Kitabı oku: «Reflexive Sinnlichkeit III: Lebenskunst und Lebenslust», sayfa 7

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4.5 Die Gegenwart historischer Epochenerfahrungen

Schließlich können wir noch in einem weiteren Verständnis von erlebter Gegenwart sprechen, von der Gegenwart der historischen Zeit nämlich, in der wir leben. Es ist nicht gleichgültig, ob ich in Kriegs- oder Friedenszeiten lebe, ob meine Gesellschaft schon »entwickelt« ist, d. h. sich im Zeitalter des Massenkonsums befindet, oder eben leider noch nicht. Und es macht auch einen Unterschied, ob ich z. B. meinen Beruf im 19. Jahrhundert (falls es ihn damals überhaupt schon gab) oder im 21. Jahrhundert ausübe. Und wir können auch davon ausgehen, dass sich zumindest in unseren Gesellschaften heute die meisten bewusst sind, politisch, gesellschaftlich und ökonomisch in einer bestimmten historischen Gegenwart zu leben. Diese Gegenwart kann so mächtig und alles durchdringend sein, dass Leopold von Ranke, einer der Begründer einer wissenschaftlichen Geschichtsschreibung, sagen konnte: »Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott« – womit er sagen wollte, dass sie nur aus sich selbst, aus ihrer jeweiligen historischen Gegenwart heraus verstanden werden kann, und nicht aus der philosophischen Spekulation historischer Entwicklungsmodelle. Um zu verstehen, »wie es eigentlich gewesen ist«, so Ranke, müsse man die Zeugnisse der Zeit mit wissenschaftlich-philologischer Akribie erforschen.5 Daher die Bedeutung der Quellen und der Archive für die historische Forschung.

Aber wo sind die Grenzen einer Epoche? Wann fängt eine Epoche mit ihrer jeweiligen Gegenwart an, wann hört sie auf? Herrmann Heimpel hat darauf kurzerhand geantwortet, die jeweilige historische Gegenwart beginne mit der jeweils letzten, durchschlagenden Katastrophe, die eine Gesellschaft erlebt hat (12). Das war 1951, sechs Jahre nach dem Ende der Nazi-Herrschaft und der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht ziemlich plausibel: In der Tat wurde damals der sogenannte »Zusammenbruch« als eine Zeitenwende erlebt. Und man kann auch gewiss sagen, dass die Zeit bis zur Französischen Revolution und den Napoleanischen Kriegen tief geprägt und überschattet war von der Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges, und dass die Epoche von da an bis zum Ersten Weltkrieg wesentlich von dem Thema Revolution oder Restauration bestimmt war. Ich will über die Berechtigung dieser Epocheneinteilungen nicht spekulieren; zu viele Einwände drängen sich sofort auf, jedoch ginge es wohl mit anderen Einteilungen ebenso.

Wenn mit dem Leben in einer historischen Gegenwart auch so etwas wie der jeweilige Zeitgeist gemeint ist, so ist sogleich ersichtlich, dass dessen zeitliche Grenzen nur sehr verschwommen sein können. Die Wirkung epochaler Ereignisse und die subtileren der Strömungen des Zeitgeistes durchdringen und verzahnen sich auf vielfältige Weise, und stets ist dabei auch die Frage notwendig, wer dabei eigentlich jeweils das Subjekt historischer Gegenwartserfahrungen sein könnte. So war z. B. die einst viel diskutierte Frage, ob die Wurzeln der »Deutschen Katastrophe« (Friedrich Meinecke) von 1933 bis 1945 möglicherweise bis zu Luther oder zur späten Nationbildung Deutschlands im 19. Jahrhundert zurückreichen, eine rein akademische Diskussion. Sie fand außerhalb geisteswissenschaftlich interessierter Kreise keinerlei Resonanz. Bei der Ursachenforschung – sofern sie überhaupt stattfand – waren im öffentlichen Bewusstsein wohl kaum mehr als die Bürden und Kränkungen des Versailler Vertrags in Erinnerung.

■ Was als die Grenzen der jeweiligen Gegenwart einer historischen Zeit erlebt wird, ist auch abhängig vom Wandel der Generationen. Natürlich ist für viele Menschen in Deutschland die sogenannte »Wende«, die Wiedervereinigung von 1989, weit präsenter als die Befreiung von 1945, aber beide historische Einschnitte sind je nach Generation weiterhin wirksam. Während ich dies fast 24 Jahre nach der Wende schreibe, sagt mir ein Freund, seine neue Liebe sei »eine typische Ossi-Frau«. Andererseits treffe ich bei der therapeutischen Arbeit in den Biografien von Menschen, die zwischen 1950 und 1960 geboren sind, noch immer auf Schatten des Krieges und der Tyrannei. Immer ist unser historisches Bewusstsein zu allererst ein biografisch und familiär geprägtes. Was für den einen die Befreiung und die Not von 1945 war, ist für den anderen die Wende von 1989, epochale Einschnitte, die unsere Bewusstseinsfelder prägen. Je umfassender und weiter ein historisches Bewusstsein ausgreift, desto blasser wird es aber auch. Jeder lebt eben auch insofern in seiner eigenen historischen Gegenwart, als er sie in ihrer Unmittelbarkeit erleidet und durchlebt. Und das ist ja auch gut so, denn die Leiden der Vergangenheit trösten nicht über die der Gegenwart hinweg. Man darf den Toten nie zu viel Macht lassen, sonst verhindern sie das Wachstum im Hier-und-Jetzt.

Wenn die Beobachtung stimmt, dass in den letzten Jahrzehnten das historische Bewusstsein in der Bevölkerung trotz aller Bemühungen der politischen Bildung und der Erinnerungskultur sehr abgenommen hat, dann müssen wir fragen, ob es nicht eher um eine Veränderung als um einen Schwund geht. Vielleicht entfernen wir uns wieder von einem früher durch das alte Gymnasium vermittelten wissenschaftlichen Geschichtsbild und kommen zu einem stärker durch Bilder und von der Projektion unserer eigenen Psychologie geprägten. Film und Fernsehen und auch Comics verbreiten epische Bilderbögen und dramatische Episoden aus vergangenen Zeiten, die vermutlich eingängiger und emotional berührender sind als alle Antworten der Historiker auf die Frage, »wie es eigentlich gewesen ist.« Das würde bedeuten, dass das historische Bewusstsein sich heute wieder mehr aus dem Zeitgeist zurückzieht und sich in relativ unverbundene mythische Bilder und Szenen auflöst – während uns gleichzeitig das Bewusstsein anderer Epochen immer fremder würde. Die jeweilige historische Gegenwart würde dann kaum mehr als eine wie auch immer eingegrenzte Epoche erlebt, sondern eher als ein Konglomerat von Themen und Bildern, die durch eine Aktualität bestimmt werden, die in historisch sehr kurzen Zeiträumen, in wenigen Jahren und Jahrzehnten wechselt. Das aber wäre ein Pyrrhus-Sieg des Historismus: die Erosion jedes Epochen-Bewusstseins! Was dem historischen Bewusstsein heute verloren geht, ist die Bindung an historisch gewachsene Institutionen und Ideen, wie es der Nationalstaat, die Kirche oder der Sozialismus waren und wie es Europa (noch?) nicht ist. Jenseits der Verheerungen, die die Ideologisierung dieser Ideen angerichtet hat, vermittelten sie einfache Orientierungen und das nicht zu unterschätzende Gefühl der Zugehörigkeit. Diesem Verlust steht ein neuer Pragmatismus gegenüber, der sich am eigenen individuellen Lebensglück und am lokal Machbaren orientiert.

■ Ein anderes kommt noch hinzu: Die Verankerung in der historischen Gegenwart, in der wir leben, wird inzwischen wohl weniger von der Vergangenheit als von der Zukunft überschattet und beschwert. Wenn von der Vergangenheit nur wenig bekannt ist, so scheint die Zukunft uns per definitionem völlig verschlossen. Dieser Schein trügt aber: Natürlich kann man letztlich nie mit Gewissheit irgendetwas über die Zukunft sagen, aber wissen wir über irgendetwas Vergangenes, und sei es Teil der eigenen Biografie, wirklich etwas mit letzter Gewissheit zu sagen? Hier-und-Jetzt heißt jedenfalls in unserer Gegenwart immer mehr: Hier-und-Jetzt sind wir von Katastrophen bedroht. Das war vielleicht immer schon so, aber heute wissen wir es genauer. Gewiss, wir haben es auch hier mit der Komplexität mehrdimensionaler Entwicklungen zu tun, deren Fortgang natürlich in der Zukunft liegt. Aber es ist die Erforschung der Gegenwart, die uns zunehmend Erkenntnisse über zukünftige Entwicklungen beschert, auch wenn dieses Wissen immer nur Wahrscheinlichkeitswissen sein kann.

Wir können bestimmte Trends in der Gegenwart sehen, sie mit der Vergangenheit vergleichen, und dann erkennen, ob und mit welcher Wahrscheinlichkeit sie sich in der Zukunft fortsetzen werden. Manche Katastrophen treten mit der Sicherheit der Gültigkeit astronomischer Gesetze ein; dennoch machen sie uns gegenwärtig kaum Sorgen. Dass unsere Galaxis mit der Andromeda-Galaxie zusammen stößt noch bevor unsere Sonne verglüht sein wird, berührt uns nur insofern, als dieses Wissen als ein weiteres Indiz der kosmologischen Bedeutungslosigkeit des Menschen aufgefasst werden könnte.

Dass aber die Erdbevölkerung, die derzeit gerade die 7-Milliarden-Grenze überschreitet, bis 2050 auf etwa 9 Milliarden anwachsen wird, und daher fast ein Drittel mehr Menschen zu ernähren sein werden – das ist eine Zahl, deren Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, so hoch, dass man nur mit so geringen Abweichungen wird rechnen müssen, dass sie für das politische Handeln kaum von Belang sind. Und das gilt eben für viele quantitative Daten der Zukunft, die bereits erhebliche qualitative Auswirkungen auf unsere Gegenwart haben. In der Tat kann man sagen, dass es noch nie eine historischer Epoche gab, die in einem so hohen Maße wie die unsrige von Zukunftserwartungen bestimmt war, die unsere Handlungen schon jetzt beeinflussen, mit vielleicht einer Ausnahme, die uns heute eher kurios erscheint: Im ersten und zweiten Jahrhundert gab es im römischen Weltreich eine beachtliche Zahl von Menschen, die in der Erwartung gelebt haben, dass die Ankunft des Himmlischen Reiches unmittelbar bevorsteht – die frühen Christen.

Heute sind die meisten Zukunftserwartungen mehr oder weniger gut wissenschaftlich untermauert; an Weltuntergänge nach dem Maya-Kalender und Gottesreich-Erwartungen wie nach dem Neuen Testament glauben nur wenige noch von Zeit zu Zeit. Die überwältigende Mehrheit der wissenschaftlich untermauerten Zukunftsprognosen heute ist allerdings düster. Selbst die hoffnungsvollsten Fortschritte der Technik stehen nun immer unter der Frage: Was werden ihre unvorhersehbaren Folgen sein? Mit welchen negativen Auswirkungen muss gerechnet werden? Die Stimmung wird nicht besser dadurch, dass die Beschwörungen der Sicherheit von technischen Großanlagen wie Atomkraftwerken, chemischen Fabriken oder Riesenschiffen immer wieder Lügen gestraft wurden. Nicht dass es keine Fortschritte gäbe – wir leben länger, bequemer und in Europa auch freier und selbstbestimmter denn je zuvor. Dennoch kann der Zeitgeist unserer historischen Gegenwart, ja unserer ganzen Kultur, am besten als katastrophisch charakterisiert werden, wie es Peter Sloterdijk wiederholt getan hat (mehr dazu in Teil II, Abschnitt 5 dieses Buches).

Es sind diese übergroßen Schatten einer teils schon sicheren, teils mehr oder weniger wahrscheinlichen Zukunft, die die Traumata der Vergangenheit bei all denen in den Hintergrund schieben, die nicht mehr Zeitzeugen der Katastrophen des 20. Jahrhunderts waren.

Hier-und-Jetzt in unserer historischen Gegenwart zu leben heißt somit, sich diesen Schatten zu stellen. Nach wie vor ist die Zukunft ungewiss: Man kann und muss sich auf die nahezu unaufhaltsamen Entwicklungen einstellen, man kann und muss sich aber den weniger wahrscheinlichen auch entgegenstellen. Vorsorge ist das eine, Abwehr und auch Umkehr sind das andere, wozu die Zukunft unsere Gegenwart zwingt.

Man kann und sollte das Leben jetzt leben, das heißt: den Gegenwartsmomenten ihr Recht lassen, nichts überspringen, aber auch: nichts aufschieben, was jetzt getan werden muss.

■ Für all das brauchen wir ein neues Verhältnis zur Zeit. Als erstes sollten wir uns auf eine säkulare, radikal auf das Diesseits setzende Weise mit der Vergänglichkeit versöhnen: Alles ist immer im Fluss, das ganze Dasein, die ganze Existenz ist immer ein Wachsen und Vergehen. Jedes genaue Hinsehen auf die Gegenwartsmomente, auch der Blick der Gehirnforschung, offenbart den prozessualen Charakter allen Lebens und jedes Bewusstseins.

Also verlieben wir uns doch nicht in den Fluss, sondern in das Fließen, nicht in den Augenblick, sondern in die Story, nicht in das Ereignis, sondern in das Geschehen – kurz: Lassen wir uns doch nicht ständig von der Todesfurcht unseres Leibes und unseres »Egos« die Freude am Leben vergällen!

Das aber geht leichter, wenn wir den Fluss verlangsamen, die Zeit entschleunigen. Denn wir lassen in all unseren Gegenwarten, auch der historischen, eine von Gier und Todesfurcht getriebene und vom digitalen Kapitalismus motorisierte Beschleunigung zu, die uns den Atem nimmt, die Seele raubt. Wir leben in einer Kultur der Hast (vgl. P. Virilio, 1989; H. Rosa, 2005; H. Byung-Chul, 2009).

Gerd Achenbach (diesen Hinweis verdanke ich Herrmann Rosenberger) hat die These vertreten, dass es in der Moderne eine »Zeitumkehr« gegeben habe (G. Achenbach, 2000), die darin bestehe, dass der Mensch nun glaubt, »mit der Zeit gehen« zu müssen. Dieser Glaubenssatz spreche »das einzige und letzte unerlässliche Gebot aus, dessen Gültigkeit die Menschen ängstlich anerkennen. Es lautet: Alles kommt darauf an, ›mit der Zeit zu gehen‹, ›auf der Höhe der Zeit zu sein‹, der ›Forderung der Stunde zu entsprechen‹, auf keinen Fall zurückzubleiben – denn, das ergänzt diesen Imperativ der Moderne, ein ›Zurück‹ könne es nicht geben. – Kaum ein Wort ist in diesem Zusammenhang so häufig zitiert worden, wie das Diktum Gorbatschows ›Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben‹. Und es ist wirklich das Zitat, das die letzte, unbezweifelbare Gewissheit der Moderne ausspricht.« (G. Achenbach, 2000, 66).

■ Ich bin nicht sicher, ob es sich um einen Sündenfall der Moderne handelt, wann immer man deren Beginn ansetzen mag. Denn schon über sehr lange historische Zeiträume lässt sich beobachten, wie die Zeitabstände zwischen epochalen Entwicklungseinschnitten immer kürzer werden. Dieser Verlauf entspricht einer Exponentialkurve, die theoretisch in einer Senkrechten enden würde, d. h. in Null-Zeit, gäbe es einen unendlich großen Entwicklungsschritt. Dies ist denkbar, aber nicht vorstellbar. In der Realität kommen stattdessen zwei Fälle vor, die beide auch Möglichkeiten der menschlichen Entwicklung darstellen:

– Entweder bricht die Entwicklung ziemlich abrupt ab und es kommt zu einem Rückfall in einen Zustand vor Beginn des Wachstum, was mit viel Chaos verbunden wäre,

– oder die Kurve verlangsamt sich wieder und gelangt schließlich an einen Sättigungspunkt, d. h. schwingt auf hoher Wachstumsebene in eine horizontale Gerade ein, wie es bei der Wachstumskurve der Weltbevölkerung der Fall zu sein scheint.

Wenn sich eine Wachstumskurve an die Vertikale annähert, ist offensichtlich eine Krise erreicht – und es könnte sein, dass genau das jetzt die Situation bei bestimmten Wachstumsprozessen in der Ökonomie, in der Forschung und in der Technik ist. Und eben auch im Hinblick auf die Beschleunigung in unserer Erfahrung von Zeit, dieses Gefühl, dass die Zeit immer schneller geht und es immer anstrengender wird, mit ihr »Schritt zu halten«.

Achenbach glaubt, dass wir unsere Zeit dadurch »vernichten«, dass wir ständig in die Zukunft schauen, statt uns auf das zu besinnen, was uns bis hierher gebracht hat. Zweifellos war die Öffnung zur Zukunft, die das europäische Denken im 18. Jahrhundert vollzogen hat, der Beginn eines neuen Bewusstseins von Geschichte als etwas, das nicht nur schicksalhaft erlitten werden muss, sondern auch ergriffen und gestaltet werden kann. Erst diese neue Sicht ermöglichte die raschen Entwicklungsprozesse, die die westlichen Gesellschaften in den letzten 250 Jahren erlebt haben. Vorangegangen war allerdings eine Wende, die bereits in der Antike ihren Anfang nahm und die im Endzeitbewusstsein des Christentums dann gipfelte: der Glaube, dass das Reich Gottes als ein diesseitiges Ereignis unmittelbar bevorsteht, hat das historische Zeitempfinden erstmals so dynamisiert, dass uns heute zyklische Auffassungen von ewiger Wiederkehr, wie sie die chinesische Kultur etwa entwickelt hat, so fremd erscheinen, dass wir uns z. B. sehr schwer tun, uns einen Kapitalismus ohne permanentes Wachstum auch nur vorzustellen. Es müsste u. a. ein Kapitalismus ohne Zins sein, denn im Zins hat die Dynamisierung der Zeit ihren Gebrauchswert gefunden.

Nicht der Blick auf die Zukunft ist dabei das eigentliche Problem; heute sehen wir in ihr eher den Schatten katastrophischer Entwicklungen, auf die wir uns einstellen müssen, als kommende Paradiese. Aber Achenbach hat Recht, wenn er eine Gewichtsverschiebung beklagt, die die Akzente kultureller Wertschätzung immer ausschließlicher auf das Kommende, das jeweils Aktuelle, das Neue und das Neueste versetzt hat. Das ist nicht nur im Konsum so, sondern auch in der Produktion: Ständig hört und liest man heute die Abwertung »nicht gerade neu, aber…« Oder: »… ist ja von gestern«. Am stärksten ist dies, wie mir scheint, in der Kultur: Ob es um Film- oder Theaterproduktionen, Kunstausstellungen oder Popmusik-Alben geht, stets ist etwas Neues besser als etwas Traditionelles. Selbst das Attribut »bewährt« hat etwas Muffig-Spießiges. Symptomatisch ist die paradoxe Wortschöpfung »Retro-Look«, die quasi den Versuch macht, die Vergangenheit in die Zukunft zu holen, das Alte durch Aktualität aufzupeppen.

Und doch leiden immer mehr Menschen unter der permanenten Beschleunigung, die sie krank macht. Vielleicht sollte man Gorbatschows Wort leicht abwandeln und sagen: »Wer zu spät bremst, den bestraft das Leben!« Und man muss sich klar machen, dass »Aktualität« nicht etwas ist, das uns in die Gegenwart bringt, sondern uns aus der Gegenwart vertreibt. Tatsächlich ist die Betonung des Aktuellen ein Feind des »Hier-und-Jetzt«, indem sie darauf angelegt ist, sich ständig selbst zu überholen. Sie beschleunigt den Zeitfluss noch dadurch, dass sie alles, was sie befällt, sofort wieder entwertet, indem sie es alsbald im Orkus des nicht mehr Aktuellen verschwinden lässt. Denn erlebte Gegenwart, so hatten wir gesehen, ist das Gegenteil von raschem Zeitfluss, eine lustvolle Dauer, die dem Fluss der Vergänglichkeit abgetrotzt ist.

■ Es gibt allerdings eine in sich bemerkenswerte kulturelle Gegenströmung zu der »Zeitverkennung«, von der Achenbach spricht. Ich meine die besondere Wertschätzung, die das Alte, das Authentische, das Echte in unserer Kultur genießt. Alles »Echte« ist besonders teuer, vieles Authentische ist auch gar nicht verkäuflich, sondern wird in Museen aufbewahrt oder durch Gesetze geschützt und mit viel Aufwand erhalten. Es scheint so, als gäbe es, zumindest in den gebildeten Schichten, den Versuch, sich gegen den Verschleiß der Dinge, die mit der Zeitbeschleunigung verbunden ist, zu wehren durch diesen Blick auf das Echte und Authentische. Dass dieser Versuch heute immer häufiger an einer Kultur des Simulacrums scheitert, in der das Echte von seinem Imitat nicht mehr unterscheidbar ist (J. Baudrillard, 1978), ist ein Problem, das sich durch die digitale Revolution noch erheblich verschärft hat, aber dennoch wenig an der Wertschätzung des Echten geändert hat. Wie diese Entwicklung ausgeht, lässt sich schwer voraussehen; wahrscheinlich wird in bestimmten Bereichen die Fiktion des Echten, obwohl als solche immer deutlicher erkennbar, dennoch mit aller Macht aufrecht erhalten werden, weil sehr viel auf dem Spiel steht. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Die Prothetik und das Doping stellen die ganze Institution des Sports infrage; die modernen Möglichkeiten der Kunstfälschung bedrohen die Existenz des Kunstmarkts. In beiden Fällen ist es wie in der Paläontologie so, dass nur noch wissenschaftliche Untersuchungen die Echtheit beweisen können; der bloße Augenschein kann schon lange nichts mehr bezeugen. Täuschung gab es schon immer, das trompe l’oeil war schon länger ein beliebtes Spiel in der Kunst – aber zuvor war die Täuschung zu beweisen, und nicht wie heute die Echtheit.

»Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« war ja durch die Entwicklung der Fotografie schon mindestens seit Walter Benjamins berühmtem Essay dieses Titels von 1935 ein Thema, das sich heute noch viel schärfer stellt – oder sollte man sagen beschleunigt hat? Das Erstaunliche aber ist, wie wenig diese Entwicklung an der Wertschätzung des Echten geändert hat! Der Grund dafür muss meines Erachtens tiefer gesucht werden als allein bei den Interessen des Machterhalts und des Profits. Mir scheint, dass es darüber hinaus ein Gespür dafür gibt, dass wir ein Gegengewicht zur beschleunigten Zeit brauchen, denn je stärker die Entwicklungsgeschwindigkeiten zunehmen, desto deutlicher wird auch die Vergänglichkeit unserer Kultur, also letztlich unserer selbst. Es ist etwas verloren gegangen; der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr hatte es den »Verlust der Mitte« genannt (H. Sedlmayr, 1948).

Aber es ist wenig sinnvoll, mystifizierend drum herum zu reden: Was einzig der Zeit letztendlich entgegensteht, ist die Ewigkeit. Im Christentum war der Inbegriff von Ewigkeit natürlich Gott. Im Buddhismus ist es die »Leere«. Auch aus der Philosophie ist die Metaphysik verschwunden. Immer weniger wird dieses Gegengewicht zur Vergänglichkeit auch im kirchlich-religiösen Bereich gefunden. Es fehlt etwas in unserer Kultur, nämlich die Verankerung in einem der Zeit nicht zugänglichen Bereich des Ewigen. Es ist nicht eine »Zeitumkehr«, in der wir dann hinter uns, statt vor uns schauen, die jetzt notwendig ist, denn auch alles Vergangene versinkt im Strom der Zeit, sondern eine Verankerung im unbekannten Quell des Vergänglichen – ohne uns in Glaubenssätzen zu verlieren. Denn »das Wesen, das begriffen werden kann / ist nicht das Wesen des Unbegreiflichen«, wie das Tao Te King anhebt (Laotse, 2002, Vers I). Die Sehnsucht nach einer solchen Verankerung als dem notwendigen Kontrapunkt zum Zeitverschleiß ist m. E. der tiefere Grund hinter der Wertschätzung des Echten und Authentischen, das freilich nie mehr als ein Symbol des Ewigen sein kann. Die Methode dieses Sich-Verankerns ist Meditation. Ein erster, noch an der Oberfläche bleibender, dafür aber unmittelbar spürbarer Gewinn von Meditation ist eine Veränderung des Zeiterlebens – sie vergeht langsamer.

Im Hier-und-Jetzt zu leben heißt die Dauer im Fließen zu entdecken. Wie jener Meditierende, der auf einer Brücke stehend unverweilt in den Fluss schaut, bis der Fluss nicht mehr unter der Brücke durchfließt, sondern die Brücke über den Fluss.

■ Zum Schluss dieses Abschnitts noch einige Überlegungen zum »Hier« im »Hier-und-Jetzt«. Oberflächlich gesehen scheint das kein Problem zu sein, denn Hier-und-Jetzt scheinen fest zusammen zu gehören. Aber wozu dann dieses Hier und was heißt überhaupt hier?

Wenn ich sage »Ich bin hier«, muss sich das »bin« auf meine körperliche Anwesenheit beziehen, wobei die Verortung meines Körpers unbekannt bleibt. Die Aufforderung, im »Hier-und-Jetzt« zu sein oder zu bleiben, bedeutet also zunächst, ich möge präsent sein mit und in meinem Körper. Präsenz, von der wir auch als Ausstrahlung sprechen, ist offenbar eine gelungene Mischung aus Achtsamkeit und Anwesenheit. Ich würde sagen, im Kontext von »Hier-und-Jetzt« bedeutet das »Hier«, mit Gewahrsein im eigenen Körper und seiner jeweiligen Umwelt verankert zu sein. Es geht erneut um Achtsamkeit als der Methode, einen Zustand von Gewahrsein im Sinne einer erhöhten, geschärften, ganzheitlichen Bewusstheit zu erreichen. Die Aufforderung, »hier« zu sein oder zu bleiben, bedeutet somit, mit erhöhter Aufmerksamkeit auf den Ort zu achten, an dem (in welchem Umfeld) sich der eigene Körper gerade befindet.

Betrachtet man nun die verschiedenen möglichen Orte oder Umfelder, in denen der Körper anwesend sein kann, stellt man fest, dass sie nicht alle gleich unproblematisch sind. Die kleinsten räumlichen Einheiten, die man »Orte« nennen könnte, sind Räume, in denen der Körper tatsächlich jetzt anwesend ist und deren Grenzen von der Reichweite seiner Sinne bestimmt sind. Das kann ein Innenraum zwischen den Wänden, dem Fußboden und der Zimmerdecke sein oder ein Außenraum begrenzt von Hauswänden in bebauten Orten oder von Landschaft außerhalb solcher mit der Erde unter uns und dem Himmel darüber.

Das ist zunächst alles banal. Aber diese Orte sind auf vielfache Weise emotional besetzt: Wir können in unserem Heim sein, aber auch bei Behörden, in Schulen, Krankenhäusern, Vergnügungsorten und Gefängnissen, und wir können uns zu Hause fühlen oder fremd; wir erwägen die Vorteile des »Heimspiels«, wir haben es mit leichtem oder schwierigerem Gelände zu tun; unsere Körper sind bequem oder unbequem untergebracht und so fort. Vor allem aber sind Orte von Menschen (manchmal auch von Tieren) besetzt, die uns freundlich oder feindlich oder gleichgültig gesonnen sind: wir können »Einheimische« sein oder »Zugereiste«, Inländer oder Ausländer, uns in der Sprache des Ortes verständigen, an dem sich unser Körper befindet, oder nur in unserer Muttersprache. Insgesamt also gibt es uns vertraute und uns weniger vertraute Orte, die von Menschen bevölkert sind und die höchst unterschiedliche Anforderungen an unsere soziale Kompetenz stellen.

Die Beweglichkeit unseres Körpers schenkt uns eine relativ große Freiheit in der Wahl des Ortes, was von großer evolutionärer Bedeutung ist: Sie ermöglichte es dem Menschen, sich diejenigen Orte auszusuchen, an denen er am leichtesten seine Nahrungsbedürfnisse durch Jagen und Sammeln und durch Ackerbau und Viehzucht befriedigen konnte. Andererseits war diese Bewegungsfreiheit durch eben diese Vorgaben der Natur auch eingeschränkt. Selbst lange nach der Industrialisierung mussten viele Menschen noch immer in die Nähe der Rohstoffquellen ziehen, um Arbeit zu finden. Zudem bestimmt deren ungleiche Verteilung über die Erde heute weitgehend die Machtverhältnisse zwischen den Völkern und Nationen. Erst allmählich brachte die Entwicklung der Verkehrstechnik etwas mehr Unabhängigkeit von den Lagerstätten der Rohstoffe. Aber da selbst die Quellen der erneuerbaren Energien, Sonne, Wasser und Wind, durchaus ungleich verteilt sind, wird diese Ortsabhängigkeit noch für lange Zeit Geltung haben.

■ Dennoch gibt es heute auch einen schon tief greifenden, ja anthropologisch zu nennenden Bedeutungswandel des Ortes. Dazu hat die Entwicklung der Kommunikationstechnik mehr beigetragen als die vergleichsweise langsamen Fortschritte der Verkehrstechnik – man denke an die Probleme beim Transport von Elektrizität, die doch nicht einmal Gewicht hat. Schon jetzt gibt es viele Arbeitsplätze, die durch das Internet ortsunabhängig geworden sind. Das ist etwas völlig Neues in der Geschichte der Menschheit! Gewiss, schon immer wurden Informationen auch über sehr weite Entfernungen ausgetauscht. Aber sie mussten unter viel Zeitverlust über diese Entfernungen geschickt werden. Ausdrücke wie schnell, unverzüglich oder sofort haben ihre Bedeutung bereits vollständig verändert. Tatsächlich kommt das Jetzt im Hier-und-Jetzt erst heute voll zum Zuge, so nämlich, dass es des Hier oft schon gar nicht mehr bedarf. Noch ist es zu früh, von einem Verschwinden des Raumes zu sprechen, aber es ist schon sehr bedenkenswert, was es eigentlich bedeutet, dass Geschäftsabschlüsse, Finanztransaktionen und auch politische Entscheidungen praktisch in Nullzeit über den ganzen Erdball getätigt und verbreitet werden können. Der Raum dazwischen verliert in manchen Bereichen schon jetzt seine alte Bedeutung. Von daher wird sich auch ganz neu bestimmen müssen, welche Bedeutung die körperliche Anwesenheit in Zukunft überhaupt haben wird.

Denn schon werden auch Nachteile dieses Übergewichts der Zeit gegenüber dem Raum sichtbar. Es heißt, bei zu schnellem Transport des Körpers könne die Seele nicht rechtzeitig nachkommen. Es könnte sein, dass in Zukunft das schnelle Reisen immer mehr durch die Möglichkeiten der Virtualität ersetzt wird: virtuelle Begegnungen in Jetztzeit bei Video-Konferenzen, immer realitätsnähere Bilderlebnisse ferner Länder und unzugänglicher Wildnisse durch das Fernsehen und künstliche Ferienparks – und umgekehrt dann eine neue Liebe zur Heimat, zur Region, zu Haus und Garten, zu körperbetonten Formen des Reisens in näher gelegene Gegenden. Die Parallelentwicklung zur Beschleunigung der Zeit ist die Verflüssigung des Raumes. Das gleiche gilt dann auch für die Gegenbewegungen: die Verlangsamung der Zeit und die Wiederverkörperung des Raumes. Es wird darauf ankommen, das richtige Gleichgewicht zu finden zwischen dem Nutzen der neuen Möglichkeiten zur Überwindung der Entfernung, dieses uralten Feindes der menschlichen Entwicklung, und der Befriedigung, die nur die leibhaftigen Begegnungen mit den Mitmenschen und ihren Werken, zu denen heute auch die schon fast überall umgestaltete Natur gehört, zu schenken vermag.

In der Moderne vollzieht sich wie in der Arbeit auch in den arbeitsfreien Räumen und Zeiten ein tief greifender Wandel im Verhältnis von Sesshaftigkeit und Nomadentum. Niemand ist mehr ausschließlich dem einen oder dem anderen verhaftet. Bei aller verbreiteten Lust am Reisen wird aber das durch die Arbeitsverhältnisse heute vielfach erzwungene Nomadentum ständiger Ortswechsel weitgehend als Last empfunden, für die das Dilemma der berufstätigen Mütter das beste Beispiel ist. Solange die Aufzucht der Kinder als individuelles Lebensglück erlebt oder auch nur erstrebt wird, bedarf es dazu der Familie, und das heißt der Sesshaftigkeit, und deshalb wird sich so lange an dieser Widersprüchlichkeit nichts ändern. Ich kann mir auch andere Möglichkeiten vorstellen, gegen die allerdings tief sitzende Wertvorstellungen und Sinn-Projektionen stehen. Die israelischen Kibbuzim z. B. haben gezeigt, dass es Alternativen zur Kleinfamilie gibt, bei denen weder die Kinder noch die Eltern notwendigerweise unglücklich sind. Auch muss es zu denken geben, dass die soziologische Glücksforschung ein ebenso eindeutiges wie unerfreuliches Ergebnis gezeitigt hat, nämlich, dass in Industriegesellschaften Kinder eine Hauptursache für unglückliche Paarbeziehungen sind (E. Kolbert, 2010).

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