sagte Matthias.



Schwester und Bruder. Bruder und Schwester. Johannes war sieben Minuten älter als sie. Mädchen und Junge. Brüderchen und Schwesterchen. Sie schwammen. Ihre Gesichter schwebten über dem Wasser. Spiegelten sich. Es war ein Spiel, bei dem beide lachten.



Johannes und Miriam. Kuss und Kussi nannten sie einander. Johannes sagte: »Komm, wir wollen miteinander in die weite Welt gehen.« Sie sagte: »GOtt und unsere Herzen weinen zusammen. Ich gehe nicht mit.« Johannes sagte: »Wer aus mir trinkt, wird ein Tiger.« Sie sagte: »Zum Glück konntest du dich so lange beherrschen, bis du nur ein Reh geworden bist.«



Vor dem Spiegel verglichen sie ihre Augen. »Genau gleich.« Sie verglichen, wer zuerst einen Zahn verlor. Sie verglichen, ohne Spiegel, welche Buchstaben sie gleich und welche sie anders schrieben, wer an Weihnachten das bessere Geschenk bekam, wer zuerst bruchrechnen und Fahrrad fahren konnte. Sie richteten sich ein in ihrem Vergleichen. Sie und er. Er und sie. Mit und ohne Spiegel. Er war ihr Zuhause. Sie war seins. Es gab nur sie.



Die Blätter bewegten sich in der Einfahrt. Matthias sagte: »Sie braucht dich.« Matthias sagte, das habe er ihm nur mitteilen wollen. Was er jetzt tue, ob er bleibe oder komme, das sei, ganz klar, ihm, Johannes, selbst überlassen.



Die Blätter. Gelb und Rot und Braun und Orange. Er hatte seinen Kalender in der kommenden Woche voll mit wichtigen Terminen. Er korrigierte sich. Er hatte den Kalender voll mit Unwichtigem, das er für wichtig halten musste, damit er sich für wichtig halten konnte. Und Brunhilde und Silky, Hündin und Kätzin, konnte Naomi versorgen. Sie hatte für die nächste Woche keine Reise in ihrem Kalender.






2





Er sah diesen Raum heute zum ersten Mal auf dem Flughafenplan. Room Number 99. Religious Reflection Room. Im dritten Stock des Flughafengebäudes war dieser Raum. Und weil er zwei Stunden bis zu seinem Anschlussflug hatte, fuhr Johannes mit dem Aufzug hinauf. Aus Neugier, sagte er sich. Aus Langeweile, sagte er sich. Religious Reflection Room.



Als er die Tür öffnete, mussten sich seine Augen zuerst an das Dämmerlicht im Inneren gewöhnen. Überall sonst auf dem Flughafen gab es dieses schattenlose Neonlicht. In diesem Raum gab es ein paar gedimmte Leuchten, abgeschirmt und nur zur Decke hin offen. Vor ihm kniete eine Frau. Das sah er. Sonst war niemand da. Nur diese Frau in ihrem schwarzen Umhang mit schwarzer Kopfbedeckung, die ihm dem Rücken zuwandte und sich immer wieder auf den Knien nach vorn beugte. Er hatte die Tür geöffnet, ohne anzuklopfen. Jetzt stand er da und hielt die Türklinke in der Hand. Sie kniete, aufrecht. Dann beugte sie den Oberkörper nach vorn, die Gewänder gaben ein seufzendes Geräusch von sich. Die Frau ging auf die Hände, tief, so tief, bis die Stirn den Teppich berührte, auf dem sie kniete. Goldgelb und schwarz war der Teppich, mit runden Mustern. Das sah er. Er nahm immer mehr Farben wahr – das Karminrot der Stuhlpolster entlang der Wände. Das hellere Rot der Bücher, die auf manchen Stühlen lagen. Die Frau richtete sich auf. Sie atmete ein. Er hörte es. Sie atmete tief ein. Dann beugte sie sich wieder nach vorn und ließ die Stirn den Teppich berühren, genau an der Stelle, wo der Teppich einen goldenen Kreis hatte. Es war, als müsse ihre Stirn diesen Kreis berühren, damit alles seine Richtigkeit habe. Sie atmete. Blieb kniend ruhig aufrecht. Das Aufrichten und Sichvorbeugen, bis die Stirn den Kreis berührte, geschah in einem Rhythmus. Es war eine eigene Art des Atmens. Es war ein Körperatmen. Unter schwarzen Gewändern. Bei ihr. Und er atmete mit.

 



Weil er hinter ihr stand, mussten sie nicht entscheiden, wie sie sich zueinander verhalten sollten. Sie brauchten einander nicht auszuweichen, denn sie sahen einander nicht in die Augen. Sie brauchten einander nicht zu grüßen. Trotzdem spürte Johannes, dass sie vor ihm dagewesen war. Sie hatte das Recht, den Raum für sich zu beanspruchen. Sollte er wieder hinausgehen? Er konnte sich nicht entscheiden. Er wollte nicht stören. Religiös war er nicht mehr. Aber der Raum zog ihn an. Die Ruhe. Die dezent beschirmten Lampen an den Wänden. Er. Sie. Wir. Es gab kein Wir. Auch wenn sie und er im selben Raum waren. Und doch nahm er ein Wir wahr.



Er atmete, tief, und schaute ihr zu. Die Umrisse ihres Körpers unter dem Gewand. Die Frau war gedrungen, kräftig und jung. Die einfache Leichtigkeit, mit der sie Rücken, Hüften und Nacken bewegte. Er sah die Haut an den Händen, die nicht vom Gewand bedeckt war. Sie war jung. Aber sie war alt genug, um die Mutter von drei Kindern sein zu können. Alles war möglich. Nichts musste sein. Dass alles möglich war, nichts aber so sein musste, wie er es sich vorstellte, hatte etwas Befreiendes. Er schaute diesem Rhythmus, diesem Wechsel von Stille und Bewegung zu. Dieser Hingabe. Da war etwas Aufrichtiges in ihr. Sie hatte etwas gefunden. Und sie vertraute. Sie besaß das Vertrauen, dass ihr beim Beten in diesem Raum nichts geschehen würde. Sie hatte sich nicht umgewandt, als er die Tür öffnete. Sie beugte sich nach vorn, ließ die Arme vornüber gleiten und berührte mit der Stirn den Teppich. Das war ein Sich-klein-Machen, ein Akzeptieren, ein Atmen, ein Duft, eine Demut.



Vielleicht störte er sie, indem er hinter ihr stand und atmete und zuschaute – und nichts tat. Doch er hatte, sagte er sich, dasselbe Recht, hier zu sein, wie sie. »Religious Reflection Room.« Ein Religious Reflection Room stand allen zur Verfügung. Allen Konfessionen. Da gab es kein Vorrecht. Es gab kein Besitzen. Alle hatten ein Recht, hier zu sein. Also auch er. Er trat einen Schritt nach vorn und schloss die Tür hinter sich.






3





Als Miriam und er noch im selben Zimmer schliefen, mussten sie, denn der Herr JEsus sah alles, ihre Sachen ordentlich auf den Stuhl legen. Außerdem sollten die Leute, falls der Herr JEsus sie in der Nacht zu sich in den Himmel heimholte, nicht sagen, sie wären unordentlich gewesen. Wenn es dunkel war, lauschte er hinüber. Atmete sie noch? Hatte der Herr JEsus sie schon zu sich geholt? War sie, wie die Eltern das sagten, heimgegangen?



Holte ER einen im Schlaf, dann hieß es, man sei entschlafen. Eingegangen in den Himmel, wo ER zur Rechten GOttes, des ALlmächtigen, des SChöpfers des Himmels und der Erde saß. Dort hinauf nahm ER einen. Eigentlich nahm ER nur das Atmen mit. Alles andere blieb zurück. Die körperliche Hülle blieb im Bett liegen. Deshalb konnte Miriam da liegen und schon entschlafen sein. Sie atmete so leise. Und das Heben und Senken ihres Brustkorbes konnte er unter der Bettdecke unter der dunklen Dachschräge nicht erkennen.



»Müde bin ich, Gehzuruh, mach die müden Äuglein zu.« Er stockte manchmal, denn zum Gehzuruh wollte er eigentlich nicht beten. Das war eine Sünde. Aber die Eltern beteten es vor. Also war es keine Sünde. Johannes und Miriam stellten sich Gehzuruh als einen Verwandten von Rübezahl vor: ein Riese mit Bart, der ihm lockig und verworren wie Moos bis auf die Erde hinunterreichte. »Müde bin ich, Gehzuruh.«



Miriam sagte: »Gehen Alche.«



»Was soll das heißen?«



»Ich weiß nicht. Aber mir gefällt es.«



Er sprach die Worte nach. »Gehen Alche.« Das klang weich. Das klang angenehm. Er sagte: »Arlorn.«



Das sagten sie, wenn sie abends noch wach im Bett lagen und das Licht aus war: »Gehen Alche.« »Arlorn.« »Ja, Arlorn.« »Ja, Alche.«



Arlorn war der Edelsteinschmuck, den Gehzuruh im Bart trug. Gehen Alche war das silberne Moos, das im Paradies von den Bäumen hing.



Sie hob den Unterarm an die Nase und sagte: »Der Fleck in meiner Haut riecht komisch.« »Wie?« »Wie ein Regenwurm.« »Gut oder schlecht?« »Das kommt drauf an. Willst du mal riechen?« »Pfui Teufel. Wer weiß, wo der schon überall rumgekommen ist.«



Johannes und Miriam.



»Müde bin ich, Gehzuruh, mach die müden Äuglein zu. VAter, lass die Augen dein über meinem Bette sein. Hab ich Unrecht heut getan, sieh es, lieber GOtt, nicht an. Mache DU durch CHristi Blut allen meinen Schaden gut.«



Das war auch eine Möglichkeit, dass mit Blut alles wieder gut gemacht wurde.



»Und wenn der Engel Gabriel kommt und uns mitnimmt?« Der Engel Gabriel hatte lange Haare und ein langes Schwert. Johannes sagte: »Er ist eine Frau.« Miriam sagte: »Er ist ein Mann. Sonst würde er Gabriele heißen, und ein Schwert hätte er auch nicht.« »Quatsch mit Soße und dreimal draufgeschissen.«



»Und wie stellst du dir das Entschlafen vor?« »Ich weiß nicht. Wie das Einschlafen.« »Oder wie auf einem Schlitten. Man schläft bis ans Ende. Dann kommt eine Mauer und das Gottesfeld.« Endschlafen. So hieß das für ihn in der Nacht, wenn das Licht aus war. Miriam schlug die Decke zurück und stand noch einmal auf. Sie stellte die Hausschuhe noch ordentlicher vors Bett. Das konnte sie in der Dunkelheit. Sie hatte Übung.






4





Am Tag, als in der sechsten Klasse im Biologieunterricht die Rollläden heruntergingen, langsam und surrend, begann die Trennung. Er blickte auf die Dias, die vor ihm, die vor ihnen aufleuchteten, und er hörte die Stimme aus dem Lautsprecher. Von einer Schallplatte kam diese Stimme. Es war die Männerstimme der Wissenschaft, die aus dem Dunkeln tönte und erklärte, was er sah, was sie sahen. Ihm war heiß, weil er auch alles war, was er auf den Bildern vor sich sah. Dass er auch alles war, was er sah, war in Ordnung. So kannte er sich. So ungefähr wenigstens. Und dass die anderen es sehen konnten, damit konnte er sich abfinden. Das ging. Von ihm aus. Das durfte so sein. Aber sie war auch alles, was ihnen gezeigt wurde. Jedes Bild. Nackt. Mehr als nackt. Die Bilder gingen in sie. Sie zeigten, wie sie innen aussah. Er blickte. Er starrte. Er hörte die Worte, die aus dem Plattenspieler kamen. Ihm wurde noch heißer.





Den Aufgaben entsprechend, welche die Natur der Frau zugewiesen hat, ist der weibliche Körper sowohl in seinem Aufbau als auch in seiner Funktion geschaffen. Im Körper der Frau wird der neue Mensch gebildet und reift dort zur Lebensfähigkeit heran. Damit dieser Vorgang ungestört vor sich gehen kann, liegen die weiblichen Geschlechtsorgane gegen äußere schädliche Einflüsse gedeckt in der Beckenhöhle, die von festen Knochen umgeben ist. Die inneren Geschlechtsorgane der Frau bestehen aus den Eierstöcken, den Eileitern, der Gebärmutter und der Scheide. Die Eierstöcke sind die Behälter der weiblichen Keimzellen. Sie bestehen aus zwei bohnenförmigen Körpern, welche links und rechts von der Gebärmutter an der rückwärtigen Wand des breiten Mutterbandes befestigt liegen. Sie bestehen aus einem inneren Mark, das Blutgefäße und Nerven enthält, und einer äußeren Rinde, welche zahllose kleine Kügelchen, die sogenannten Primärfollikel, beherbergt, und in diesen Primärfollikeln liegt das menschliche Ei. Dieses ist ungefähr 0,2 Millimeter groß und besteht aus der Eihaut und dem Eidotter. Im Eidotter befindet sich das Keimbläschen mit dem Keimfleck. Sämtliche Eier sind bei der Geburt bereits vorhanden und werden im Leben nicht mehr gebildet. Ihre Zahl wird ungefähr auf 60.000 geschätzt. Das weibliche Becken wird von einem breiten Band, dem sogenannten Mutterband, durchzogen.





Als die Neonröhren wieder anflickerten, die Stunde vorbei war und sie wieder hinausrennen durften, blieb er sitzen. Er wollte mit niemandem reden. Er wollte niemanden sehen. Er wollte keine Witze hören. Er wollte nur sitzen bleiben und niemanden und nichts sehen. Auch sie wollte er nicht sehen. Gerade ihr wollte er nicht begegnen. Immer wieder hatte er Worte gehört, die er nicht verstand. Worte, die zu ihr gehörten