Kitabı oku: «Im Fluss – Seele in Bewegung», sayfa 2
Schließlich ist sie, wie alle Kinder, auf die Liebe und Zuwendung der Eltern angewiesen. Kinder verbiegen sich lieber, als dass sie diese Liebe aufs Spiel setzen.
Voraussetzung auf Seiten des Kindes ist, dass es gelernt hat, zu erspüren, was die Eltern wollen. Bösartig könnte man sagen, die Eltern haben die Verantwortung, die eigentlich sie für das Aufzeigen von Grenzen haben, auf die Kinder abgewälzt. Das haben meine Eltern ganz sicher nicht gewollt – dennoch habe ich es so empfunden. Ich spekuliere: Vermutlich war es eine Gegenreaktion meiner Eltern auf als zu hart empfundene Grenzsetzung in der eigenen Kindheit …
Wie sehr hätte ich mir als Kind gewünscht, mal einen Grund zum offenen Protest zu bekommen! Aber es blieb bei heimlichem Grummeln. Einzig gegen den Großvater habe ich mich als junge Erwachsene einige Male, wenn ich mich von ihm provoziert oder genervt fühlte, deutlich positioniert – nicht etwa mit ihm konstruktiv auseinandergesetzt.
Kein Wunder, dass offene Auseinandersetzungen, die in meiner Kindheit so gut wie nicht stattfanden, mir im späteren Leben so viel Mühe bereitet haben. Kein Wunder auch, dass ich Zeit meines Lebens Probleme mit der Haut, dem Grenzorgan des Menschen hatte. Ich habe oft den Eindruck gehabt, dass ich nicht spüren kann, wo ich aufhöre und der andere anfängt. (Dass genau dieses Verschwimmen der eigenen Grenzen auch ein Segen sein kann, darauf komme ich im Kapitel „Spiritualität“ noch einmal zurück.) Kein Wunder, dass ich lange Zeit Grenzverletzungen von anderen zugelassen habe.
Und die andere Seite der Medaille kenne ich auch: In vorauseilendem Gehorsam, ja, fast schon übergriffig, Dinge für andere zu tun, von denen ich dachte, dass sie von mir erwartet werden. Das hat es mir auch in der Jugend schwergemacht, zu einer Peergroup, wie man es heute nennt, zu gehören. Ich war mir nie sicher, wie ich mich eigentlich verhalten sollte. Ich bin auf Menschen geflogen, die mir nicht bekömmlich waren, weil sie oft nicht das meinten, was sie sagten, und es mir überließen, herauszuhören, um was es eigentlich ging. Dass es Menschen in meinem direkten Umfeld gibt, die anders sind, die tatsächlich offen sagen, was sie möchten, und es dann auch wirklich stimmt, habe ich erst spät erleben dürfen. Das lag unter anderem natürlich auch daran, dass ich Menschen durch meine Projektionen oft gar keine echte Chance geben konnte, von mir als authentisch wahrgenommen zu werden, weil in mir gleich das Programm „Zwischen-den-Zeilen-lesen“ ansprang.
Nochmal zurück zu der fehlenden Möglichkeit, offene Auseinandersetzung zu lernen. Selbstverständlich habe ich in den Augen meiner Eltern nicht immer alles richtig gemacht. Die Reaktion meiner Mutter war dann, mir – natürlich nonverbal – Verletzung zu signalisieren. Die Reaktion meines Vaters ging dahin, mich spüren zu lassen, dass es nicht genügte, dass ich mir nicht genug Mühe gegeben hatte. Auch dieser Satz wurde nie ausgesprochen …
Dieses „Es genügt nicht“ hing eigentlich am längsten als Damoklesschwert über meinem Haupt und wirkte gleichzeitig als innerer Antreiber.
Sehr berührt hat es mich, als ich mit meinem Vater in seinen letzten Lebensjahren über diesen Satz sprach. Zu dem Zeitpunkt war längst ein intensiver, offener und wertschätzender Austausch über das, was uns bewegt, möglich und wir haben ihn beide als durchaus bereichernd erlebt. Er sagte nämlich unter Tränen zu mir: „Aber das ist doch mein Satz den solltest du nie übernehmen.“
Die Präambel in unserem ungeschriebenen Familiengesetzbuch würde ich heute so formulieren:
Mit gutem Willen und entsprechender Anstrengung, darauf achtend, dass man niemandem zu nahe tritt oder ihn gar verletzt, kann man fast alles schaffen, und man ist ein Leben lang für das verantwortlich, was man sich vertraut gemacht hat.
Wie alle Eltern wollten die meinen uns bestmöglich auf das Leben vorbereiten.
Ich bin sicher, dass es ihnen dabei enorm wichtig war, uns zu unabhängigen, sich ihrer Stärken und Schwächen bewussten, nicht verführbaren Menschen zu erziehen. Aber wie das so ist mit den guten Absichten: Nicht immer wählen wir die richtigen Mittel, um das angestrebte Ziel zu erreichen. Das mit der Unabhängigkeit und der Nichtverführbarkeit hat bei mir jedenfalls nicht so gut funktioniert …
DER PANTHER
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf – dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille
– und hört im Herzen auf zu sein.
R. M. Rilke
2 PSYCHODYNAMIK
Finden wir uns im Leben in einer Krise vor, ist zunächst einmal all das, was dann in uns abläuft, eine völlig normale Reaktion auf eine außergewöhnliche Situation. Ein krisenhaftes Ereignis kann ganz plötzlich von außen auf uns zukommen oder auch etwas Innerliches sein, was plötzlich oder auch schleichend dazu führt, dass die gewohnten Bewältigungsstrategien, zumindest vorübergehend, außer Kraft gesetzt werden.
Nicht die konkrete Gestalt eines Ereignisses macht es zur erlebten Krise; das tun einzig und allein unsere Bewertungen. Bewertungen aber sind immer das Ergebnis unserer in der Vergangenheit gebildeten Annahmen und Erfahrungen. Mit denen gehen wir in die Krise. Mit denen versuchen wir, die Krise zu überstehen.
Insofern sind auch die Grenzen zwischen temporären Sackgassen, dem, was wir landläufig Krise nennen, und dem, was wir – ebenso landläufig, inflationär und ungenau – Trauma nennen, fließend. Mir scheint an der Stelle der Begriff Traumafolgestörung zutreffender. Die Traumafolgestörung zeichnet sich aus oder entsteht, bzw. besteht fort, durch Aufrechterhalten der Illusion, dass die als vernichtend erlebte Bedrohung nach wie vor da ist. Das heißt nichts anderes, als dass wir uns auf die inneren Bilder fokussieren, die wir selber produzieren, ohne es überhaupt zu bemerken. Es ist ein Werk unseres Bewusstseins, welches sich zwischen den Menschen und sein Selbst schiebt und ihn dadurch von der unmittelbaren Wahrnehmung trennt: Sonst würde er nämlich merken, dass die Bedrohung bereits vorüber ist. Das Nicht-vergessen-Können bringt Leid. Dabei geht es nicht darum, die Ereignisse, die Szenarien der als Bedrohung erlebten Situation zu vergessen; vielmehr geht es um das Vergessen der damit verbundenen Gefühle, wissend, dass die Ereignisse selbst vorbei sind.
Allen krisenhaften Ereignissen ist gemeinsam, dass eine Situation entsteht, in der unsere Selbstwahrnehmung nicht mehr mit den äußeren Gegebenheiten übereinstimmt. Der Fachbegriff dafür lautet Inkohärenz und wurde in den 1970er-Jahren von Aaron Antonovsky, dem „Vater der Salutogenese“, eingeführt. Kohärenz besteht demzufolge immer dann, wenn das persönliche Empfinden, wenn all das, was ein Mensch täglich erlebt und erfährt, was er wahrnimmt, gut zu seinen eigenen Erwartungen passt.
In jedem lebendigen Organismus ist das Bestreben angelegt, immer dann, wenn ein Gefühl der Inkohärenz entsteht, dafür zu sorgen, dass es sich möglichst bald wieder in einen Zustand der Kohärenz wandelt. Ganz einfach ausgedrückt: Wenn wir uns schlecht fühlen, tun wir alles dafür, dass es uns bald wieder besser geht. So weit – so gut. Kritisch wird es erst dann, wenn wir eben nicht nur genau das, was wirklich notwendig wäre, tun, sondern überlagert sind von Vorstellungen all dessen, was auch noch dazu beitragen könnte oder müsste. Ob wir dabei nämlich immer die richtigen Entscheidungen treffen, die richtigen Mittel wählen, steht auf einem anderen Blatt.
Das Bestreben, Kohärenz herzustellen, ist ein energetischer Prozess und beruht auf einem physikalischen Gesetz. Gehen wir nämlich davon aus, dass Energie innerhalb eines Organismus nicht verloren geht, sondern nur verwandelt wird, leuchtet ein, dass mit Entstehen von Inkohärenz das natürliche Ziel darin besteht, die gefühlte energetische Wandlung zum Negativen so gering wie möglich zu halten und zum Kohärenzzustand zurückzukehren.
Betroffene finden sich sozusagen in einem „Energiekäfig“ (Schellenbaum) vor, eingesperrt und den vergeblichen Versuchen, sich mit bekannten und erdachten Strategien daraus zu befreien, ausgeliefert. Sie übersehen, dass die Energie, die dabei, wie oben erwähnt, nicht verloren geht, sich gegen den Betroffenen wendet und der Selbstzerstörung Vorschub leistet. So verhindern sie die Öffnung des Energiekäfigs. Es ist das, was Rilkes Panther (s. o.) erlebt. Die winzigen Bilder, die hin und wieder durch seine Pupille hineinfallen, die ihm einen Ausgang aus dem Käfig zeigen könnten, weiß er nicht zu nutzen, und „sie hören im Herzen auf zu sein“.
Je länger der inkohärente Zustand anhält, desto mehr Energie wird verbraucht – schlimmstenfalls, nämlich immer dann, wenn es nicht gelingt, in den Zustand der Kohärenz zurückzufinden, führt das zum Tod. Nicht unbedingt zum realen Tod, wohl aber in die Selbstzerstörung und zum Absterben von Lebendigkeit. Ob sich das in Form einer Depression, Sucht, Flucht, Neurose oder schlimmstenfalls in einem Selbstmord niederschlägt, ist von vielen Faktoren abhängig. Der wichtigste Schutzfaktor ist nach heutigem Verständnis in diesem Zusammenhang Resilienz.
Noch spannender ist jedoch die Frage, was genau Menschen im Zustand der Inkohärenz tun.
Nun, zunächst können wir versuchen, die äußeren Umstände zu verändern, damit es wieder passt. Funktioniert das nicht, weil beispielsweise der eigene Einfluss auf die Gegebenheiten nicht wirksam ist, braucht es eine andere Lösung.
Wir müssen uns also uns selber zuwenden und herausfinden, wie wir unsere eigene Befindlichkeit verbessern können. Das ruft zunächst einmal die bekannten Abwehrmechanismen auf den Plan. Damit versuchen wir, uns das Problem vom Leibe zu halten. Abwehrmechanismen sind z. B. Leugnung, Verdrängung, Rationalisierung, Flucht in Süchte jeglicher Art, Verkehrung ins Gegenteil, Schuldzuweisung, Vergleichs- und Bewertungszwang – um hier nur einige zu nennen.
Vorübergehend – auch eine sehr lange Zeit ist vorübergehend – und vordergründig kann uns das durchaus Entlastung verschaffen: Wir fühlen uns einfach wieder besser. Dass das Problem nicht gelöst ist, nehmen wir gar nicht wahr und je öfter und je länger wir uns Probleme auf diese Weise vom Hals halten, desto weniger sind wir irgendwann überhaupt noch in der Lage, sie zu spüren, wahrzunehmen. Die Verschaltungen im Gehirn, die dazu nötig wären, sind längst stillgelegt: Sie werden ja anscheinend nicht mehr gebraucht, und was nicht gebraucht wird, stellt irgendwann seine Tätigkeit ein. Das ist in unserem Gehirn nicht anders als bei Muskeln, die wir nicht benutzen. Auch das Gehirn ist ein lebendiger Organismus (die Plastizität des Gehirns zweifelt heute vermutlich niemand mehr an), und der braucht adäquate Reize, um seine Arbeit zu tun.
Fatalerweise unterscheidet das Gehirn nicht zwischen nützlichen und weniger nützlichen Reizen zum Ausbau von Verschaltungen. Es reagiert auf das, was wir ihm abverlangen, also immer und immer wieder nutzen. Das heißt, wenn es wieder und wieder das angeboten bekommt, was ich oben als Abwehrmechanismen aufgeführt habe, dann tut das Gehirn brav seine Arbeit und baut die dafür nötigen Verschaltungen weiter aus – sie werden zum Selbstläufer. Diese Verschaltungsstraßen scheinen ja so wichtig zu sein, dass es gut ist, wenn der Zugriff darauf schnell und ungestört erfolgen kann. Das spart in jedem Fall Energie. Die „Straßen“ werden immer besser ausgebaut. Gerald Hüther vergleicht das, was da entsteht, mit „Autobahnen“. Auf Autobahnen kommt man schnell und bequem von A nach B, muss sich keine Gedanken machen, dass plötzlich Abzweigungen oder Ampeln auftauchen usw. Mehr oder weniger große Verkehrsstörungen nutzen wir selten als Gelegenheit, über die Sinnhaftigkeit der Strecke, die wir gerade fahren, nachzudenken. Wir hoffen einfach, dass es bald vorbei geht. Und es erschließt sich von allein, was uns dabei entgeht: z. B. die Möglichkeit, rechts oder links vom Weg etwas wahrzunehmen – dazu sind wir entweder zu schnell oder zu fokussiert auf den Wunsch, endlich anzukommen, unterwegs.
So ist es mit vielen Mustern, die wir im Laufe unseres Lebens entwickeln. Dabei haben Muster an sich durchaus ihre Berechtigung und können sehr hilfreich sein: Will ich zum Beispiel etwas vom Boden aufheben, bediene ich mich des in meinem Gehirn verschalteten, dazu passenden Bewegungsmusters, was nichts anderes heißt, als dass ich nicht über die unzähligen winzigen Teilschritte und Bewegungen, die für den komplexen Vorgang des Aufhebens nötig sind, im Einzelnen nachdenken muss. Ich benutze das Muster „Aufheben“. Punkt. Und es funktioniert. Die Sache ist schnell und ohne großen Energieaufwand erledigt. Das, was für abgespeicherte Bewegungsmuster gilt, gilt genauso auch für Denk- und Verhaltensmuster. Wen das Thema interessiert, der kann unter dem Stichwort „Embodied Cognition“ oder „Embodiment“ Aufschlussreiches dazu finden. Dabei geht es immer um die Wechselwirkung zwischen Körper und Geist.
Ich erwähne das hier vor allem deshalb, weil es mich wieder zurückführt in meinen eigenen Lebensfluss. Auf andere Zusammenhänge, die sich mir bei diesem Thema plötzlich zeigten, gehe ich später ein.
Die zentrale „Stauung“ in diesem Fluss, mit der ich auf Grund meiner Lebensgeschichte immer wieder beschäftigt war, ergibt sich aus dem bereits im ersten Kapitel erwähnten Satz: „Es genügt nicht.“ Im Folgenden nenne ich diesen Satz, aus zum Verständnis nicht notwendigerweise zu erläuternden Gründen, meinen Komplexsatz.
In mein Bewusstsein fiel er im Zusammenhang mit ignatianischen Schweige-Exerzitien, die ich vor vielen Jahren machte. Eine Aufgabe bestand darin, ein Bild des eigenen Lebens zu malen. An sich war mein Bild fertig; aber dann fing ich an, es hier und da zu verbessern – bis es am Ende fast ruiniert war. Und auf einmal war er einfach da, dieser Satz, der ja, wie bereits erwähnt, in meiner Familie nie ausgesprochen worden war.
Und er hieß er genau so: „Es genügt nicht.“ Nicht etwa: „Ich genüge nicht“, oder: „Es genügt mir nicht“, auch wenn diese beiden Varianten untrennbar dazugehören.
Mein Leben lang war ich mehr oder weniger unbewusst damit beschäftigt, das richtige Maß zu finden. Dazu habe ich alles Mögliche in meinem Musterkoffer gehabt: Flüchten genauso wie Standhalten. Beides wechselte sich ab und manchmal hieß mein Satz einfach: „Jetzt reicht’s!“ Um im Flussbild zu bleiben: Es gab zahlreiche Kurven und Schleifen, die in ihren jeweiligen Umschlagpunkten weit voneinander entfernt lagen; ich geriet von einem Extrem ins andere, so dass man sich leicht denken kann, wie mühsam das Vorwärtskommen war. Ich habe oft lange gebraucht, um von so einem weit entfernten Umschlagpunkt wieder zurück in die Flussmitte, in meine Mitte, zu kommen. Im Laufe der Zeit sind die Schleifen und Kurven zum Glück kleiner geworden.
Ich will versuchen, die zwei wichtigsten dieser Umwege aufzudröseln. Den vermutlich nachhaltig wirksamsten nenne ich den „Sisyphosmythos“.
Mit unendlich viel Anstrengung habe ich versucht, meinen Weg zu gehen und vermeintliche Steine weggeräumt, nur um jedes Mal wieder zu erleben, wie der mühsam wegbeförderte Stein zurückrollt. Egal um was es ging: Das Erleben war immer gleich.
Meine Träume hatten lange Zeit häufig diese Themen: Ich renne einen Berg hinauf, bin völlig außer Puste und kaum oben angekommen, sehe ich, dass sich dahinter schon der nächste Berg auftürmt.
Oder: Ich versuche, einen Zug zu erreichen und werde auf dem Weg zum Bahnhof von so vielen Hindernissen, noch zu erledigenden Arbeiten oder Menschen, die was ganz Wichtiges von mir wollen, aufgehalten, dass ich gerade noch die Rücklichter sehe, wenn ich den Bahnhof endlich erreiche.
Später veränderte sich der Zug-Traum dahingehend, dass mir jemand ein Fahrrad anbot, mich auf den Radweg parallel zur Bahnlinie hinwies und meinte, ich könne mit dem Rad ganz leicht den Zug bis zum nächsten Bahnhof einholen. Immerhin. Allerdings erinnere ich mich an keinen Traum, in dem das tatsächlich gelang; dennoch: Ich habe das Rad genommen und war deutlich entspannter unterwegs.
Dieses Steine-aus-dem-Weg-Räumen war oft so anstrengend, dass ich mich danach belohnen musste – sonst hat’s ja keiner getan. Als Belohnung konnte alles Mögliche dienen – da sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt. An der Stelle hat es mir nicht genügt, weil ich nicht genügt habe. Der direkt spürbare Erfolg meiner Bemühungen, der mich hätte belohnen können, blieb nämlich – nicht immer, aber, gefühlt, meistens – aus.
Man kann sich leicht vorstellen, dass so viel Anstrengung dem Körpergedächtnis nicht verborgen bleibt und sich dort niederschlägt. So entsteht eine gewisse Starrheit, Unbeweglichkeit. Ich habe die Neigung, mich allem mit Kraft entgegenzustemmen, was durchaus zu Verletzungen geführt hat. Ich erinnere mich an eine Situation am Meer, als ich versuchte, in heftiger Brandung fest stehen zu bleiben, anstatt mich einfach von der Welle mitnehmen zu lassen; das hat mir eine scheußliche Knieverletzung eingebracht.
Mehrfach musste ich unerwartet irgendwo abspringen und konnte nicht in den Knien nachgeben, so dass auch da Verletzungen entstanden. Das ist Standhalten – im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn ich dagegen meinen Mann beobachte, der ziemlich häufig fällt, ob mit dem Fahrrad, beim Wandern oder Squash, so sehe ich, wie er abrollt und die Sturzbewegung einfach mitvollzieht und sozusagen auslaufen lässt. Er bricht sich dabei zwar schon mal die Rippen, aber dennoch ist sein Sturzverhalten eine intuitive, fließende Bewegung und kein Sich-Entgegenstemmen. Ebenso hat er beim Radfahren eine viel höhere Umdrehungszahl als ich und passt sich dadurch den landschaftlichen Gegebenheiten viel besser an, während ich fast ausschließlich mit Kraft fahre. Fahrräder ohne schwere Gänge mag ich nicht; denn wenn der Widerstand fehlt, spüre ich mich nicht wirklich.
Oft erwische ich mich dabei, dass ich meinen Kiefer zusammenpresse; auch so ein typischer, körperlicher Ausdruck des verinnerlichten Satzes: „Zähne zusammenbeißen, zusammenreißen und durch.“
Viele Muster in meinem Leben weisen mich auf die Untrennbarkeit von Körper- und Geist hin …
Nun gibt es aber auch noch die andere Seite der Medaille: Dieses viele Kämpfen trainiert ja gleichzeitig, das heißt, ich kann arbeiten bis zum Umfallen – manchmal bin ich sogar stolz darauf. Es führte dazu, dass meine Mutter hin und wieder sagte: „Wenn ich dir beim Arbeiten zusehe, wird mir ganz schwindelig“, und dazu, dass ich mich wie besessen in die unterschiedlichsten Tätigkeiten hineinsteigere und leicht vieles zur Sucht werden lasse.
Da ist es wieder – das Thema Maßlosigkeit, auf der Suche nach dem rechten Maß.
Neben dem, was ich den Sisyphosmythos genannt habe, gibt es noch einen zweiten Irrweg, den ich hier erwähnen möchte. So ein schönes, griffiges Wort dafür habe ich noch nicht gefunden; ich rede von den Grenzen, die so oft verschwimmen. Wobei das im Grunde mit dem Sisyphosmythos untrennbar verbunden ist und es nur um eine andere Facette geht.
Ich habe gelernt, die Flöhe husten zu hören, Stimmungen im Raum aufzunehmen und unbewusst darauf zu reagieren, indem ich versuche, vorauszuahnen, was andere von mir erwarten. Das zu erfüllen, war einerseits befriedigend – da kommt wieder der Stolz ins Spiel –hat mich jedoch andererseits in die unmöglichsten Situationen gebracht. Wie oft habe ich mich für eine Aufgabe zur Verfügung gestellt, die ich eigentlich gar nicht erfüllen wollte oder konnte und mich kurze Zeit später darüber geärgert, dass ich mal wieder zu schnell ja gesagt bzw. mich freiwillig angeboten hatte. Andererseits habe ich zeitweise Stimmungen, Anliegen o. ä., die in der Luft lagen, gar nicht an mich herangelassen und „übersehen“, wider besseres inneres Wissen. Ich wollte dann einfach nicht darauf hören, vermutlich, um mir irgendwelche Probleme vom Hals zu halten, die ich sonst hätte angehen müssen.
Meine Multitaskingfähigkeiten empfand ich lange als Stärke: So schafft man einfach viel. Dass damit die Möglichkeit, sich ganz auf eine Sache einzulassen, sich ihr hinzugeben, abgeschnitten ist, habe ich mir dabei nicht klar gemacht. Auf derselben Linie liegt mein unbewusster Versuch, immer dann, wenn mehrere Gespräche gleichzeitig in einem Raum geführt werden, möglichst viel davon mitzubekommen, ohne meinen eigenen Gesprächspartner zu verlassen. Auch das kann ich ziemlich gut; auf der Strecke bleibt dasselbe wie oben.
Von Gerald Hüther stammt der schöne Satz: „Die Unterdrückung und Abwehr von Betroffenheit ist der einzige Fehler, den wir bei der Bedienung unseres Gehirns machen können.“ So habe ich mich bewegt zwischen den beiden Polen Unterdrücken und Abwehren, ohne – da ist es wieder – dabei das richtige Maß zu finden. Bei mir kanalisierte sich das hinein, in das stets wiederkehrende Muster: Aufbruch, Selbstunterbrechung, Abbruch, neuer Aufbruch. Ich steckte in meinem „Energiekäfig“ fest.
Es gibt aber noch so ein Lebensthema, nämlich die vielen Gedanken und Sorgen, die ich mir um mir anvertraute Menschen mache, ähnlich wie ich es bei meiner Mutter erlebt habe. Das hat mich über viele Jahre geplagt, je nachdem wie viel äußeren Anlass es gerade gab. Es hat mir unzählige schlaflose Nächte beschert, und das Wissen darum, dass meine Sorgen an der Situation nichts ändern werden, sondern schlicht Hirngespinste sind, die Ängste aus der Vergangenheit in die Gegenwart bzw. Zukunft projizieren, war nicht wirklich hilfreich. Vor einigen Jahren wurde das Sorgen-Thema so virulent, dass ich mir therapeutische Hilfe gesucht habe, mit der klaren Zielformulierung: Ich will nicht, wie meine Mutter, an gebrochenem Herzen sterben.
Zahlreiche einzelne Schritte, die ich gegangen bin, haben – das sehe ich heute in der Gesamtschau – dazu beigetragen, mich aus der „Opferrolle“, dem Ausgeliefertsein an meine Muster, hinauszuführen; so durfte ich nach und nach die Souveränität über mein eigenes Leben (zurück)gewinnen. Ich konnte im vergangenen Jahr plötzlich sehen, dass ich in meinem Leben immer dann in die Irre gegangen bin, wenn ich mich von meiner unmittelbaren Wahrnehmung entfernt habe.
Der Hintergrund und Motor all der Fehlversuche ist eindeutig: Es ist der Wunsch nach Liebe und Verbundenheit und die Hoffnung, in dem ureigensten Sein wahrgenommen zu werden. Nicht nur Kinder, auch Erwachsene wollen gesehen werden, und zwar nicht im Lichte ihrer Leistung, sondern im Lichte ihres Seins.
MÄNNER
Allen Partnerschaften in meinem Leben – bis auf die nun schon seit 20 Jahren andauernde – liegt ein Rettungsbedürfnis zu Grunde. Es ist der Zwang, das eigene Heil in der Rettung und Bekehrung anderer zu finden, dabei verkennend, dass die einzige wirksame Einwirkung auf Menschen darin besteht, dass ich mit mir selbst im Einklang bin. So bin ich vorzugsweise an Männer geraten, die mir in irgendeiner Art und Weise Bedürftigkeit signalisiert haben. Und sofort ist das Muster angesprungen. Dieses Muster war so wirksam, dass es mich mit 17 Jahren in eine Vergewaltigungsgeschichte gebracht hat, in der der Mann nicht mich direkt angegriffen hat, sondern mit einer realen Pistole in der Hand drohte, sich zu erschießen, wenn ich ihm nicht zu Willen bin. Bei einem körperlichen Angriff hätte ich mich ganz sicher zur Wehr gesetzt, aber in diesem, meinem Muster gefangen, war ich völlig machtlos.
Heute ist mir klar, warum alle diese Rettungsversuche nicht gelingen konnten: Beide Partner haben die jeweiligen Vorstellungen davon, wie der andere ist und wie er eigentlich sein sollte, im realen Wortsinn vor sich gestellt und damit die Sicht auf das Wesentliche verstellt. Diese Wände aus Vorstellungen waren oft so fest gemauert, dass Durchbrechen unmöglich war. Das gilt auch und insbesondere für meine langjährige erste Ehe. Gleichzeitig verdanke ich ihr drei wunderbare Kinder, die, trotz des Marathonkampfes ihrer Eltern, alle auf einem guten, sehr eigenen Weg sind. Sie, die Kinder, waren einer der Gründe dafür, dass ich so lange an dieser Ehe festgehalten habe. Im Hinterkopf immer die beiden Familiensätze: „Was man einmal begonnen hat, das bringt man auch gut zu Ende, wenn man sich nur ausreichend bemüht“, und: „Man ist sein Leben lang verantwortlich für das, was man sich vertraut gemacht hat.“
Heute weiß ich längst, dass Verantwortung weniger mit unbedingtem Dranbleiben, Sich-zuständig-Fühlen und dem Unterstützen des anderen zu tun hat als vielmehr mit der „Antwort“, die ja bereits im Wort enthalten ist. Wenn ich nicht die passenden Antworten auf eine von sogenannter Verantwortung geprägten Situation habe, werde ich scheitern. Die passende Antwort aber kann der betroffene Mensch nur selber finden.
Der Blick auf die Psychodynamik meines Lebens könnte die Vermutung nahelegen, dass es sich immer schwer und anstrengend angefühlt hat; und es ist wahr: Ganz oft war es so. Die Worte immer und nie jedoch kommen in meinem Wortschatz kaum noch vor, denn natürlich gab es auch zahlreiche Phasen der relativen Ruhe. Schöne Erlebnisse jedweder Art, meist im Zusammensein mit anderen, vor allem mit einigen wenigen wirklichen Freunden. Beschäftigungen, die mich für eine Weile völlig ausgefüllt haben. Meine wunderbaren Kinder, immer bereit, mich an ihrem Leben teilhaben zu lassen. Spirituelle Momente, Projekte, die gelungen sind, usw. Ich hatte und habe viele gute Zeiten in meinem Leben, und ich bin eine unerschütterliche Optimistin, ohne Sorge um meine eigene Zukunft. Sorgen mache ich mir eher um andere; für mich selber weiß ich, dass ich mich mit (fast) allen äußeren Gegebenheiten arrangieren kann. Sicherheitsdenken ist mir fremd, und für diese Gewissheit bin ich dankbar.
Dankbar auch stelle ich fest, dass so vieles, was mich in meinem Leben geplagt hat und was ich nicht begriffen habe, jetzt aus dem Schatten ins Licht tritt. Das Schwere und das Schöne – immer ist alles gleichzeitig da, „Leben“ und „Tod“; zwischen diesen Polen spannt sich das Sein aus. Mal ist der eine, mal der andere Pol näher. Oder, wie meine Mutter es auszudrücken pflegte: „Lachen und Weinen – alles in einem Sack.“ Die tiefere Dimension ihrer zahllosen, stets präsenten Lebensweisheiten erschließt sich mir erst nach und nach.
Ich bin vollkommen einverstanden mit allem, was zu meinem Leben dazu gehört. Ich bewerte nichts mehr und schon gar nicht trage ich irgendjemandem irgendetwas nach. Ich wüsste heute nichts, was mich kränken oder beleidigen könnte, und das fühlt sich richtig gut an. Und nicht etwa, weil ich entschieden hätte, mich nicht mehr angreifbar zu machen oder trainiert hätte, mit Kränkungen besser umzugehen. Nicht, indem ich mich irgendwie konditioniert hätte. Ich habe zu jedem Zeitpunkt meines Lebens genau das getan, was mir möglich war – so wie jeder andere Mensch das auch tut. „Es ist was es ist – sagt die Liebe.“ (Erich Fried)
Möglicherweise hat Udo Jürgens ja recht: Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an …
In einigen Wochen bin ich 66. Vermutlich werde ich nicht im Park rocken oder mit 110 PS auf dem Motorrad durch die Gegend fegen … aber schau’n wir mal … mir gefallen Aufbruch und Leichtigkeit, die in diesem Lied schwingen.
… Und sofort höre ich im Hinterkopf meinen Vater sagen: „Wenn du wissen willst, wie es im wirklichen Leben bestimmt nicht zugeht, musst du nur Groschenromane lesen (@ Jugend: Groschenromane nennt man heute „Soaps“, und man liest sie nicht mehr, sondern streamt sie) und Schlager hören“, und ich antworte: „Ja, Vater, wenn du dich da mal nicht täuschst!“ Man kann nämlich im Leben fast alles als Inspiration und Dünger für das eigene Wachstum verwenden.
Lass dir an meiner Gnade genügen;
denn meine Kraft ist in den
Schwachen mächtig.
1. Korinther 12,9
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